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Als mein Onkel Camlan auf die Burg meines Großvaters zurückkam, war ich erst drei Jahre alt. Es war ein wärmer, sonniger Tag im Spätfrühling, wie es viele in meiner Heimat gab. Meine Mutter saß mit ihren Damen in ihrer Halle und webten und ich saß dabei. Während meine Amme Moravik das Spindelschiffchen drehte saß ich auf dem Boden und spielte mit ein paar Steinchen. Normalerweise hätte ich anders mit ihnen gespielt, aber der halbe Hofstaat meiner Mutter saß in diesem Raum und obwohl ich keine der Frauen für besonders geistesgegenwärtig hielt, beschloss ich, brav zu sein, denn meine Mutter hätte es bestimmt bemerkt, was ich tat und mich gescholten.

So war das Spiel nicht besonders spannend, doch ich war entschlossen, zu bleiben, denn irgendetwas lag in der Luft. Damals wusste ich nicht genau, ob es etwas war, das ich belauscht und nur noch wage im Hinterkopf wusste oder ob ich es spürte, wie die Hunde das Erdbeben. Aber so langweilig es auch war, ich blieb sitzen und tat, als würde mich das Spiel beschäftigen. Und es lohnte sich in gewisser Weise. Moravik war schon fast am Spinnrad eingeschlafen und bewegte das Schiffchen nur noch aus Routine. Von allen Damen schien nur meine Mutter hellwach und saß aufrecht da. Ich freute mich darüber, dass ihr langes, kupferrotes Haar offen war, denn das war selten und stand ihr gut. Ich fand sie unheimlich schön, ihren hellen Teint, ihre ebenmäßiges Gesicht, ihre hellen, warmen Augen... so anders als ich. Da erwischte ich mich bei einem Gedanken, den ich oft hatte: Sah ich meinem Vater ähnlich?

Plötzlich hörten wir draußen die Hufgeräusche von Pferden. Etwa ein Dutzend Pferde schätzte ich und sprang zum Fenster. Inzwischen waren auch die anderen Frauen aus ihren Tagträumen erwacht und schreckten hektisch auf. Nur meine Mutter blieb ruhig und besonnen an ihrem Webstuhl sitzen und so beruhigte sich die schnatternde Schar wieder. Draußen entdeckte ich die Reiter. „Es ist mein Onkel Camlan!“, rief ich. Er war ein hoch gewachsener Mann, das gleiche Haar wie meine Mutter und mein Großvater, die gleichen, lebendigen Augen wie meine Mutter und die Statur eines Kriegers, so weit ich das beurteilen konnte. Hinter ihm trugen zwei seiner Soldaten sein Banner. Sein kleines Gefolge bestand hauptsächlich aus Männern, doch ich konnte auch zwei Kriegerinnen darunter entdecken. „Stimmt es, dass er die Tochter des Hohen Königs heiratet? Großvater zwingt ihn dazu, stimmt das?“, fragte ich. Mit einem heftigen Ruck zog mich meine Amme vom Fenster weg und begann mich hektisch zu kämmen. „Denke dir doch nicht immer solche Geschichten aus!“, wies mich Moravik streng zu recht. „Ich hab sie mir nicht ausgedacht.“ „Behalte deine Ohren im Auge, sonst nimmt es mit dir einmal ein übles Ende.“, schalt sie mich weiter. Meine Mutter bedeutete uns mit einer einzigen Handbewegung still zu sein und alle verstummte. Draußen im Hof konnte ich zwei Männer lachen hören. Den einen erkannte ich als meinen Großvater und der andere musste dann folglich Camlan sein. „Er kommt, weil dein Onkel Dyved gestorben ist.“, erklärte meine Mutter. Mein Onkel Dyved, Großvaters Erbe, war an schrecklichen Magenschmerzen und unter Krämpfen plötzlich gestorben. Wie gewöhnlich munkelten alle von einem Giftmord, doch dazu gab es keinen Grund. Mit meinem Großvater stand Dyved auf gutem Fuß, seine Krieger hatten meinen Onkel gemocht und auch zu den Sklaven und Dienern war er gutmütig gewesen (auch wenn ich es mir nicht vorstellen konnte, wie ein Sklave hätte an Gift kommen sollen). Es konnte niemandem einen Mord nachgewiesen werden und nun war Dyved eben tot und seine kinderlose Witwe wieder bei ihrem Vater. ‚Nach eins kommt zwei’, dachte ich mir, ‚und nach Dyved kommt Camlan.’ Wäre Camlan gestorben, wäre wohl meine Mutter Königin von Wales geworden. Doch sie war schon fast eine Nonne des Klosters St. Johannes (und ich glaube, bevor mein Großvater zugelassen hätte, dass ich als meiner Mutter erst geborenes Kind Prinzessin von Wales geworden wäre, hätte er mich ertränkt). Nun, solche Gedanken waren unnötig, denn Camlan war gesund, beliebt und hatte auch sonst keine Feinde – außer mir, wie er anscheinend dachte. Draußen wurden noch ein paar Begrüßungsworte gesprochen und drinnen machten sich die Hofdamen meiner Mutter daran, hastig aufzuräumen. „Myrlin“, sprach meine Mutter und wendete sich äußerlich wieder ihrem Webstuhl zu, „Halte deine Zunge im Zaum. Wenn sie kommen, verhalte dich ruhig.“ Ich nickte. Da fiel mir das Tuch ins Auge, an dem meine Mutter arbeitete: ein feines Tuch – für einen Schleier. Wenn mein Großvater das sah, würde er zweifellos schäumen vor Wut, denn er hasste die Frömmigkeit meiner Mutter und verweigerte ihr, sich ins Kloster zurückzuziehen. Mir war es gleichgültig – so lange sie nur nicht vorhatten, mich dazu zu sperren. Ich glaubte nicht an den Gott der Christen und das bisschen Freiheit, das ich am Hof meines Großvaters eisern verteidigen musste, wollte ich nicht verlieren, um in einem Zimmer stupide Bücher abzuschreiben und andauernd zu einem Herrn zu beten, dessen Lehren ich weder verstand (alles in diesem Glauben was wirr und widersprach sich selbst, wie ich fand) geschweige denn die mein Verstand je hätte respektieren oder glauben können.

„Stimmt es denn wenigstens, dass er den Großkönig einmal gesehen hat?“, wollte ich nun wissen. „Natürlich hat er Vortigern schon gesehen, immerhin ist er...“ „Nicht Vortigern!“, unterbrach ich Moravik, „Ich meine den Großkönig. Arthus, den echt...“ „Ruhe!“, zischte meine Mutter, zwar nicht laut, aber eindringlich. Dann sprach sie mit ruhigerer Stimme weiter: „Du meinst, den verstorbenen Hohen König.“ Ich wollte widersprachen, doch sie fuhr fort und ging auf meinen unausgesprochenen Protest ein: „Vortigern sitzt nun auf dem Thron, so zu reden ist Hochverrat – egal, ob es ein Königskind oder ein Sklave sagt. So etwas darfst du nicht einmal denken, verstehst du? Außerdem ist Camlan zu jung, um König Arthus je begegnet zu sein.“ Sie wusste, ich hatte nicht nur Arthus gemeint, aber ihr Ton verriet, dass sie kein Wort mehr hören wollte. Ich schaute mich trotzig um und bemerkte, wie Moravik und einige andere Hofdamen das Zeichen gegen den Bösen Blick machten. Damit hatten sie vielleicht gar nicht so Unrecht, auch wenn sie keine Ahnung von meinen Kräften haben konnten. Manchmal fragte ich mich, ob sie Recht hatten, mit dem, was sie über mich sprachen.

Schwere Schritte näherten sich, Eisen von Rüstungen klirrte. Mein Großvater und Camlan schienen sich zu nähern und eine unangenehme, angespannte Ruhe breitete sich im Raum aus. Mein Großvater war von riesenhafter Gestalt, mit den groben, feisten Gesichtszügen eines Kriegers und Camlan schien sein jüngeres Abbild zu sein. Kaum stand er an der Tür hatte er mit einem „Hinaus!“, alle Damen verjagt, nur meine Amme hielt noch einen Augenblick das Feld, bevor sie unter des Königs strengem Blick ebenfalls knickste und hinausging. Noch nie war mir der Raum so leer vorgekommen und ich wäre gerne mit hinausgegangen, doch der Blick meines Großvaters fixierte mich und ich rührte mich artig nicht. Kaum hatte er seinen Blick von mir abgewendet lächelte Camlan mich an. Zwar war es das raue Lächeln eines Ritters, doch es ermutigte mich und ich verlor ein bisschen meiner Angst – zumindest die Angst vor ihm. In diesem Moment kam mir auch der Gedanke, dass er gar nicht wusste, wer ich war. Doch vor seinem eigenen Sohn und Thronerben würde mein Großvater mich nicht als seinen eigenen Bastard ausgeben, das tat er nur manchmal vor Fremden und nicht etwa, weil er stolz darauf gewesen wäre, sondern nur aus einer väterlichen Gefühlsregung heraus, um meiner Mutter die Schande zu ersparen.

„Das ist der Bastard deiner Schwester!“, erklärte er Camlan schließlich. Das verschwörerische Lächeln meines Onkels verblasste nicht – er musste es also gewusst, oder zumindest geahnt haben. „Dort ist sie. Vier Jahre alt nächsten Winter. Aufgeschossen wie ein Kraut und keinem von uns ähnlicher als des Teufels höchster Brut. Dunkle Augen, dunkles Haar und so voll Furcht vor kaltem Eisen wie ein Wechselbalg aus den hohen Hügeln. Sag mir, dass der Teufel selbst dieses Kind gezeugt hat, und ich glaube dir.“ Innerlich lächelte ich verächtlich, er wusste noch nicht einmal die Hälfte. Diese Worte waren nichts Neues.

Mein Onkel richtete seine Frage an meine Mutter: „Wer?“

„Narr!“, zischte mein Großvater und ich dachte stimmte ihm innerlich insgeheim zu, eine solche Frage konnte nur ein kurzsichtiger Tölpel stellen. „Gepeitscht wurde sie, bis die Frauen jammerten, sie würde das Kind verlieren. Ihr selbst war kein Wort zu entreißen. Vielleicht wäre es besser gewesen, sie hätte eine Todgeburt gehabt. Die Weiber erzählten sich unsinnige, alte Ammenmärchen von Teufeln, die im Dunkeln zu jungen Mädchen kriechen... und ihrem Aussehen zu Folge könnten sie sogar Recht haben.“ Camlan blickte zu mir herab und lächelte immer noch. An seinen Rehfellstiefeln haftete getrockneter Schlamm. Stehenden Schmutzes und ohne sich nach der Reise zu erfrischen war er gekommen, um mich zu sehen? Irgendetwas daran kam mir unheimlich vor, doch ich hatte keine Angst, ich war gewarnt worden. Und er starrte gutmütig auf mich, während meine Mutter, die Hände sittsam gefaltet, dastand und mein Großvater mit rasselndem Atem, bebendem Kinn und zuckender Stirn dastand, wie immer, wenn er erregt war. „Komm her!“, sagte mein Onkel. Trotz seines freundlichen Lächelns traute ich mich nicht näher als ein paar Schritte. Er wirkte nur noch größer, sein Kopf schien fast den Deckenbalken zu berühren, so hatte ich das Gefühl. „Wie heißt du?“ „Mynona Odry.“ „Odry? Listiger Rat? Das scheint kaum der Name für einen Dämonenspross.“ Listiger Rat? Wenn ein Dämon nicht listig ist, wer dann? Aber anscheinend hatte er vor, sich mit mir anzufreunden und ich wollte mitspielen: „Man nennt mich Myrlin, wie den Flaken, den Conwalch.“ „Ein sehr ängstlicher Vogel.“, warf mein Großvater ein. „Ein eben noch kleiner Vogel.“, erklärte ich trotzig. „Siehst du jetzt, was mir noch bleibt? Deine Schwester, die partout nicht den Vater dieser kleinen Teufelsbrut herausrücken will. Und der Bastard hat die meisten meiner grauen Haare zu verantworten – stures, kleines Biest. Wenn du nicht heiratest und ein eigenes Kind hast, ist alles was mir bleibt mir nur das Wechselbalg als Erbe!“ „Nun gut.“, meinte mein Onkel leichthin, „Und was ist mit eurer neuen König? Es heißt, sie trage ein Kind unter dem Herzen.“ „Lass dich davon nicht beirren, mein Sohn. Heirate die Tochter des Vortigerns und vergiss den Bankert. Wer auch immer dieses Gör zeugte, hat sich die letzten drei Jahre nicht gemeldet und auch die nächsten drei mal drei Jahre wird er nicht kommen. Und selbst wenn sie das Kind des Hohen Königs Vortigern wäre, hätte der König an diesem Spross sicher keine Freude; ein verstocktes Kind, das sich in Ecken und Winkeln herumdrückt, anstatt mit den anderen Kindern zu spielen – aus Angst vermutlich. Mit immer neuen, komischen Ideen, ein Kopf voller Streiche, Unfug und passivem Blödsinn.“ Die beiden wandten sich wieder von mir ab und ich hoffte, bald hinausgehen zu können, um wieder auf meine Weise zu spielen. „Geh zurück an die Arbeit, Mädchen, und halt mir den Bastard fern.“, fuhr mein Großvater meine Mutter an. Camlan lächelte mich wieder an, er hatte es also wirklich darauf angelegt, mich kennen zu lernen. Er war mir tatsächlich sympathisch, und obwohl die Sonne sich draußen zurückgezogen hatte war der Raum strahlend hell. „Niniane“, er sprach zu meiner Mutter, „Hast du etwas dagegen, wenn ich mich eine Weile mit dem Mädchen unterhalte. Immerhin sollten wir uns doch kennen lernen.“ „Wenn du meinst, der Wechselbalg könne Handarbeit verrichten, dann irrst du dich. Ungeschickt mir Wolle und Garn, wie ein Zyklop mit der Harfe.“, antwortete mein Großvater. Camlan schien das als Einverständnis zu sehen und bedeutete mit, ihm zu folgen.

