Die unterirdische Welt des Athanasius Kircher
Bewerking van de recensie die Claudio Magris in 1995 in de ‘Corriere della Sera publiceerde over de Italiaanse vertaling van De onderaardse werelde van Athanasius Kircher (Il mondo sotterraneo di Athanasius Kircher), in het Duits gepubliceerd in de bundel Vier seltsame Leben, door uitgeverij AER, Bolzano en vertaald door Ragni Maria Gschwend.
Im Jahr 1973 kommt einem holländischen Schriftsteller und Regisseur angesichts des Obelisks vor der Kirche Santa Maria sopra Minerva in Rom eine Idee, und sicher kann er sich in diesem Moment nicht vorstellen, in welches Knäuel von Täuschung und Heuchelei ihn sein Vorhaben führen wird. Dieser Obelisk weist nämlich unter den echten auch einige falsche Hieroglyphen auf, erfunden von einem genialen und bizarren enzyklopädischen Geist, der freilich weit mehr'der Geschichte des Wissens als der des Betrugs und der Mystifikation angehört: dem deutschen Jesuiten Athanasius Kircher.
Geboren 1602 und nach einem vor allem in Rom verbrachten Leben 1680 daselbst verstorben, war Kircher besessen vom barocken Dämon der unersättlichen Neugier für die zahllosen und flüchtigen Erscheinungen der Welt, von dem Verlangen, sie zu katalogisieren und damit der Flüchtigkeit und ihrem dunklen Geheimnis zu entreißen, die Wirklichkeit in ein absonderliches, aber systematisches und vor allem vollständiges Museum von Wundem zu verwandeln, das Ordnung in die Vielfältigkeit der Schöpfung bringen sollte. Wenn die Welt - für den barocken Jesuiten ein Theater zur höheren Ehre Gottes darstellte, mußte man hinter den unaufhörlichen Inszenierungen von Komödien und Tragödien auf dieser Bühne, hinter den fortwährenden Schauspielen, wie sie Natur, Leben und Geschichte in Szene setzten, den Entwurf des Ewigen erkennen, die Handlungen des einen und unwandelbaren göttlichen Autors, der freilich nur allzu geneigt war, sich hinter den Figuren und Geschehnissen seines Repertoires zu verbergen.
Die barocke Neugier ist allesverschlingend, sie häuft Wissen an, wie man kostbare Gegenstände und Güter des sinnlichen Genusses anhäuft, verfolgt das Ganze in allen Dingen und allen Erscheinungen, omnia in omnibus, nach Kirchers eigenem Wahlspruch. Tatsächlich beschäftigt sich der deutsche Jesuit mit Ethik und Mathematik, lehrt Physik und orientalische Sprachen am Collegium Romanum, studiert den Magnetismus und die Astronomie, die Geschichte und die Kryptographie; in Mundus subterraneus beschreibt er all das, was sich unter der Erdoberfläche verborgen findet: von den Felsen bis zu den Wasseradern und Höhlen; in Ars magna lucis et umbrae untersucht er das Licht, in der Phonurgia nova den Ton und in der Musurgia universalis die Musik. Fieberhaft versucht er, die Welt in seinen - etwa vierzig - Büchern einzufangen und zugleich dieses Kompendium der ohnehin so weitschweifigen Wirklichkeit hinzuzufügen.
Er befaßt sich mit Sinologie und Kartographie, mit den Meeresströmungen, mit Medizin und'Archäologie; er erfindet Rechenmaschinen und solche, die Musik komponieren, und er plant eine komplizierte Vorrichtung, die es der Obrigkeit, dem barocken Fürsten, Vertreter der göttlichen Ordnung, ermöglichen soll, von weitem zu hören, was die Leute auf der Straße reden, und so Rebellionen und der Verbreitung von Häresien vorzubeugen.