 

An diesem Abend hatte ich mich fort geschlichen, um wieder in mein Versteck zu gehen. Die Burg meines Großvaters war ursprünglich eine alte Römervilla, von der nur noch der Hauptteil stand und ein paar Räume für die Sklaven wieder hergerichtet worden waren. Trotzdem wurde kaum noch etwas von den alten Anlagen der Römern verwendet, allem voran das Hypokaustum. Die Fußbodenheizung war unbenutzt und äußerst baufällig. Der unterirdische Tunnel war mein geheimer Platz, mein Großvater hatte schon Recht, als er meinte, ich würde mich in Ecken und Winkeln herumdrücken. Doch ich tat es nicht aus Furcht – auch wenn die anderen Kinder mich bei ihren Kriegsspielen gerne zum Prellbock machten, wenn sie meiner habhaft werden konnten. Doch ich versteckte mich nicht, ich wollte nur allein hier unten meine Spiele spielen. Das dumme Geschwätz der Knaben und Mädchen, ihre sinnlosen, brutalen Spiele, die ihnen glaubhaft machen sollten, Krieg sei Spaß widerten mich an. Die unterirdischen Tunnel wurden nur noch von ein paar Pfeilern gehalten, doch man konnte geräuschlos hindurch kriechen. Außerdem diente mir das Hypokaustum nicht nur als geheimer Spielplatz, obwohl ich den Erdgeruch, die verzweigten, unterirdischen Tunnel liebte, hatte das ganze auch eine praktische Seite. Man konnte alles und jeden im Palast belauschen und so kannte ich die dunkelsten Geheimnisse der Ratsherren, Höflinge und aller, die am Hof meines Großvaters verkehrten. Hätte man mich erwischt, hätte man mich wahrscheinlich nicht nur einfach ausgepeitscht, denn so manches Geheimnis war selbst in Kinderohren gefährlicher als jede Waffe, die ein Krieger sich vorstellen konnte. Meist kroch ich zu einem Raum, den ich „Höhle“ nannte, ein kleiner Kesselraum, der jetzt leer war und wo ich meine Sachen verstecken konnte, die andere besser nicht entdecken sollten. Dort hatte außerdem die Decke ein Loch und ich konnte in den Sternenhimmel blicken. Diesen Raum hatte ich einmal entdeckt, nach dem mein Großvater mich in der Bibliothek erwischt hatte, wo er mich als letztes haben wollte und ich die wahrscheinlich schlimmste Tracht Prügel meines Lebens bekam. Ich war in mein Versteck gekrochen und hatte in den unterirdischen Gängen ein Licht erblickt.

In der „Höhle“ lagen ein paar Steinchen, wie die, mit denen ich auch am Nachmittag gespielt hatte, nur hatten sie kleine Zeichen und Muster eingemeißelt – es waren Trümmer eines zerstörten Mosaiks in einer Nebenhalle -, die ich dort unten in aller Ruhe schweben lassen konnte. Das war eine meiner Kräfte, kleinere Gegenstände bewegen, ohne die Hand daran zu legen. Meine Mutter hatte mir verboten, darüber zu sprechen oder auch im Geheimen diese Kraft zu benutzen, doch ich sah im Hypokaustum keine Gefahr, davon Gebrauch zu machen. Ich wusste nicht, ob meine Mutter das auch konnte, es war keine verbreitete Gabe. Ich dachte, sie wollte es bloß nicht sehen, weil es sich als Christ nicht schickte, doch vielleicht war es auch das Erbe meines Vaters und man hätte all zu leicht seine Herkunft erschließen könne, hätte jemand davon erfahren. Ich traute mich nicht, jemanden danach zu fragen, wer solche Kräfte besaß, um meine Mutter nicht in Gefahr zu bringen. Außerdem tat ich es auch nicht oft, denn ich ahnte, dass die Kraft mir zu mehr dienen sollte. So benutzte ich sie nicht (jedenfalls fast nicht) und mein Großvater schalt mich trotzdem Teufelsspross.

 Ich ließ mich in der Höhle in das geklaute Stallstroh sinken. Außer den Steinen lagen dort noch ein Bogen und ein paar Pfeile. Ich hatte in tausend Büchern und in Hunderten von Experimenten einen Bogen gebastelt, der besser schoss, als der meines Großvaters und ich zielte auch besser als er. Nur wollte ich nicht, dass jemand herausfand, dass ich ein so guter Schütze war, denn im schlimmsten Fall hätte ich dann Kriegerin werden müssen, und Krieg und Kampf verabscheute ich, nicht aus Angst, sondern weil ich es nur Unheil brachte. Sicher, es gab wahrscheinlich Dinge, für die zu kämpfen es sich lohnte, doch die Plünderungen und Raubzüge der Ritter des Königs und der Sachsen waren in meinen Augen menschenverachtend.

Ich war ungewöhnlich und von Zeit zu Zeit war ich mir sicher, ein Dämonenspross zu sein, nicht nur, weil mich alle so nannten. Ich beobachtete den Himmel und die Sterne und stellte mir die unzähligen Menschen vor, die ihn in diesem Moment auch sahen... war einer davon mein Vater?

Auf dem Rückweg kroch ich unter einem Gemach vorbei, das bislang leer gewesen war. Ich vernahm Stimmen und lauschte: natürlich, mein Onkel musste nun dort wohnen. Der Mann, mit dem er sich unterhielt gehörte dem Akzent nach zu seinem Gefolge, dass er am Nachmittag mitgebracht hatte. Möglichst geräuschlos kroch ich unter den Pfeilern näher. Ich war darauf bedacht, kein Geräusch zu machen, doch da stieß ich mit dem Knie hart gegen einen Stein, der auf dem Boden lag. Ich stieß einen erstickten Schmerzensschrei aus. Meine kurze Tunika ging nicht einmal bis zu den Knie und ich tatstete vorsichtig mein Knie ab und versuchte, zu hören, was über mir gesagt wurde. „Der Palast fällt nach und nach in Stücke.“, vernahm ich die wohlklingende Stimme meines Onkels. Der andere Mann sprach mit dem Akzent eines Fürsten aus Cornwall. Ich verstand nicht alles, da ich mich nicht näher traute, in Erinnerung an den Zorn meines Großvaters, und so vernahm ich zuerst nur Bruchstücke und das Eingießen eines Getränks. Aber dann sprach mein Onkel: „... ob sie ihn abweißt oder nicht, das spielt keine Rolle. Sie geht in Kloster, das Los hat sie selbst gezogen. Nach seinem Tod, spätestens.“ „Und das Mädchen?“ „Das Mädchen?“, wiederholte Camlan und ging langsam im Zimmer auf und ab. Ich musste um jeden Preis hören, was er sagte. Bankert, Bastard, Teufelsbrut – es war mir egal, aber ich musste hören, was er jetzt sagte. „Ja!“, seine Stimme klang überraschend sanft, „Ja, richtig, das Kind. Ein sehr gescheites Kind, wie mir scheinen will, viel klüger, als alle Welt hier glaubt... und zugänglich, wenn man sie anständig behandelt. Ich werde sie fortan nicht mehr aus den Augen lassen. Vergiss nicht, Alun, ich mag sie.“ Zugänglich? Heute Nachmittag hatte ich ihm nur belanglose Sachen erzählt, doch er schien zu glauben, er habe das Eis gebrochen. Ich mochte ihn, er war nett, doch irgendetwas in mir riet mir, ihm nicht zu trauen und diese Stimme belog mich nie. Trotzdem wäre es gefährlich gewesen, mich seiner zu entziehen und so beschloss ich, mich auch mit ihm anzufreunden – dem Anschein nach jedenfalls.

Und so war es auch. Tagelang folgte ich ihm überall hin und er duldete, ermutigte mich sogar. Dass ein dreijähriges Kind einem neunundzwanzigjährigen Prinzen nicht immer willkommen war, begriff ich nicht, doch Moravik, und sie schalt mit mir. Aber meiner Mutter schien es nichts auszumachen und sie gebot meiner Amme, mich in Ruhe zu lassen.

 

Es war ein heißer Tag, etwa einen Monat, nach dem mein Onkel heimgekehrt war. Südwales ist ein wunderschönes Land, selbst die kalten Winter- und stürmischen Herbsttage mochte ich meine Heimat.

Maridunum lag nicht weit vom Meer entfernt und der Geruch des Salzwassers wurde vom Wind bis auf die Sonnenterrasse des Gesindegartens getragen. Das Tal ist flach und die Felder weit, die Wiesen voll Blumen und die Erde fruchtbar. Eine Heerstraße führte nach Carleon, dem Hof des Großkönigs und in den Wäldern und kleinen Hügeln konnte man wunderbar ausreiten. Man muss die Landschaft gesehen haben, um sie zu begreifen, die Vielfältigkeit glauben zu können.

Um das Haus meines Großvaters befanden sie Obstgärten voll Apfel- und Pfirsichbäumen. In dem Garten, in dem ich mich herumtreiben durfte, wuchsen nur Äpfel und es war mir nicht erlaubt, hinauf zu klettern, so dass ich mich mit dem Fallobst begnügen musste. Moravik saß auf der Sonnenterrasse und stickte etwas, während ich auf der Steinmauer saß, die den Garten umgab. Dort hinauf durfte ich, denn man konnte auf die Straßen sehen, die vom Meer her zum Haus, nach Carleon oder ins Dorf führten. Die Stadt unterhalb der Burg hieß Caer-Myrddin, ähnlich wie die Göttin, deren gotischen Namen ich trug. Ich saß auf der Steinmauer und sah auf die Straße, wie immer, um ja das Treiben außerhalb gut im Auge zu haben. Ich war noch nicht viel ausgeritten, obgleich ich ein eigenes Pony hatte. Manchmal schon war ich mit Cynric, einem Sklaven, in die Stadt geritten und mein Onkel Camlan hatte mich vor ein paar Tagen zu einem Spazierritt mitgenommen. Ich sah auf den Apfelbaum neben mir und suchte den besten Weg hinauf ins Geäst. Ich wusste, Moravik würde schimpfen, aber wenn man den Preis verkraften konnte, wieso nicht? Ich wollte hinaufklettern. Vorsichtig richtete ich mich auf der Mauer auf die Füße. So konnte ich den untersten Ast erreichen. Jedoch bekam ich nur die weiche, nachgebende Spitze der Knospe zu fassen. Ich streckte mich noch mehr, fuhr mit den Händen weiter den Trieb entlang. Mit einem kleinen Sprung wie eine Berggämse, oben, auf dem Snowdon, hing ich an dem Ast. Ich schlang meine Füße darum und zog und ruderte so lange mit Armen und Beinen, bis ich auf dem Ast oben saß. Von dort aus griff ich nach dem nächsten Ast, drückte mich mit den Füßen am Stamm ab und kam immer höher. Da hörte ich Pferdehufe und mein Kopf fuhr herum, zur Straße. Eine ganze Gruppe von Reitern. Allen voraus ritt ein barhäuptiger Mann auf einem riesigen, braunen Ross. Es war weder Camlan, noch mein Großvater und auch die übrigen Reiter hatte ich zuvor noch nie gesehen: sie trugen Farben, die ich nicht kannte. Als sie, näher kommend, die Brücke fast schon hinter sich gelassen hatten, sah ich, dass Kopf- und Barthaar des Anführers schwarz waren. Seine Kleidung wirkte ausländisch. Auf seiner Brust schimmerte es golden. Die Schar, schätzte ich, zählte etwa fünfzig Mannen.

König Gorlan von Lanascol. Was mir, deutlich und unverwechselbar, den Namen eingab, wusste ich nicht. Vielleicht etwas, dass ich in meinen Labyrinth erlauscht hatte? Oder ein achtlos dahingeworfenes Wort eines Erwachsenen, in meiner, des Kindes, Gegenwart? Von Schilden und Speerspitzen glänzte mir widerglänzendes Sonnenlicht in die Augen. Gorlan von Lanascol. Ein König. Gekommen, um meine Mutter zu heiraten und mich mit zu nehmen, in ferne Lande. Meine Mutter: eine Königin. Und ich...

Schon war sein Ross am Fuß des Hügels. Und wenn sie ihn ablehnt?, hörte ich Aluns Stimme von neulich Nacht. Und dann man Onkel: Selbst wenn sie’s tut... Ich habe nichts zu fürchten, und käme er selbst...

Die Reiterschar dort bei der Brücke. Das Klirren der Waffen und das Stampfen der Hufe.

Er war gekommen, er war hier.

Ich kletterte ein paar Äste tiefer, die Männer kamen näher. Vor Aufregung hätte ich ein paar Mal fast den halt verloren und wäre gestürzt. Noch bevor ich auf dem vorletzten Ast stand rief ich: „Moravik! Moravik!“ Meine Amme war eingeschlafen und fuhr hoch. “Myrlin! Myrlin, wo steckst du schon wieder?“ Ich hatte keine Zeit, mich zu rechtfertigen, er kam! „Hier, Moravik, ich komme schon.“, da fiel ich vor Unachtsamkeit ein Stück nach vorn, glitt mit dem nackten Fuß ab und fiel zwei Meter hinunter. „Oh, mein Gott!“, lautete Moraviks schriller Aufschrei. Ich hatte keine Zeit, mich um irgendwelche Schmerzen zu kümmern: „Moravik! Sie kommen!“ „Wer denn? Ich habe Pferdehufe gehört? Was geht da draußen vor? Da kommt ja eine ganze Schar, wie mir scheinen will. – Bei allen Heiligen, Kind, wie sehen deine Kleider aus! Erst diese Woche habe ich sie wieder geflickt! Da, der Riss, eine Faust könnte man hindurch stecken! Und schmutzig von Kopf bis Fuß wie ein Bettlerkind.“

Ich wich ihrer ausgestreckten Hand aus. „Ich bin gefallen. Beim Hinabklettern, als ich dir berichten wollte. Ja, eine ganze Reiterschar – Fremde! Moravik, es ist König Gorlan von Lanascol! Er hat ein rotes Gewand und einen schwarzen Bart!“

„Gorlan von Lanascol? Das ist ja kaum zwanzig Meilen von meinem Geburtsort! Was mag er nur hier wollen?“ Ich starrte sie an. „Ja, weißt du nicht? Er ist gekommen, um meine Mutter zu heiraten.“ „Unsinn!“ „Es ist wahr!“ „Unsinn, sage ich! Denn dann wüsste ich bestimmt etwas. Rede also nicht so daher, Myrlin, sonst gibt es nur wieder Ärger. Wo hast du denn das aufgeschnappt?“ „Weiß ich nicht mehr. Jemand muss es mir erzählt haben, meine Mutter, glaube ich.“ „Das ist nicht wahr, und du weißt es.“ „Dann hab ich’s irgendwo gehört.“ „Irgendwo gehört, irgendwo gehört! Junge Schweine haben lange Ohren, sagt man. Und deine sind wohl besonders lang, wo du so viel hörst. Was lächelst du so?“ „Ach nichts.“ Sie stützte die Hände auf die Hüften. „Du hast deine Ohren überall. Immer wieder habe ich dir gesagt, du sollst dich in Acht nehmen. Kein Wunder, dass die Leute so über dich reden.“

Ich war zu erregt, um mich wie sonst in vorsichtiges Schweigen zu hüllen. „Es ist wahr, das wirst du noch sehen! Wo ich’s gehört habe, weiß ich nicht mehr, aber das ist doch auch egal, Moravik...“ „Was?“ „König Gorlan ist mein Vater, mein wirklicher Vater!“ “Was?”, wie ein scharfer Dorn stieß das Wort gegen mich. „Hast nicht einmal du das gewusst?“ „Nein und auch du weißt ja nichts, gar nichts. Wehe dir, wenn du zu anderen davon... Woher kennst du überhaupt seinen Namen?“ Sie packte mich bei den Schulter und schüttelte mich heftig. „Wie willst du wissen, dass es König Gorlan ist? Keine Menschenseele sonst konnte ahnen...“ „Das habe ich dir doch gesagt, ich habe es irgendwo gehört. Jemand muss seinen Namen genannt haben, und ich weiß auch, dass er wegen meiner Mutter zum König kommt. Dann geht’s nach Lanascol, und natürlich kannst du bei uns bleiben, Moravik. Wäre das nicht schön? Dort ist doch deine Heimat, und vielleicht...“

Ihr Griff spannte sich härter und ich verstummte. Erleichtert sah ich, wie einer des Königs Leibdienern durch die Apfelbäume auf uns zueilte. Keuchend blieb er vor uns stehen. „Sie soll zum König. Das Mädchen. In die große Halle, rasch!“ „Wer ist es?“, fragte Moravik. „Rasch doch, rasch! Ich habe schon überall gesucht.“ „Wer ist es?“ „König Gorlan von der Bretagne.“ Sie ließ ein überraschendes Zischen hören. Ihre Hände gaben meine Schultern frei. „Was hat er mit dem Mädchen hier zu schaffen?“ „Woher soll ich das wissen?“, entgegnete der Mann atemlos und barsch, „Das Kind und seine Mutter sollen vor dem König erscheinen, und wenn das nicht bald geschieht, dann lässt er seinen Zorn an uns aus. Seit die fremden Reiter hier sind, ist er in großer Erregung.“ „Schon gut, schon gut, geh zurück und sage, dass wir in wenigen Minuten kommen.“

Der Mann eilte davon. Moravik griff nach meinem Arm. „Bei allen Heiligen im Himmel!“, obschon Christin schwor meine Amme auf tausenderlei Talismane, von denen sie eine ganze Sammlung besaß; und nie ging sie an einem Götzenschrein vorbei, ohne ihm ihre Ehrfurcht zu zeigen. Doch in den Minuten der Not wurde sie wieder gläubig und fromm. „Süßer Cherub! Ausgerechnet heute läuft dieses Kind in Lumpen herum. Rasch doch, rasch! Jetzt nur keine Sekunde verloren!“

Unentwegt ihre Heiligen rufend und mich zur Eile treibend, drängte sie mich auf das Haus zu. „Gnädiger St. Peter, warum habe ich nur die Aale gegessen und bin dann eingeschlafen? Ausgerechnet heute! Hier...“, sie schob mich vor sich her in mein Gemach. „Zieh diese Lumpen aus und lege dein gutes Gewand an. Bald werden wir wissen, was der König von dir will. Rasch doch, Kind!“

Das Gemach war eigentlich nur eine dunkle Kammer neben den Räumen für das Gesinde, doch ich hatte es für mich allein. Stets roch es dort nach den Dünsten der nahen Küche. Trotzdem, mir gefiel das, und ich mochte auch den alten Birnenbaum vor dem Fenster, wo morgens die Vögel sangen. Mein Bett stand unmittelbar unter diesem Fenster. Eine Pritsche aus nackten Brettern, ohne jede Verzierung, ja, ohne eigentlich Abschluss am Kopf- oder Fußende. Der Enkelin eines Königs gar nicht angemessen, wie Moravik den anderen Bediensteten erklärte, wenn sie mich außer Hörweite glaubte. Mir jedoch betonte sie, das könne mir sehr lieb sein, so nahe beim Gesinde zu sein. Und zweifellos: Ich war zufrieden, denn sie sorgte für eine Strohmatratze und eine Wolldecke, die nicht schlechter war als die im Gemach meiner Mutter, nahe den Räumlichkeiten meines Großvaters. Moravik selbst hatte ein paar Zimmer weiter ihr Lager, das sie nicht nur mit den sich kratzenden und Flöhe suchenden Wolfshunden teilte (wie auch einer bei mir in der Kammer schlief), und Cynric, einem Angelsachsen, der vor Jahren in Gefangenschaft geraten war und seit her als Knecht diente. Er hatte hier geheiratet, doch Frau und Kind waren bei der Niederkunft gestorben. Die Hunde in meinem und ihrem Zimmer duldete Moravik, trotz des Gestanks und der Flöhe, offenbar, weil sie vor Eindringlingen geschützt sein wollte (außer natürlich Cynric, den die Hunde immer schwanzwedelnd willkommen hießen). Vor einem Jahr hatte Moravik noch neben der Tür in meinem Zimmer geschlafen, doch der König hatte angeordnet, dass sie bei einem der anderen Fürstenbastarde schlafen solle (die trotzdem weitaus besser behandelt wurden, als ich). Doch Cynric hatte, aus Misstrauen vermute ich, einen der stärkeren Wolfshunde zu mir gebracht. Normalerweise wurden Königs- und Fürstenkinder bis zum Erwachsenenalter im Schlaf bewacht.

In gewisser Weise nahm Cynric eine ähnliche Funktion ein, wie die der Wachhunde. Und noch andere dazu. Da aber Moravik über ihn nie sprach, hielt auch ich wohlweißlich den Mund. Von einem Kind nimmt man an, dass es tief und fest schläft, doch so jung ich auch war – oft wachte ich mitten in der Nacht auf und beobachtete, still daliegend, durch das Fenster die Sterne, die wie funkelnde Silberfische im Netz des Baumgeäst gefangen waren.

Meine Kleider wurden in einer Holztruhe aufbewahrt, die an der Wand stand. Uralt war sie, bemalt mit Bildern von Göttern und Göttinnen, und ich glaubte, dass sie aus Rom stammte. Die Farbe, schmutzig und verwischt, blätterte teilweise ab, doch auf dem Deckel erkannte man noch, schattengleich, eine Szene, die in einer Höhle zu spielen schien. Ein Stier war zu sehen, und ein Mann mit einem Messer, der eine Garbe zu halten schien; und darüber, fast verwischt, eine Gestalt mit Sonnenstrahlen um das Haupt und einem Stab in der Hand. Die Truhe war mit Zedernholz gesäumt und Moravik, die meine Kleider selbst wusch, legte immer süße, duftende Kräuter aus dem Garten dazu.

Jetzt hob sie den Deckel so energisch hoch, dass er gegen die Wand prallte. Dann zog sie eines meiner guten Gewänder hervor. Es war eine knielange Tunika, blau mit silberner Borte und einem silbernen, geflochtenen Schnürgürtel, den sie mir locker um die Taille band. Sie rief nach Wasser, und sofort kam eine der Mägde damit angelaufen.

Der fettleibige Bedienstete, der und im Garten aufgestöbert hatte, tauchte auf, um uns erneut zu Eile zu drängen. Und Moravik fuhr ihn unsanft an. Doch kaum hatte ich meine Sandalen angezogen, fand ich mich den Säulengang entlang gezerrt, durch das große, gewölbte Kernstück des Hauses.

Die Halle, in der der König Besucher empfing, war ein hoher, lang gestreckter Raum. Auf dem Fußboden säumten weiße und schwarze Steine ein Mosaik, das einen Gott mit einem Leoparden darstellte. Gut erhalten war es allerdings nicht. Das Verrücken schwerer Möbel und das ständige Stampfen von Stiefeln hatten verheerenden Schaden angerichtet. An einer Seite, zum Säulengang hin, war die Halle offen, und im Winter wurde dort, in losem Steinring, auf dem Boden ein Feuer gemacht. Was sich an den Steinen und Säulen in der Nähe befand war dementsprechend rauchgeschwärzt. Am anderen Ende der Halle befand sich der Thronhimmel, mit einem Stuhl für meinen Großvater und einen für seine Königin.