Kircher ist eine exzentrische Figur, aber auch ein echter Gelehrter von universaler Bildung, den die Wissenschaft heute sehr wohl kennt. Nicht von ungefähr steht er mit Leibniz in Briefwechsel; er will der ars combinatoria, der Kombinationskunst, auf die Spur kommen, mit der sich die zersplitterte Vielfältigkeit der Welt zusammenhalten läßt, den Schlüssel finden, um in den Mechanismus des Universums einzudringen. Die Realität ist ein von Gott geschriebenes Buch, und es geht, wie bei den Hieroglyphen, darum, es zu entziffern, seine Sprache zu entdecken.
Jeder Interpret, selbst der redlichste Literaturkritiker, schreibt, zumindest im Geiste, den Text, den er untersucht, neu und tut ihm gerade durch den Akt der Interpretation Gewalt an, indem er ihm Bedeutungen und Absichten unterlegt, die dem Autor nicht selten gänzlich fremd sind; die Dichter staunen mitunter über die einfallsreichen Interpretationen ihrer Dichtungen, in denen sie vieles finden, das sie nie hineingelegt zu haben glaubten. In gleicher Weise dürfte auch der Autor des Universums verblüfft sein, wenn die Exegeten seines Werkes Bedeutungen, Absichten und Werte darin entdecken, die ihm nie eingefallen wären.
Die Unbekümmertheit, mit der Kircher vorgibt, die Hieroglyphen entschlüsselt zu haben, und mit der er einige dazu erfindet, die er für echt ausgibt, ist vielleicht nicht sehr viel tadelnswerter als andere, mit größerer wissenschaftlicher Strenge und mehr gutem Glauben unternommene Mystifikationen, denn jeder, der sich daran macht, Ordnung in der Welt zu schaffen, die Botschaften und Bedeutungen in den Dingen und Ereignissen zu lesen, vertauscht - und sei es in bester Absicht unwillkürlich die Karten, setzt apokryphe Texte in Umlauf. Kircher, schon zu Lebzeiten als ein zur Täuschung neigender Gelehrter verdächtigt, verteidigt sich gegen solche Anklagen, indem er seine Autobibgraphie mit wundersamen Begebenheiten anreichert, die, wie er behauptet, selbst die hartnäckigsten Verleumder überzeugen müßten.
Im Jahre 1973 weckten jene falschen Hieroglyphen also das Interesse eines holländischen Schriftstellers an ihrem Urheber. Anton Haakman, Erzähler und Lyriker, Literaturkritiker, Filmemacher und überaus sensibler Übersetzer - vor allem aus dem Italienischen -, ist ein scheuer und diskreter Mensch, einer von jenen Schüchternen, die immer zögernd und ein wenig ironisch unter der Eingangstür zur Realität verharren und in ihrem nach innen gewandten Schweigen das unbestimmbare Rauschen des Lebens zu vernehmen scheinen. Ihn interessiert dieser Jesuit, der sich auf »magische Laternen« verstand, dieser Mann, der einer der letzten Gelehrten war, die über eine universale Bildung verfügten, und gleichzeitig ein Meister des Illusionismus, fähig, Fürsten, Päpste und Kaiser von der Realität seiner farbigen Schatten zu überzeugen und ihnen große Summen zur Finanzierung gewagter und grandioser Projekte zu entlocken. Haakman beschließt, über diesen Pater Kircher, der seinerseits so gut mit der Laterna magica umzugehen wußte, einen Film zu drehen, und beginnt mit den Vorarbeiten.
In der damaligen Deutschen Demokratischen Republik, in der Geisa, der Geburtsort des Jesuiten, liegt, trifft er auf einen sonderbaren Gastwirt, der ein »Kircher-Museum« gegründet hat gleichsam in Konkurrenz zum römischen - ein Museum, das nicht zugänglich ist da es in einem politisch-militärischen Sperrgebiet hegt. Haakman läßt sich von seinen Nachforschungen nicht abbringen, doch alles, was er erreicht, ist eine polizeiliche Verwarnung und die Flucht des Gastwirts, der im Sperrgebiet verschwindet und nicht mehr gesehen wird.