Und dort saß er jetzt, Olwen, seine junge Gemahlin, zur Linken, während Camlan rechts von ihm stand. Olwen war bereits seine dritte Gemahlin, jünger als meine Mutter und ein eigentümlich einsilbiges und recht törichtes Geschöpf. Sie hatte dunkles Haar, das ihr in Flechten bis zu den Knien hinab hing, und milchweiße Haut. Auch konnte sie vogelgleich singen und verstand sich auf schöne Stickereien, doch zu viel mehr langte es bei ihre nicht. Meine Mutter, glaube ich, mochte und verabscheute sie gleichermaßen. Wie dem auch immer sein mochte: Bei kamen recht gut miteinander aus, und Moravik behauptete, dass meine Mutter ein leichteres Leben habe, seit Gwynneth, des Königs zweite Frau, vor einem Jahr gestorben und bald darauf Olwen an ihre Stelle getreten war. Anders als Gwynneth, in deren einziger meiner Erinnerungen an sie, sie mich schlug, weil ich mich gegen meine Cousine, zu recht, gewehrt hatte, behandelte mich Olwen in ihrer vagen Art stets freundlich, und ich liebte sie, wegen ihrer Musik. War der König nicht in der Nähe, lehrte sie mich Noten lesen und ließ mich sogar an ihre Harfe, so dass ich schon ein wenig spielen konnte. Sie meinte sogar, ich habe Talent, doch da wir beide wussten, was der König von solchen Narrheiten hielt (besonders streng war er mir gegenüber), betrieben wir es heimlich, und selbst meine Mutter wusste nichts davon.

Jetzt bemerkte sie mich nicht. Niemand bemerkte mich, außer meinem Vetter Dinias, der neben Olwens Stuhl stand. Dinias war ein Bankert, den mein Großvater mit einer Sklavin gezeugt hatte; sechs Jahre alt, groß für sein Alter, rothaarig und jähzornig wie sein Vater, auch verfügte er über große Kraft und schien sich vor nichts zu fürchten (in Wirklichkeit war er zu dumm, um Gefahr abschätzen und den Tod kennen zu können). Vor einem Jahr hatte er sich auf ein Pferd seines Vaters geschwungen, ein wildes braunes Füllen, mit dem er durch die Stadt gesprengt war. Erst am Flussufer hatte es in abwerfen können. Seitdem stand Dinias in Großvaters Gunst, auch wenn dieser ihm zuerst eine kräftige Tracht Prügel verabreicht hatte, nicht ohne ihn anschließend mit einem Dolch mit goldenem Griff zu belohnen. Von da an nahm Dinias, wenigstens den übrigen Kindern gegenüber, den Titel eines Prinzen für sich an Anspruch und behandelte mich, der ein Bastard war wie er, mit äußerster Verachtung. Jetzt starrte er mich mit steinerner Miene an, machte jedoch mit der Linken Hand verstohlen ein höhnisches Zeichen.

Unwillkürlich war ich im Eingang stehen geblieben. Moraviks Hand zupfte mein Gewand zu Recht und gab mir anschließend einen Stoß zwischen die Schultern. „Geh schon. Und halte dich gerade. Er wird dich schon nicht auffressen.“ Doch schien dies selbst in ihren Augen ein frommer Wunsch zu sein. Sie begann ein Gebet zu murmeln und ich hörte das leise Klicken eines Amuletts. Die Halle war voller Menschen. Viele von ihnen kannte ich. Die anderen schienen zu jener Schar zu gehören, die vor kurzem über die Brücke geritten waren. Ihr Anführer, von vielen seiner Mannen umgeben, saß nahe zur rechten des Königs. Er war baumlang und dunkelhaarig. Kühn sprang seine Adlernase vor. Das scharlachrote Gewand schien kraftvolle Gliedmaßen zu verbergen. Auf der anderen Seite des Königs, noch unterhalb des Thronhimmels, stand meine Mutter mit zwei ihrer Damen. Ihr Anblick gefiel mir sehr. Wie aus frischem Holz geschnitzt fiel ihr langes, lichtes Kleid bis zum Boden. Auch sonst trug sie sich wie eine Prinzessin. Ihr geflochtenes Haar wallte tief über den Rücken. Eine kupferne Spange hielt das blaue Übergewand zusammen. Ihr Gesicht jedoch war blutleer und wirkte sehr still.

Allerlei Ängste durchrannen mich. Die höhnische Geste von Dinias; die niedergeschlagenen Augen meiner Mutter; das Schweigen der Menge hier in der Halle; die Leere des Mosaikbodens, über den ich schreiten musste; und furchtsam mied ich jeden Blick zu meinem Großvater. Immer noch unbemerkt hatte ich einen zaghaften Schritt gewagt, als er plötzlich mit einem Krach wie von Pferdehufen beide Arme auf die Lehnen seines Stuhls schmetterte und so heftig hochsprang, dass sein Thronsessel, ein schweres, wuchtiges Möbel, mit schnurrenden Füßen ein Stück zurücksauste.

„Beim Himmel.“, dunkel verfleckt schimmerte sein Gesicht. Zornig zogen sie die roten Brauen über seinen wilden Augen zusammen. Ein funkelnder Blick traf meine Mutter. Dann schnaubte er laut durch die Nase. Doch ehe er etwas sagen konnte, begann sein Gast zu sprechen. Was er sagte, verstand ich nicht. Zur gleichen zeit flüsterte auch Camlan auf seinen Vater ein. Der König schien sich zu besinnen. Schließlich sagte er: „Wie ihr wollt. Später. Schafft sie mir endlich aus den Augen.“ Dann zu meiner Mutter, sehr laut und sehr deutlich: „Das ist noch nicht das Ende, Niniane, das verspreche ich dir. Fast vier Jahre, das ist wahrlich genug. Kommt, Sir.“

Mit einem Arm raffte er seinen Umhang hoch, warf seinem Sohn einen Blick zu und stieg vom Thronhimmel herab. Dann nahm er den Bärtigen beim Arm und zog ihn dem Ausgang zu. Innerlich flehte ich, er möge mich wenigstens dieses eine Mal übersehen. Olwen folgte ihnen mit ihren Frauen, denen sich lächelnd Dinias anschloss. Bitte, mach, dass er mich in seinem Zorn nicht bemerkt, flehte ich, zu welchem Gott war mir egal, so lange er meine Bitte erhörte. Meine Mutter verharrte starr, wenigstens schien mein Großvater sie nicht zu sehen. Bereitwillig machten dem König alle Platz.

Allein und verängstigt stand ich drei schritte von der Tür. Sah dann, wie der König näher und immer näher kam. Und versuchte, mich hastig davon zu stehlen. Und war doch zu langsam.

Ein Stück vor mir wirbelte er mit einer schwungvollen Geste herum und ein Zipfel seines blauen Umhangs traf mich ins Auge, so dass es tränte. Blinzend schaute ich zu ihm auf. Gorlan, neben ihm, schien gleichfalls zornig, doch nicht auf mich. Überraschend fragte er den König: „Wer ist dieses Mädchen?“ „Das ist ihre Tochter, der Ihr habt einen Namen geben wollen, Sir.“, war die Antwort meines Großvaters, als er seine mächtige Hand vorschnellen ließ und mich angewidert, als sei ich ein lästiges Insekt, zu Boden schlug. Dann rauschte der blaue Umhang an mir vorbei. Gorlan folgte. Olwen beugte sich besorgt über mich, doch ein wütender Ruf des Königs ließ ihre ausgestreckte Hand zurückzucken. Rasch eilte sie mit ihren Frauen hinter her.

Ich raffte mich vom Boden hoch. Moravik stand bei meiner Mutter und hatte den Vorfall gar nicht gewahrt. Ich versuchte, zu ihnen durch zu kommen, doch bevor ich sie erreichen konnte verließ meine Mutter in mitten der schweigenden Schar ihrer Frauen die Halle durch die andere Tür. Niemand blickte sich zu mir um. Irgendjemand sprach auf mich ein. Ich antwortete nicht. Rasch lief ich durch den Säulengang, über den Haupthof, und war dann endlich wieder im stillen Sonnenschein des Obstgartens.

 

Mein Onkel fand mich auf Moraviks Terrasse. Mit dem Blick auf eine Eidechse lag ich mit dem Bauch auf den heißen Steinen, und von allem, was an jenem Tag geschah ist diese Erinnerung die eindringlichste geblieben: „ die Eidechse, flach, auf Glut getränktem Grund, kaum eine Handbreit von meinem Gesicht und bis auf das Pulsen in ihrer Kehle starr wie schimmernde Bronze. Kleine, dunkle Augen hatte sie, schieferfahl, und die Innenseite ihres Mauls glänzte melonenfarben. Peitschengleich zuckte da die lange, schwarze Zunge hervor. Und dann lief das Tier mit raschelnden Füßen über meine Finger und verschwand in einem Spalt zwischen den Steinen. Ich wandte den Kopf. Mein Onkel Camlan kam durch den Garten herbei. In seinen eleganten Flechtsandalen stieg er die drei Flachen Stufen hinauf und blieb dann, auf mich herabblickend, stehen. Ich schaute fort. Das zwischen den Steinen aufblühende Moos trug weiße Blüten, nicht größer als Eidechsenaugen, und jede in sich vollkommen wie ein kleiner, geschnitzter Becher. „Lass mal sehen.“, sagte er. Ich bewegte mich nicht. Er trat zur Steinbank und setzte sich, Gesicht zu mir gewandt, Hände zwischen den Knien.

„Sieh mich doch an, Myrlin.“ Ich gehorchte. Eine Zeit lang betrachtete er mich stumm.

„Alle behaupten, dass du vor rauen Spielen zurückschreckst und vor Dinias Angst hast. Und sie sagen auch, dass aus dir nie eine Kriegerin wird.“ Ja, sie erzählen auch den Kindern, wie sie heldenhaft Menschen im Krieg abschlachteten und dafür belohnt wurden, Häuser anzuzünden, in denen Frauen und Kinder eingesperrt waren. Wie sie ganze Dörfer vertrieben, wie sie die Menschen überfielen, die mit ihren wenigen Habseligkeiten auf dem Rücken, in Bündeln oder in kleineren Handwagen durch das Land flohen, weil sie von ihnen aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Ist es etwa fair, mit einer Mutter, die um das Leben ihres Kindes fleht, zu kämpfen?

„Aber den Schlag des Königs, den selbst einer seiner größten Hirschhunde zum Winseln gebracht hätte, hast du weggesteckt, ohne mit der Wimper zu zucken.“ Ich schwieg. „Mir will scheinen, dass man dich wahrscheinlich nicht ganz richtig einschätzt, Myrlin. Ich schwieg auch jetzt. „Weißt du, warum Gorlan heute gekommen ist?“ Ich hielt es für klüger, zu lügen: „Nein.“

„Er hat um die Hand deiner Mutter angehalten. Hätte sie eingewilligt, wäre die Bretagne deine neue Heimat geworden.“ Mit dem Zeigefinger berührte ich deine der Moosblüten. Sie zerfiel. Ich streckte den Finger nach einer weiteren Blüte aus, Camlan fragte scharf: „Hörst du mir überhaupt zu?“ „Ja. Aber wenn sie ablehnt, so spielt das kaum eine Rolle.“, ich blickte aus, „Nicht wahr?“

„Du möchtest also gar nicht mit Gorlan ziehen. Dabei hatte ich gedacht...“ Er knetete seine hellen Augenbrauen. „Man würde dir alle Ehren erweise, und du wärst eine Prinzessin.“ „Eine Prinzessin bin ich ja schon. Und mehr Prinzessin kann ich niemals sein.“ „Wie meinst du das?“ „Wenn sie ihn zurückgewiesen hat“, sagte ich, „dann ist er auch nicht mein Vater. Und das hatte ich eigentlich geglaubt. Ich dachte, deswegen sei er gekommen.“ „Und woher willst du wissen, dass er dein Vater ist?“ „Ich weiß nicht. Aber...“, ich unterbrach mich. Wie sollte ich Camlan etwas erklären, dass Gorlans Name vor mir wie ein Blitz aufgetaucht war. „Ich habe es eben geglaubt.“ „Weil du schon so lange auf deinen Vater wartest, Myrlin.“, sagte er mit ruhiger Stimme, „Doch Hoffen und Harren machen manchen zum Narren. Du musst endlich die Wahrheit begreifen. Dein Vater ist tot.“ Meine Faust krampfte sich in das Moos. Ich sah, wie die Knöchel weiß wurden. „Hat sie dir das gesagt?“ „Nein“, er hob die Schultern, „Aber wenn er noch lebte, wäre er schon längst gekommen. Da gibt es gar keinen Zweifel.“ Ich schwieg. „Lebt es noch, ohne sich um deine Mutter und dich zu kümmern“, fuhr er fort, „so ist es für alle Teile wohl das beste.“ „Vielleicht. Vielleicht auch nicht.“, meinte ich und zog meine Hand aus dem Moos, das sich sofort wieder entfaltete. Nur die kleinen Blüten waren fort. „Er hätte meiner Mutter viel ersparen können, und mir auch.“ Mein Onkel nickte: „Es wäre gewiss klüger von ihr gewesen, Gorlan oder einen anderen König zum Gemahl zu nehmen.“ „Was wird mit uns geschehen?“, fragte ich. „Deine Mutter möchte in das Kloster von St. Johannes treten. Und du – nun, du bist nicht dumm und kannst auch schon lesen, wie ich hörte. Du könntest Priesterin werden.“ Ertappt! Er wollte nicht gleich sagen „Nonne“, um mich nicht so einzuschüchtern, doch in dieser Religion gab es keine Priesterinnen. Ich wusste, es würde nie so weit gekommen, und deshalb ließ ich mich nicht weiter auf diesen Fehler ein. „Nein!“ Er runzelte die hellen Brauen. „Höre, Myrlin.“, sagte er, „Zur Kriegerin eignest du dich nicht. Und eine Priesterin führt doch ganz ein angenehmes Leben.“ „Nein! Nein! Ich möchte frei sein! Ich möchte in kein Kloster eingesperrt, und...“, rief ich hitzig und verstummte, weil mir die rechten Worte fehlten. Wie sollte ich ihm erklären, was ich nur selbst ahnte? Meine Augen suchten in seinem Gesicht. „Ich möchte bei dir bleiben. Und wenn du mich nicht gebrauchen kannst, dann – dann laufe ich fort, um einem anderen Prinzen zu dienen. „Nun“, seufzte er schließlich, „für solche Dinge ist es noch zu früh. Du bist noch sehr klein.“ Er musterte mich. „Schmerzt dein Gesicht?“ „Nein.“ „Man wird sich darum kümmern müssen. Komm jetzt.“ Er nahm mich bei der Hand und wir gingen. Ich sah, dass er mich auf den Privatgarten meines Großvaters zuführte und blieb stehen. „Das ist für mich verboten.“ „Nicht, wenn ich bei dir bin. Außerdem ist dein Großvater noch bei seinen Gästen und kann dich nicht sehen. Ich habe etwas Besseres für dich, als deine angefaulten Äpfel hier. Man hat Aprikosen gepflückt und ich habe aus einem Korb die besten herausgesammelt.“ Mit federndem, katzenweichem Schritt ging er auf eine Stelle an der Mauer zu, wo Aprikosen- und Pfirsichbäume standen. Der betäubende Duft von Kräutern und Obst lag über dem Garten. Drüben, in ihrem Schlag, gurrten die Tauben. Eine Aprikose lag zu meinen Füßen wie Samt in der Sonne. Ich stieß mit den Zehen dagegen, sie rollte herum. Auf der Rückseite war ein großes, fauliges Loch, in dem Wespen krochen. Ein Schatten fiel darüber. Mein Onkel Camlan stand an meiner Seite, in jeder Hand eine Aprikose. „Nimm nur“, er reichte mir eine, „Und wenn sie dich wegen Diebstahls prügeln, müssen sie mich mitprügeln.“ Lächelnd biss er in seine Frucht. Im Garten war es sehr heiß und sehr still. Das Summen der Insekten war der einzige Laut. Die Aprikose in der Hand, stand  ich, ohne mich zu rühren. Sie glänzte wie Gold und roch nach Sonnenschein und süßen Säften. Ihre Haut war weich wie Samt. Ich fühlte, wie mir das Wasser im Mund zusammenlief. „Was ist denn?“, fragte mein Onkel ungeduldig. Der Saft seiner Aprikose lief ihm über das Kinn. „Steh doch nicht so da, Myrlin! Beiß schon hinein! Oder gefällt dir die Aprikose etwa nicht?“ Ich schaute auf. Die blauen Augen starrten mich grimmig an. Ich hielt ihm die Aprikose hin. „Nein, sie gefällt mir nicht. Denn sie ist innen schwarz. Schau doch. Man kann ja hindurch sehen.“

Er atmete tief. Plötzlich erklangen auf der anderen Seite der Mauer Stimmen. Wahrscheinlich die Gärtner mit leeren Körben. Mein Onkel griff nach der Frucht in meiner Hand und schleuderte sie von sich. Das goldene Fleisch zerplatzte an der Mauer, Saft rann herab. Eine aufgescheuchte Wespe summte zwischen uns. Camlan schlug nach mir mit einer schroffen Geste, plötzlich klang seine Stimme voller Hass: „Bleib mir vom Leibe, du Teufelsbrut! Hörst du? Lass dich nie wieder vor mir blicken!“ Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und ging mit großen Schritten auf das Haus zu. Ich blieb, wo ich war, Augen unverwandt auf der Aprikose, deren Saft die weiße Mauer herab rann. Eine Wespe ließ sich darauf nieder, kroch klebrig und torkelnd, dann summend zu Boden. Zuckend wand sich der winzige Körper. Das Summen schwoll zum Winseln. Dann streckte sich das Tier und lag still.

Doch all dies gewahrte ich nur undeutlich, weil ein Würgen in meiner Kehle saß, bis ich glaubte, ersticken zu müssen. Der goldene Tag verschwamm glitzernd in Tränen. Es war, soweit ich mich erinnerte, das erste Mal in meinem Leben, dass ich weinte.

Körbe auf den Köpfen, tauchten die Gärtner hinter den Rosen auf. Ich wandte mich um und rannte davon.

 

Niemand war in meiner Kammer. Ich kroch auf mein Bett und stütze die Ellbogen auf das Fenstersims. So verharrte ich lange Zeit, während draußen im Birnenbaum eine Drossel sang und vom Hof der das monotone Hämmern des Schmieds tönte.

Irgendwann machte mir der Lärm aus der Küche bewusst, dass das Abendessen bevorstand. Cynric, der Knecht, trat herein und starrte verdutzt, als er mein Gesicht sah. „Der Heer sei uns gnädig! Was hast du denn getrieben? Bist du etwa einem Stier vor die Hörner gelaufen?“ „Nein, nur hingefallen.“ „Hingefallen, ja? Dann möchte ich mal wissen, warum es ausgerechnet dich immer so schlimm erwischt. Wer hat dir dieses Mal wieder so böse mitgespielt? Etwa Dinias, das kleine Raubein? Oder die angehende Kriegerprinzessin?“ Als ich nicht antwortete, trat er näher heran. Er war ein kleiner Mann mit krummen Beinen und verwittertem, braunem Gesicht. „Hör mir mal gut zu.“, erklärte er, „Wenn du größer bist, dann zeig ich dir, wie man’s macht. Ich meine, wie man mit jemandem fertig wird, der größer ist, als man selbst. Ich kenne da ein paar Kniffe, die es in sich haben, das kannst du mir glauben. Bleibt einem ja nichts anderes übrig, wenn man nur ein Zwerg ist. Aber glaube mir, ich lege auch schwere Kerle auf die Schulter – oder auch Weiber, wenn’s drauf ankommt.“, er lachte und schien, den Kopf zur Seite wendend, ausspucken zu wollen, besann sich dann aber anders. „Wenn du mal groß bist, wirst du meine Tricks nicht mehr brauchen. Bist ja kein solcher Däumling, wie ich. Aber um dein Gesicht sollte sich jemand kümmern. Sieht aus, als ob eine Narbe bleiben könnte. Wo ist Moravik?“ „Bei meiner Mutter.“ „Na, dann komm mal mit mir mit.“

Und so wurde der Riss auf meiner Wange mit Pferdeliniment behandelt. Später aßen wir dann zusammen, im Stall auf Stroh hockend, während mich eine braune Stute beschnüffelte und mein eigenes an seinem Strick zerrend, gierig jeden Bissen beäugte. Augenscheinlich verfügte Cynric über beste Beziehungen zur Küche. Es gab Hühnerkeulen, Speck und frischen Kuchen, das Bier war schmackhaft und kühl. Vom Gesinde schien er erfahren zu haben, was vorgefallen war, das verriet mir sein ernster Gesichtsausdruck. Doch er schwieg und setzte sich, mir mein Essen reichend, zu mir. „Sie haben’s dir erzählt?“, fragte ich. Er nickte und sagte dann kauend: „Er hat eine schwere Hand.“ „Er war wütend, weil sie Gorlan abgewiesen hat.“, erklärte ich, „Er möchte, dass sie meinetwegen heiratet, aber bisher hat sie das immer verweigert. Und weil mein Onkel Dyved jetzt tot ist, und nur noch Camlan und sie als Thronerben bleiben, haben sie Gorlan aufgefordert, sich mit ihr zu vermählen. Wahrscheinlich hat Camlan meinen Großvater dazu aufgefordert, weil er fürchtet...“ Überrascht und erschrocken starrte Cynric mich an: „Beim Allmächtigen! Kind, woher hast du das alles? Wer hat dir das erzählt? Deine Verwandten doch sicher nicht. Solle etwa Moravik ihren Mund nicht halten können...“ „Ich hab’s nicht von Moravik. Aber ich weiß auch so, dass es stimmt.“ „Aber woher denn, woher, in Thors Namen? Vielleicht Sklavengeschwätz?“ Ich steckte der Stute den letzten Bissen zu. „Zu heidnischen Göttern schwörst du, Cynric. Lass das ja nicht Moravik hören.“ „Ach was, mit der werd’ ich schon fertig. Aber nun heraus mit der Sprache: Wer hat dir das erzählt?“ „Niemand. Ich weiß es eben. Woher – das kann ich dir nicht erklären... Jedenfalls war mein Onkel Camlan genau so zornig, als sie Gorlan abgewiesen hat. Er fürchtete nämlich, das eines Tages mein Vater kommt, um sie zu heiraten, und ihn dann vertreibt. Aber davon sagt er meinem Großvater natürlich wohlweißlich nichts.“ „Hm.“, er starrte mit halboffenem Munde. Speichel lief über seine Lippen, Er schluckte hastig. „Mögen die Götter – ich meine, mag Gott wissen, wo du das alles her hast. Aber es könnte wahr sein. Na, sprich nur weiter.“ Das weiche Maul der braunen Stute stieß sacht gegen mich. Aus geblähten Nüstern strich Luft über meinen Nacken. „Das ist alles. Gorlan schäumt natürlich, aber sie werden ihn schon irgendwie beschwichtigen, du wirst schon sehen.“ Einen Augenblick schwiegen wir beide. Cynric bis in das Fleisch und schleuderte den abgenagten Knochen durch die offene Stalltür hinaus. Sofort stürzte sich eine Meute von Hofkötern darauf und schleppten ihn kläffend fort. „Myrlin...“ „Ja?“ „Es wäre klug von dir, zu niemandem darüber zu sprechen, hörst du?“ Ich antwortete nicht. „Das sind Dinge, die ein Kind noch nicht versteht. Dinge von höchster Wichtigkeit. Sicher, über dies und das wird allgemein gesprochen... aber was du da eben über Prinz Camlan gesagt hast...“, er packte mein Knie mit kräftiger Hand und schüttelte es, wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. „Glaub mir, Myrlin, er ist gefährlich, dein Onkel. Rühr nicht daran und bleib ihm aus den Augen. Ich werde keiner Menschenseele ein Wort verraten, das schwöre ich dir. Aber auch du darfst zu niemandem davon sprechen. Selbst als rechtmäßige Prinzessin wärst du deines Lebens nicht mehr sicher, solltest  du auch in des Königs Gunst stehen, wie dieser Balg Dinias, oder seine hübsche Schwester. Aber bei dir ist das noch viel...“, wieder schüttelte er mein Knie, „Hörst du, Myrlin? Für dich ist es das Beste, den Mund zu halten und deiner Wege zu gehen. Und jetzt sage mir endlich, wer dir all dies erzählt hat.“

Ich dachte an die Höhle im Hypokaustum und an dem Himmel, hoch oben über dem Schacht. „Niemand. Das schwöre ich dir.“ Und als er mich musterte, gleichermaßen unwillig und besorgt, rückte ich mit der Wahrheit heraus, soweit sie unverfänglich war: „Ja, es stimmt schon. Hier und dort habe ich etwas gehört. Manchmal unterhalten sich die Leute über meinen Kopf hinweg, als ob ich gar nicht da wäre oder nichts verstünde. Doch oft...“, ich zögerte unwillkürlich, „ist es auch, als ob etwas zu mir spräche und ich Dinge sehen könnte... Manchmal reden die Sterne zu mir... und Stimmen und Musik klingen zu mir im Dunkeln. Wie bei Träumen.“