Von diesem Augenblick an entwickelt sich die Geschichte des Films und das, was sich bei seiner Fertigstellung ereignet, zu einem Labyrinth fortwährender Mystifikationen, zu einem immer verwickelteren Knäuel aus Wahrheit und Täuschung, das um so mehr irritiert, je mehr man versucht, es zu entwirren. Haakman stößt auf eine »Wissenschaftliche Forschungsgesellschaft Athanasius Kircher« mit Sitz in Wiesbaden und Rom, die riesige Summen für eine Edition des Gesamtwerks gesammelt hat, wobei sie Persönlichkeifen~ wie Otto Henkell, Kardinal Villot, Haile Selassie und den Bürgermeister von Rom zu großzügigen Zuwendungen überreden konnte; geplant ist eine fünfzigbändige Werkausgabe zu einem Preis von 3.850 Mark je Band, daneben soll es eine Luxusausgabe geben, zum Preis von 50.000 Mark je Band.
Haakman gelingt es nur, den Präsidenten der »Gesellschaft«, Arno Beck, und ihren Vizepräsidenten, Herbert Franz, kennenzulernen, die sich als »Komture des Ritterordens vom Heiligen Grab zu jerusalem« vorstellen, obwohl das Sekretariat dieses Ordens später erklären wird, daß sie ihm nie angehört haben; auch der im Briefkopf angegebene Sitz sollte sich als falsch erweisen. Um Haakman von der Existenz der »Gesellschaft« zu überzeugen, verspricht der Komtur Beck, eine große Versammlung einzuberufen, die sich im Endeffekt jedoch als Abend im Haus eines römischen Generals, Bewunderers der spanischen Falange, entpuppt, an dem ansonsten nur noch die Gattin des letzteren teilnimmt.
Immerhin stellen sich die beiden Komture Haakman bereitwillig zu Interviews zur Verfügung und spielen ihre Rolle mit solcher Aufgeblasenheit, daß sie sich von ihren ersten Äußerungen an als Betrüger verdächtig machen. So verdächtig, daß, als der Film fertig ist und dem holländischen Publikum vorgeführt wird, einige Kritiker dem Regisseur Täuschung unterstellen: Er habe zwei Schauspieler engagiert und sie als wirkliche Personen ausgegeben. Der Dokumentarfilm wird für eine Fiktion gehalten, und irgend jemand beschuldigt Haakman sogar, den ganzen Kircher erfunden zu haben, da die größte holländische Enzyklopädie diesen nicht aufführe (möglicherweise aus altem protestantischem Groll gegen den Jesuiten und Verfechter der Gegenreformation).
An diesem Punkt, als ihn das Netz aus Unwahrheiten und Mißverständnissen so fest umhüllt, daß jeder Versuch, sich daraus zu befreien, nur noch zu tieferen Verstrickungen führt, bleibt Haakman lediglich ein Ausweg: die Geschichte zu erzählen. So entsteht der Roman Die unterirdische Welt des Athanasius Kircher, ein faszinierendes Buch, das die Odyssee des Autors auf den Spuren Kirchers erzählt, die Geschichte des Films und seines Mißverstandenwerdens, die Fortsetzung der Odyssee, die daraus folgt, das groteske und tragische Schicksal jener echten Personen des Films, die man für erfundene, jener authentischen Betrüger, die man für imaginäre hielt.
Nach dem Zusammenbruch der DDR 1989 kann Haakman das nebulöse Kircher-Museum in Geisa besuchen; auf der Fahrt dorthin hat er einen Autounfall, und ein gewisser Hunfeld, ein fanatischer Bewunderer Kirchers, will ihn davon überzeugen, daß dieser Unfall Ausdruck des göttlichen Willens sei, ein Wunder, ähnlich denen, deren sich der Jesuit rühmte. Hunfeld warnt ihn auch vor der Europäischen Gemeinschaft, in seinen Augen eine niederträchtige katholische Verschwörung, wie schon aus dem blauen Banner mit den zwölf Sternen - dem Mantel der Madonna -hervorgehe.
Haakmans Roman wird zu einer Art Abstieg in den Mundus subterraneus, die unterirdische Welt des Gelehrten aus dem siebzehnten Jahrhundert, in die Höllenkreise der Machenschaften und Katastrophen, die zum Symbol der Verwirrtheit des Lebens werden. Inzwischen stellt sich heraus, daß der Komtur Beck, der sich selbst für eine Reinkarnation Kirchers ausgab, wegen einer riesigen Betrugsaffäre zu Lasten verschiedener Privatleute und Banken, bei der es um eine Gesellschaft zum Studium und zur Restaurierung antiker Obelisken ging, angeklagt und mit Gefängnis bestraft worden war. Man mag es als Ironie des Schicksals ansehen, daß gleichzeitig in Rom ein seriöses und streng wissenschaftliches Symposium über Athanasius Kircher stattfindet, bei dem herausragende Gelehrte neben den esoterischen Balanceakten des Jesuiten seine objektive geistige Größe, die umfassende Breite seines Wissens und seine Rolle in der Kultur seiner Epoche aufzeigen.
Der Protagonist des Romans ist nicht Kircher, der nur den Anlaß und den Hintergrund abgibt. Kircher ist ein Sieger, in der Realität wie in der Geschichte; er ist eine widersprüchliche Persönlichkeit, die jedoch zu recht einen festen Platz in den Registern des Wissens, in den Enzyklopädien und auf den Symposien einnimmt. Ein gütiges Schicksal hat ihm bestätigt, daß die Welt ein Thoater ad maiorem Dei gloriam ist, in dem die Dinge gut ausgehen.
Vielleicht kann er schon deshalb kein Protagonist einer Geschichte von heute sein. Vielleicht ist Beck der Held von Haakmans Roman, der Betrüger, der sich in den eigenen Schlingen fängt, Opfer seiner eigenen Lügen, dessen Gefasel die leichtfertige Bewunderung für die göttlichen Gauner entkräftet, die rethorische Überzeugung, daß die Betrüger leichtfüßig durchs Leben gingen. Die Lüge wiegt schwer; dem, der Mißbrauch mit ihr treibt kann sie wie eine Bleikugel am Fuß hängen. Als der Autor Beck nach dessen Entlassung in Wiesbaden aufsucht macht der Komtur einen zerstörten Eindruck, scheint in Wahnvorstellungen befangen, behauptet, überhaupt nicht mehr zu existieren, ja vielleicht nie existiert zu haben, spricht von Versuchen, ihn umzubringen, von einer Weltverschwörung gegen ihn und vor allem gegen Kircher, denn so behauptet er - Richter und Gerichte wollten abstreiten, daß es den Jesuiten überhaupt je gegeben habe, und er, Beck, sei nicht wegen Betrugs verurteilt, sondern beschuldigt worden, den Namen Kirchers widerrechtlich in die Enzyklopädien eingefügt zu haben, auch in die der Vergangenheit.
Aber als der Autor, nachdem er sich dieses Gefasel angehört hat, ihn fragt, ob Kircher seiner Ansicht nach ein Betrüger gewesen sei, zeigt sich Beck, anstatt dies entrüstet zu verneinen, verwirrt, anwortet auf konfuse Weise, und man versteht nicht, ob er von dem alten Jesuiten redet oder von sich selbst. Vielleicht ist auch für ihn die Welt ein Buch voller Einschiebsel und Irrtümer, zu denen er selbst einiges beigetragen hat, nur daß es für ihn, anders als für den barocken Polyhistor, keinen Korrektor gibt, der die Dinge in den Druckfahnen wieder zurechtrückt.