Seine Hand hob sich wie zum Schutz. Er schien sich bekreuzigen zu wollen. Aber dann sah ich, dass er ein Zeichen machte: gegen den bösen Blick. Doch beschämt ließ er die Hand wieder sinken. „Träume, ja, das wird’s sein, du hast Recht. Wahrscheinlich hast du in irgendeinem Winkel geschlafen und mit angehört, was die Leute so reden. Fast hätte ich vergessen, dass du ja noch ein so kleines Kind bist. Aber wenn du einen mit diesen Augen ansiehst...“, er brach ab und zuckte mit den Schultern, „Versprich mir, dass du niemandem etwas von dem sagst, was du gehört hast.“ „Gut, Cynric. Ich verspreche es. Aber dafür musst du mir auch etwas sagen.“ „Und das wäre?“ „Wer mein Vater ist.“ Das Bier schwappte aus dem Trinkhorn in seiner Hand. Er wischte sich den Schaum vom Mund, setzte das Gefäß dann an und blickte mich beschwörend an. „Wie bei allen guten Geistern kommst du darauf, dass ich das wissen könnte?“ „Vielleicht hat Moravik dir etwas verraten.“ „Weiß sie es denn?“ Seine Frage klang so überrascht, dass es keinen Zweifel geben konnte: er sprach die Wahrheit. „Ich habe sie danach gefragt, aber sie meinte nur, es gäbe Dinge, über die man besser nicht spricht.“ „Das hat sie Recht. Wahrscheinlich wollet sie dir damit auch nur zu verstehen geben, dass sie nicht mehr weiß, als andere. Und das bring mich auf noch etwas, was ich dir sagen will. Myrlin, stell’ niemandem mehr diese Frage. Wenn deine Mutter wollte, dass du es erfährst, dann hätte sie es dir gesagt. Du wirst es schon zur rechten Zeit erfahren.“ Ich sah, wie er, halb von mir abgewandt, wieder dieses Zeichen machte. Schon wollte ich ihn fragen, ob er denn jene Schauermärchen glaubte, als er nach dem Trinkhorn griff und aufstand. „Ich habe also dein versprechen, ja?“

„Ja!“ „Ich habe dich beobachtet. Du gehst deine eigenen Wege, und manchmal habe ich das Gefühl, dass du der wilden Natur näher bist, als wir Menschen. Weißt du, dass sie dich nach dem Falken benannt hat?“ Ich nickte. „Nun ja. Dann lass dir durch den Kopf gehen, was ich dir gesagt habe und vergiss’ für einen Augenblick die Falken, es gibt sowieso viel zu viele von ihnen. Hast du schon einmal die Ringeltauben beobachtet, Myrlin?“ „Natürlich. Das sind doch die, die mit den weißen tauben immer am Springbrunnen trinken und dann frei davon fliegen. Ich habe sie letzten Winter zusammen mit den anderen Tauben gefüttert.“ „In meinem Vaterland sagt man, dass die Ringeltaube viele Feinde hat, weil ist Fleisch süß ist und ihre Eier gut schmecken. Aber sie lebt und gedeiht, weil sie vor der Gefahr flieht. Und du, meine kleine Myrlin, bist noch kein Falke, auch wenn deine Mutter dich so genannt hat. Du bist nur eine Taube, vergiss das nicht. Verhalte dich still wie sie und begib dich nicht in Gefahr. Merk’ dir meine Worte.“, er nickte zur Bekräftigung und reichte mir dann die Hand, um mich empor zu ziehen, “Schmerzt der Riss noch?“ „Es brennt.“ „Dann beginnt es zu heilen. Mach dir darüber also keine Sorgen. Bald wirst du nicht mehr davon sehen.

Tatsächlich verheilte die Wunde sehr sauber und ließ keine Narbe zurück. Doch in der ersten Nacht brannte und biss es so wild, dass ich kaum schlafen konnte. Als ich nicht schlafen konnte, schlich ich mich an meinem Wolfshund vorbei zum Hypokaustum. Aber in dieser Nacht hörte ich nichts von Wichtigkeit. Nur Olwens Stimme sang, lieblich wie das zwitschern einer Amsel, die ein Lied sang, das ich noch nie gehört hatte: von einer Wildgans und einem Jäger mit goldenem Netz.

 

Nach diesen Ereignissen verlief das Leben wieder in gewohnten Bahnen. Die Wegerung meiner Mutter, sich zu vermählen, schien mein Großvater als unabänderlich hinzunehmen. Ein oder zwei Wochen noch maß er sie bei jeder Bewegung mit zornigem Blick, aber dann legte sich sein Unmut. Schließlich war sein Sohn Camlan wieder da und außerdem begann die große Jagdsaison für den Winter bald.

Nur mit meinem Verhältnis zu Camlan stand es nicht zum Besten. Nach dem Vorfall im Obstgarten hatte ich seine besondere Gunst verwirkt. Ich meinerseits fühlte mich nicht schuldig. Aber er war nicht etwa unfreundlich zu mir, und einige Male nahm er mich gegen die anderen Kinder in Schutz, sogar gegen Dinias, der jetzt an meiner Stelle sein Liebling war.

Doch ich bedurfte seines Schutzes nicht mehr. Mit Dinias konnte ich alleine fertig werden, ich war gewitzter und schlauer als er. Camlan hielt es vor der großen Jagdsaison für die Zeit, uns Kindern lesen und schreiben beibringen zu lassen. Das scheinbare Interesse, dass Camlan vor allem an mir in dieser Beziehung hatte erfreute meine Mutter sehr, und mich freute es insgeheim auch, denn Camlan hätte genau so gut die Sachsen an unseren Küsten mit neuen Waffen ausstatten können, er hätte genau so viel davon gehabt.

Der Sommer und seine süßen Düfte wichen dem Herbst und seinen absterbenden Farben, was mich immer zum Druidenfest in feierliche Stimmung versetzte. Das Tal, die Hügel und die Ebenen wurden rot, braun und gelb. Die Vögel zogen gen Süden, die Ernte wurde eingebracht und abends wurde es früher dunkel. Maridunum liegt im Herbst genau so friedlich da, wie im Frühling und Sommer, nur die kalten Winde vom Meer her bliesen durch das Laub, bewegten sie kahlen Äste wie tote Glieder.

Camlan hatte einen Lehrer aufgetrieben. Er war ein griechischer Sklave, ein Gelehrter, der mir anvertraute, dass er nur durch die Verstrickung in Schulden in die Sklaverei hinabgerutscht war. Oft lag er betrunken da, schlief seinen Rausch aus. Die anderen merkten bald, dass er sie nicht verriet, wenn sie ihn nicht verrieten, nach einem nächtlichen Trinkgelage mit surrendem Atem seinen Rausch ausschlief. Er verzieh uns unsere Schwänzerein und wir behielten sein Geheimnis für uns. Dinias, seine Zwillingsschwester Briga, die ihm aussah, wie aus dem Gesicht geschnitten, und der Rest der Bande hatten so bald wieder ihre alte Freiheit erlangt, denn so lange sie niemand während der Unterrichtszeit sah, konnten sie tun, was sie wollten. Ich hingegen mochte Chronos, den Lehrersklaven, wirklich. In den zahlreichen Stunden, in denen er nüchtern und ich allein anwesend war, wurde der Unterricht auch anspruchsvoller. Ich lernte binnen einer Woche das griechische Alphabet und er erzählte mir währenddessen von seiner Heimat und den vielen Geschichten über Griechenland, die sieben Weißen, wie Solon die Demokratie einführte, von den sieben schönen Künsten und schließlich auch vom römischen Imperium, als er versuchte, den anderen und mir Latein beizubringen. Ich mochte es am liebsten, wenn wir beide allein waren, denn dann lernte ich mehr und auch Dinge, für die ihn mein Großvater erschlagen hatte, hätte er davon erfahren: die Demokratie und die Freiheit des Volkes.

Ich sprach zwar alle vier Sprachen, die in Albion gesprochen wurden, doch Chronos beherrschte auch Griechisch und Latein und auch wenn er glaubte, ich sei zu klein dafür, musste er klein bei geben und er beschloss, als ich endlich vier Jahre alt war, es auch mir beizubringen.

Leider wurden Dinias und einige seiner Anhänger einmal im Wald bei der Kaninchenjagd entdeckt – während sie eigentlich hätten in der Schulstube sitzen sollen. Als mein Großvater sie entdeckte hatte er zwar Verständnis, doch eine Prügelstrafe tat ihm nie leid und so wurde den fünf Herumtreibern ordentlich der Hintern versohlt.

Normalerweise hätte ich mich gefreut, doch es brachte mehr Nachteile für mich, als für irgendjemanden sonst mit sich: ich konnte nun auch nicht mehr ausreiten, wann ich wollte, während der Unterrichtszeit, da Dinias mich sonst verraten hätte, und alle mussten wieder in die Stube sitzen und lernen. Und am meisten tat mir der arme Chronos leid, die Strafe für ihn müsste fürchterlich gewesen sein, auch wenn weder er noch Cynric mir etwas darüber erzählten. Ich selbst tat mir auch leid, denn alles, was die anderen noch lernen musste hätte ich so oder so schon gekonnt. Chronos war es mit der Zeit ebenso leid, sich mit unwilligen Kindern herumzuschlagen, aber er war Sklave und musste gehorchen. Trotzdem gab er mir immer wieder kleine Sonderaufgaben und zeigte mir Schriften, während Dinias sich mit dem einfachen Alphabet herumschlug und Briga versuchte, mit Fingern und Zehen eine Summe auszurechnen. Chronos’ Schriften waren nicht die Bibliothek des Königs, in der ich mich nach wie vor nicht erwischen lassen durfte, aber ich las sieh gern.

Doch als das Ende des Winters kam, nahm auch dieser Unterricht sein Ende...

Die Dämmerung lag seit Ewigkeiten über den Feldern, aber nur langsam, aber dafür stetig, wurde es dunkler. Ich saß mit Olwen allein in ihrem Musikzimmer. Während sie mit ihrer Amselstimme eines ihrer Lieblingslieder, die Ballade des Götterfalken, sang kauerte ich auf ihren Knien und spielte die Harfe. Ich konnte noch bei weitem nicht so gut spielen wie Olwen, doch ich kannte die Töne und konnte von den Noten ablesen, wann sie zu spielen waren. Olwen meinte, es sei eine Wohltat, zusammen zu musizieren, denn so könne sie sich besser auf das Singen konzentrieren. Bei unseren anfänglichen Versuchen hatte sie noch meine Hände geführt, so musst ich immer auf ihrem Schoß Platz nehmen. Mit der Zeit brauchte ich ihre Führung nicht mehr, doch dass ich immer noch auf ihren Knien saß, hatte zwei Gründe: wenn mein Großvater plötzlich kam, konnte sie so tun, als habe sie dir ganze Zeit die Harfe gespielt und den anderen Grund verriet sie mir erst Jahre später.

Die Harfe war ein großes, kostbares Instrument, das mein Großvater ihr zur Hochzeit schenkte. Das Gestell war aus Brokat, mit Verzierungen und Anhängseln aus Elfenbein und Geschmeide. Der Rahm war verziert mit einem langgestreckten Drachenkörper, dessen Kopf fein am oberen Ende mit wertvollen Steinen eingesetzt war. Ich hatte es nie jemandem erzählt, auch nicht Olwen, dieser Drache war der Pendragon. Ich spürte es, als ich diese Harfe zum ersten Mal sah, seine Gestalt schien mir seltsam vertraut und vor mir sah ich manchmal den Pendragon, auf einem roten Banner, das im Wind wehte. Ich kannte keinen Fürsten oder Ritter, der unter dem Zeichen des Pendragons ritt, aber ich wusste, es war einst das Zeichen König Arthus’.

Die Saiten waren fein gearbeitet und klar gestimmt, doch am Anfang taten mir die Finger weh, wenn ich ein bisschen gespielt hatte. Olwen meinte, das sei normal, ihr sei es selbst so ergangen. Aber meine Finger taten nicht mehr weh, ich ließ sie über die Saiten gleiten und spielten sie von ganz allein zu Olwens Gesang, während ich einen anderen Liedtext hörte. Nein, es war weniger ein Lied, denn eine Warnung.

 

In der Dunkelheit lauert die Gefahr,

sie sind überall,

sie sind immer da.

Sie werden auferstehen,

kannst du sie sehen?

Kannst du sie sehen?

(Erscheine!)

Mach deine Augen auf!

Kannst du sie sehen?

In der Dunkelheit lauert die Gefahr,

sie sind überall,

sie sind immer da.

Sie zeigen ihre Macht,

wenn die Nacht anbricht,

sie bekämpfen sich,

sie zeigen ihr Gesicht.

Mach die...

 

Ich wurde wieder zurückgeholt, als ich bemerkte, das Olwen aufgehört hatte sie singen, und beunruhigt auf mich einsprach. Ich verstand nicht, was sie sagte, aber ich bemerkte ihren erschrockenen Tonfall. Odry!“, es war nicht Olwen, die meinen Namen rief. Es war nicht Olwen und der Ruf schien nicht mir zu gelten, es war zwar die Stimme meiner Mutter, die fern und leise klang, aber ihr Rufen galt nicht mir.

„Myrlin!“, Olwen schüttelte mich sacht und ich sah auf. Sie sah angsterfüllt aus, ich hatte ihr nicht zugetraut, noch so gefasst zu bleiben, denn sie saß still da. „Ich bin nur schläfrig geworden. Weil du so schön gesungen hast, das hat mich...“, ich wollte Olwen nicht beunruhigen, so log ich, und sie glaubte mir. „Natürlich, es ist auch schon fast Abend.“ Olwen war noch nie zuvor schwanger gewesen, so würde sich der Bauch erst spät wölben, doch man sah bereits die ersten Anzeichen. „Die Musik beruhigt auch ihn, und selbst mich.“, erklärte sie, mit einem Lächeln. „Ich bin sicher zu schwer für dich.“, rutschte von ihren Knien. „Ach nein, du bist leicht wie ein Spatz.“ Der Knabe wird kein langes Leben haben... ich fröstelte, diese Stimme hatte mir auch den Namen von König Gorlan eingeflüstert, und nun prophezeite sie den Tod von Olwens Sohn. Eine unsichtbare Macht schien mich dazu bringen zu wollen, Olwen diese Worte laut zu verkünden, aber ich konnte mich daran hindern.

Olwen behandelte mich fast so liebevoll wie ihr eigenes Kind, auch wenn sie es nicht oft und offen tun konnte. „Bald gibt es Abendessen, in letzter Zeit erwische ich mich dabei, wie ich immer hungriger werde.“, sagte Olwen. Sie sprach selten so offen, wahrscheinlich lag das an der Schwangerschaft, doch zu mit mir hatte sie immer offenherziger gesprochen, als zu anderen. Ich nickte, ich hatte seit dem späten Morgen nichts mehr gegessen, da ich lange allein im Schulzimmer über einer Übersetzung gebrütet hatte, die mir Chronos am Tag zuvor aufgegeben hatte. Ich hatte den Griechen heute zwar noch nicht zu Gesicht bekommen, doch ich brauchte seine Hilfe dazu nicht. „Hoffentlich kommt der König mit Wild zurück.“, sagte Olwen. Plötzlich ging die Tür auf. Ich seufzte enttäuscht, als ich zuerst nur Brigas sommersprossiges Gesicht sah, doch ihr Begleiter machte mich neugierig. Der Mann war wahrscheinlich kaum 25, sah aber sehr viel jünger aus, wie ein Kind, das zu schnell erwachsen geworden war. Dasselbe hielt ich auch immer von Olwen, eine zerbrechliche Puppe, der man die Kindheit geraubt zu haben schien. Der Mann hatte genau so milchweiße Haut, kurzer, seine schwarzen Haare schienen ungekämmt, standen in kurzen Strähnen von seinem Kopf ab. Olwens Bruder... ich wusste es, ohne dass ich es gesagt bekam, die Ähnlichkeit sprach für sich.

„Diese kleine Lady versprach, mich zu Euch zu bringen, Schwester.“, er sprach freundlich, seine Bewegungen waren höfisch und geübt. Nicht die eine Kriegers. „Es freut mich, dass ihr Euch ausgeruht habt. Kommt, setzt Euch zu uns.“, forderte Olwen ihn auf. Der junge Mann setzte sich ihr gegenüber. „Ich freue mich zu sehen, dass es die walisischen Musikliebhaber doch noch gibt.“, meinte er und lächelte mich an. Briga schloss die Tür und setzte sie provokant zu Olwens anderer Seite. Ich mochte sie nicht, sie war genau so jähzornig, wie ihr Bruder. „Oh, ich vergaß, das ist mein Bruder, Allan.“, stellte Olwen den jungen Mann vor, „Er ist schon weit herumgekommen, auch auf der anderen Seite des Meeres war er. An fremden Küsten.“ „Auch schon in Rom?“, platzte es aus mir heraus. „Oh ja, besonders dort.“, er begann zu erzählen, „Doch Rom ist nur noch ein trauriges Abbild vom einstigen Herzen der Welt. Das Kolosseum des Augustus ist in einem schlimmen Zustand und die Tempel der Götter sind ein trauriger Anblick.“ „Aber du kennst doch bestimmt eine kleine Geschichte, über Rom, in der alten Blütezeit.“, sagte Olwen. „Ich kenne Geschichten der großen Feldherren. Caesar, Pompeius, Cato...“ „Auch Cicero?“, fragte ich. „Oh ja, sie alle waren große Mannen. Der gesamte Senat, große Männer. Doch sie alle fanden ein trauriges Ende. Kennt ihr die Geschichte von der Schlacht bei Alesia?“ Ich schüttelte den Kopf, und ohne auf Briga zu achten begann er zu erzählen: „Caesar war Jahre in Gallien unterwegs. Er eroberte Gebiete und verhalf Rom zu einer mächtigen Größe. In Rom selbst stritt der Senat täglich über Caesars Rückkehr. Sie hatten Angst, er könne wie Sullar einst mit seiner riesigen Streitmacht Rom einnehmen. Stimmen wurden laut, die Caesars Rückkehr forderten und auch Pompeius befiehl die Angst, sein Freund könne die Herrschaft in Rom an sich reißen und den Senat und die Volkstribunen entmündigen. Doch Caesar kämpfte weiter und eroberte mehr und mehr Land. Bis sich die Gallier unter ihrem Anführer Vercingetorix versammelten und sich in ihrer übermächtigen Festung Alesia verschanzten. Man sagte Caesar, Alesia sei uneinnehmbar, er würde Vercingetorix nicht angreifen können. So beschloss der große Feldherr einen Belagerungsring um die Festung zu bauen. Die Gallier beobachteten dies mit Argwohn, denn die Römer würden sie gewiss aushungern und ihre Vorräte reichten nicht lange. Vercingetorix hoffte auf Hilfe von außen. Doch auch Caesar schien zu ahnen, dass weitere Truppen von Galliern kommen würden und ließen zusätzlich einen äußeren Belagerungsring anlegen, die wohl schlauste Kriegsliste seiner Zeit. Vercingetorix wurde ungeduldig, die Verstärkung kam nicht und die Vorräte ging schneller zur neige, als er gedacht hatte. Zwar hungerten auch die Römer, doch für Vercingetorix’ Männer sah es eindeutig schlechter aus. Da traf er eine schwere Entscheidung: er wollte die Frauen und Kinder den Römern als Sklaven überlassen, denn wenn sie die Sklaven der Römer waren, mussten diese sich um sie kümmern. So öffneten sie die Tore ihrer Festung und lieferten ihre Familien den Feinden aus.“ „Aber Caesar hat sie nicht aufgenommen, oder?“, fragte ich. „Nein, aber auch die Gallier hielten die Tore verschlossen. Sie verhungerten.“ „Aber wieso haben die Römer sich nicht um sie gekümmert?“ „Sie hatten selbst nicht genug und Caesar war nur am wohl seiner eigenen Männer interessiert.“ „Er selbst hätte sie doch gar nicht durchfüttern müssen, er hätte ja Vorräte von Rom bekommen und sie gleich dort hin bringen lassen können.“ „Da hast du wohl Recht.“, seufzte Allan schließlich, ihm schien es zu gefallen, jemanden für seine Geschichten gefunden zu haben. „Ich glaube nicht, dass das passend ist, für Kinderohren.“, warf Olwen ein. „Nein, vielleicht hast du Recht, Schwester.“

Doch bevor er weitere Geschichten erzählen konnte, holte ein Diener die Königin und ihren Bruder zum Abendessen und auch ich beschloss, in die Küche zu gehen.

In der großen Halle prasselte das Feuer und bald würden der König und sein Gefolge wieder von der Jagd zurück sein. Ich bemerkte, dass auch Briga mir gefolgt war und sich nun an mir vorbei, zum Feuer drängend. Da vernahm ich im Säulengang schwere Schritte – mein Großvater war von der Jagd zurückgekehrt. Normalerweise sah er aber immer blutbeschmiert und befriedigt dabei aus, doch nun... Sein Gefolge, mein Onkel, alle fixierten mich mit ihren Blicken und ich wusste, das, was auch immer passiert war, er glaubte, ich sei daran Schuld.

 

„Ich dachte schon, er prügelt dich tot.“, wiederholte Cynric kopfschüttelnd, „Diesen griechischen Halunken zu beschützen war es nicht wert.“ Ich lag nur still auf meiner Wolldecke, sagte nichts, rührte mich nicht. „Komm schon!“, er half mir, mich wieder auf zu setzten. „Ich dachte schon, er prügelt dich tot.“, wiederholte Cynric vorwurfsvoll, „Ich dachte schon, du bleibst in deiner eigenen Blutlache liegen.“, er nahm meine Arm und schmierte noch mehr Liminent auf die Wunden, Kratzer, Risse und Prellungen. Wenn ich dachte, mein Großvater sei wegen meiner Steifzüge in die Bibliothek damals wütend geworden, dann war ich jetzt eines Besseren belehrt worden. Ich hatte leider erst zu spät gemerkt, was Chronos mir hatte sagen wollen. Die Übersetzung, der Text; er wollte in die Bretagne flüchten. Es waren Wörter aus dem Original ersetzt worden „litus“, der einzige Strand in der Nähe war an der Küste Galliens auf der anderen Seite der kleinen See. Ich hatte keine Ahnung, was Chronos dort zu finden verhoffte, doch die Männer meines Großvaters würde ihn schnell wieder einfangen, bei dieser Jahreszeit konnte kein Mensch übersetzten, ohne eine ordentliche Summe zu bezahlen. Mit tat jeder einzelne Knochen im Leib weh. Cynric versuchte mich ununterbrochen dazu zu überreden, zu sagen, was ich wusste, wenn ich etwas wusste, sonst würde ich es später noch bereuen. Ich sagte gar nicht, vielleicht hatte ich mich in meinen Schlussfolgerungen ja geirrt, war meine vage Hoffnung.

In dieser Nacht lag ich hungrig und von Schmerzen geplagt wach und konnte nicht einschlafen. Als ich mir sicher war, dass Moravik und Cynric nebenan schliefen, stand ich auf, um zum Hypokaustum zu gehen.

In der Höhle legte ich mich auf das Stallstroh und sah wieder in den Himmel. Es war kalt, doch die Sterne schienen trotzdem und ich fragte sie nach Chronos. Nichts. Dann hatte ich eine andere Idee. Ich hatte Cynric versprochen, niemanden nach meinem Vater zu fragen, doch dies war damit sicher nicht gemeint. Der Wald erschien, der Fluss… es war eine Stelle die ich noch nicht gesehen hatte, eine Höhle… Komm zu mir… Ich weiß nicht, ob mich die Schmerzen damals zurückgeholt haben oder ob es die Stimmen waren, die ich vernahm. Ich lauschte diesmal in reale Richtungen und erkannte die Stimme meines Großvaters. Wenn er mich im Hypokaustum erwischt hätte, hätte ich zweifellos mein letztes Gebet sprechen können. Aber es zog mich an. Lautlos kroch ich durch die Gänge und blieb schließlich unter dem Arbeitszimmer des Königs, legte mich flach auf den Bauch und wartete. Anfangs konnte ich nur ein Wort verstehen: Mordred… aber mein Großvater sprach weiter: „Wenn er wirklich Mordreds Spion war müssen wir ihn finden.“, erklärte er in seinem üblichen, scharf klingenden Tonfall. „Und woher sollte der Bastard etwas wissen? Er kann sowieso nicht fliehen. Und außerdem wissen wir jetzt, wenn er wirklich ein Spion ist, dass Mordred wirklich etwas plant.“, meinte Camlans Freund, Alun. Der Rest drehte sich nur wieder um Mordred, der angeblich in der Bretagne Truppen sammelte, um den Thron seines Vaters zurückzuerobern. Diese Gerüchte gab es seit meiner Geburt, doch es war seither das erste Zeichen von Mordred…

 

An die nächsten Tage erinnere ich mich nur noch undeutlich. Nachdem ich mich zurück in mein Zimmer geschleppt hatte war ich eingeschlafen. Noch im Traum verfolgten mich Bilder, die ich nicht deuten konnte und jemand, der mich rufend aufforderte zu kommen…

Mein Großvater hatte mir verboten, mein Zimmer zu verlassen, aber ich wäre auch kaum dazu in der Lage gewesen. Als Moravik am nächsten Morgen ein bisschen Gerstenbrot bringen wollte gewahr ich nur undeutlich, wie sie alle Heiligen anrief, die sie kannte. Es waren nicht die Wunden, die sich entzündet hatten, es war mein Geist, der sich lösen wollte, das weiß ich jetzt. Moravik glaubte, ich hätte Fieber und genau so fühlte es sich auch an: ein Fiebertraum. Ich war nicht oft bei Bewusstsein, Tag und Nacht versuchte mich etwas fortzuzerren, die Stimmen wurden eindringlicher und bevor ich schließlich am dritten Tag gesund erwachte sah ich dich…

Von meinem Träumen war mir kaum etwas im Gedächtnis geblieben, du musst dafür gesorgt haben, dass ich dein Bild wieder vergesse, bevor die Zeit gekommen ist. Nur eines wusste ich, jemand wartete auf mich und ich musste kommen.

Ich lag lange Zeit da, ohne dass jemand herein kam oder Notiz von mir nahm. Am Spätnachmittag dann kam Cynric herein und erzählte mir, dass Chronos tot war. Nur dass er ein Spion war wusste er nicht.

 

Mein Großvater vergaß, dass ich mit dieser Sache etwas zu tun hatte, oder sprach es zumindest nicht mehr an. Ich war vielleicht der einzige, der um Chronos in ganz Albion trauerte, aber nicht auf der ganzen Welt. Zu Dinias Pech bekamen wir einen anderen Lehrer, der aber als Sklave genau so wenig von Disziplin hielt… Camlan seinerseits heiratete noch vor der Wintersonnwende die Tochter des Großkönigs. Er tat sich als Anführer und Krieger hervor und auch sonst schien er seinen Vater zufrieden zu stellen, denn bald war seine junge Frau schwanger.

An Dinias rächte ich mich noch einmal. Eines Nachts kroch ich auf dem Weg zu meiner „Höhle“ unter seiner Schlafkammer vorbei und vernahm lautes Lachen. Mit Brys, einem seiner Anhänger, sprach er über einen Streich, den sie sich geleistet hatten: Heimlich waren sie Alun, Camlans Freund, zu seinem Stelldichein mit einer Magd gefolgt und hatten alles beobachtet. Als mir Dinias am nächsten tag auflauerte, fragte ich ihn, einige Sätze aus seiner Unterhaltung wörtlich aufzählend, ob er schon Alun über den Weg gelaufen sei. Er starrte mich an. Blitzschnell wechselten Blässe und Röte in seinem Gesicht. Seine Furcht, vom jähzornigen Alun durchgeprügelt zu werden, war offenkundig. Er schien sich zu fragen, woher ich meine Weisheit hatte und drückte sich dann scheu an mir vorbei, hinter seinem Rücken das Zeichen machend. Er glaubte also, dass hinter meinem schlichten Trick Zauberei steckte. Von da an ließen mich die anderen Kinder in Frieden.

Gerade noch rechtzeitig denn in jenem Frühling stürzte ein Teil des Badeshauses ein und mein Großvater ließ die Löcher zuschütten und Rattengift auslegen. Der geheime Zugang zu meinem Wissen war mir also versperrt und ich musste auf andere Weise mein Haupt retten.

 

Eines Tages im frühen Frühling, stahl ich mich nach dem Unterricht davon und ritt hinaus in die Hügel hinter der Stadt. Es war nicht das erste Mal, dass ich diesen Weg einschlug. Ein Umweg eigentlich. Doch hätte mich der kürzere Weg durch die Stadt geführt, wo neugierige Blicke und Fragen unausweichlich gewesen wären. So zog ich es vor, am Flussufer entlang zu reiten, am Kloster und an der Mühle, wo die Schiffe ihre Lasten abluden, vorbei. Und dort, jenseits der Stadt, lag ein Tal, durch das ein Bach floss, der in einem Fluss mündete.

Es war ein heißer, schläfriger Tag. Adlerfarn duftete schwer. Über dem Wasser zuckten blau schimmernde Libellen hin und her. Dicke Wolken summender Fliegen hockten auf Sträuchern und Bäumen. Es würde Stunden dauern, ehe man meine Abwesenheit bemerkte. Dem Flusslauf folgend schlängelte sich der Pfad in engen Windungen dahin, ehe er schließlich durch Dorngestrüpp in einem Bogen den offenen Hang hinaufstrebte.

Die Sonne stand steiler. Leichter Windhauch strich durch die Sträucher. Ich trieb das Pony an. Jetzt sah ich auch die ersten Kiefern, deren Stämme rötlich in der Helle schimmerten. Der Boden wurde rauer und härter. Kahles, graues Gestein kroch durch die dünne Erdkruste. Wohin der Pfad mich führte wusste ich nicht, ich wusste nur eines: Ich war allein, ich war frei. Nichts verriet mir, was für ein Tag dies war oder was mich führte. Die Hitze sengte sich und ich spürte Dunst. Der Pfad lief nun unter einer niedrigen Felsnase dahin. Irgendwo über mir hörte ich das Geplätscher von Wasser zwischen den Steinen. Ich hielt das Pony an, stieg ab und führte es ins Gehölz, wo ich es anband. Dann machte ich mich auf die Suche nach dem Wasser. Der Fels neben dem Pfad war trocken. Auch unterhalb des Pfades deutete nicht daraufhin, dass hier irgendwo ein Rinnsal seinen Weg zum Bach suchte. Und doch hörte ich, stetig und unverkennbar, das Plätschern von Wasser. Kurz entschlossen klomm ich die mit Büschel bewachsene Anhöhe seitlich des Felsens empor und gelangte auf einen Grasüberwucherten Absatz, über dem sich, ein wenig zurückgesetzt, eine weitere Felswand erhob. Und plötzlich  entdeckte ich sie, die Höhle mitten in dieser Wand. Eine enge und regelmäßig gerundete Öffnung, fast einem Torbogen gleich, führte ins Innere. Rechts diesem Eingang lag eine kleine Kuppe – Felsgestein, das vor Jahren einmal herabgestürzt sein musste. Und dort wuchsen Eichen und Ebereschen, deren Schatten die Höhle überschatteten. Links, und nur wenige Schritte vom Eingang entfernt, fand sich die Quelle. Ich näherte mich ihr. Ein winziges glitzern nur zeigte an, wo das Wasser aus dem Felsspalt drang, ehe es sich mit stetem Plätschern in ein Steinbecken ergoss. Einen Abfluss konnte ich nirgends entdecken. Vermutlich fand das Wasser durch einen zweiten Felsspalt den Weg hinunter zum Bach. Durchsichtig klar war es und ich konnte jeden Kiesel, ja selbst jedes Sandkorn auf dem Grund des Beckens erkennen. Oberhalb der Steinschale wucherte Zungenfarn, an ihrem Rand wuchs Moos und unterhalb breitete sich saftiges Gras.

Hier kniete ich nieder und wollte eben den Mund zum Wasser beugen, als ich den Becher entdeckte, der in einer winzigen Nische zwischen den Farnen stand. Er war etwa eine Handspanne hoch und bestand aus braunem Horn. Ich griff danach und sah plötzlich, zwischen den Farnen halb verborgen, die kleine, aus Holz geschnitzte Figur eines Gottes. Ich erkannte ihn: Unter der Eiche bei Tyr Myrddin hatte ich ein solches Bildnis schon gesehen. Hier nun stand er in seinem Reich unter freiem Himmel.

Ich füllte den Becher und trank. Dann betrat ich die Höhle.

Sie war viel größer, als sich von außen vermuten ließ. Wenige kurze Kinderschritte nur und sie öffnete sich zu einem weiten Gewölbe, oben von Schatten umhüllt. Sie schien dunkel und was doch (auch wenn ich dies zuerst nicht wahrnahm noch nach dem Grund dafür fragte) von einer unnennbaren Helle, so dass ich deutlich den glattgeebneten, völlig leeren Boden unter mit erkannte. Angestrengt spähend, bewegte ich mich langsam voran, und tief in mir wurde jene wogende Erregung wach, die der Anblick von Höhlen stets in mir erweckt. Anderen Menschen geht es beim Anblick von Wasser oder Feuer so, oder auch bei hohen Gipfeln. Ich fühle mich immer von der Tiefe der Wälder oder auch der erde gepackt. Ich hatte etwas Neues entdeckt: etwas, das ich mir in einer Welt, in der nichts mein eigen war, zu eigen machen konnte. Plötzlich durchzuckte mich ein Schreck und ich blieb stehen. Nicht weit weg von hier hatte ich im Halbdunkel eine Bewegung gewahrt. Ich stand wie erstarrt. Spähte mit zusammengekniffenen Augen. Und sah nichts.

Ich hielt den Atem an. Kein Geräusch. Prüfend sog ich die Luft ein. Es roch weder nach Tier, noch nach Mensch. Nur der Geruch von Erde, Rauch und feuchtem Fels wurde spürbar. Und ein eigentümlich muffiger Geruch, den ich nicht identifizieren konnte. Instinktiv wusste ich, dass niemand in meiner unmittelbaren Nähe war.

Leise sagte ich auf walisisch: „Zum Gruß!“, doch in raschen Echo kamen die Worte vom wahrscheinlichen nahen Felswall zurück und verloren sich dann zischend in der Höhle.

Und aus dem Widerhall meines Flüsterns schien es zu steigen, ein Rauschen, das wuchs, wie das Rascheln von Gewändern oder das Flattern eines Vorhangs in bewegter Luft. Dann fuhr mit schrillem, schier tonlosem Schrei etwas an meinem Kopf vorüber. Und mehr, immer mehr,  Flocken zerrissener Schatten gleich, herabregend aus der höhle wie windgepeitschtes Laub: Fledermäuse, die aufgescheucht von ihren Schlupfwinkeln hinausströmten ins lichte Tal.

Ich stand bewegungslos. Dieser muffige Dunst, den ich wahrgenommen hatte, stammte er vielleicht von ihnen? Nein. Der Geruch, den die vorbei fliegenden Tiere ausströmten war anders. Immer noch stoben sie dahin, doch kein Flügelschlag berührte mich. In Tageshelle wie Nachtschwärze weichen Fledermäuse jedem Hindernis aus. Wie Federleichte Blütenblätter scheint sie der Wind um jedes Hemmnis herumzutragen. In dichter Flut bewegte es sich zwischen der Felswand und mir und in kindlicher Neugier trat ich näher. Schob teilte sich die Flut und schoss weiter voran, während sachter Lufthauch gegen meine Wangen prallte. Und im gleichen Moment sah ich es; mit mir hatte es sich bewegt, ein Wesen wie ich. Ich tastete mit ausgestreckter Hand. Meine Finger trafen nicht auf Fels, sondern auf Metall, und ich begriff, dass jenes fremde Wesen mein Spiegelbild war.

An der Wand hing eine matt glänzende Metallplatte, und ganz offensichtlich war sie die Quelle des diffusen Lichts in der Höhle. Die seidige Spiegelfläche fing vom Eingang her die Helle ein und sandte sie ins Höhleninnere. Unwillkürlich zuckte ich vor meinem geistergleichen Abbild zurück. Und sah, wie meine Hand, schon am Dolch in meinem Gürtel, sich erleichtert von der Waffe löste.

Die Flut der Fledermäuse war verebbt. Die Höhle lag still. Aufmerksam betrachtete ich mich im Spiegel. Ich erinnerte mich, dass meine Mutter einmal einen gehabt hatte, ein altes Stück aus Ägypten, bald wieder außer Gebrauch, da solche Dinge sie eitel dünkten. Natürlich hatte ich mein Gesicht schon oft im Wasser gesehen, doch hier erblickte ich mich erstmals ganz: ein dunkelhaariges Mädchen, das aus aufgerissenen Augen neugierig und erregt starrte. Schwarz wirkten meine Pupillen hier, im trüben Licht, fast schwarz auch mein sauberes, nackenlanges Haar, das durch die Locken schlechter geschnitten aussah als die Mähne meines Ponys. Auch mein Gesicht spottete jeder Beschreibung. Ich lächelte, und bereitwillig warf der Spiegel mein Lächeln zurück. Plötzlich verwandeltes Bild: nicht mehr gehetztes Tier, bereit zur Flucht oder Gegenwehr, sondern ein Gesicht voll Offenheit und Zutraulichkeit. Und schon damals wusste ich, dass nur wenige Menschen mich so kannten.

Ich ließ meine Hand über das Metall gleiten. Es war kalt und glatt und frisch geputzt. Es musste also erst kürzlich jemand hier gewesen sein. Vielleicht lebte er immer noch in der Höhle. Jeden Augenblick konnte er zurückkehren.

Doch ich hatte kaum Angst. Auch in friedlichen Zeiten, wie sie in unserer Gegend herrschten, lernte man schon früh auf der Hut zu sein vor herumstreunenden Verbrechern und Vagabunden. Wer gerne auf eigene Faust handelte, wie ich, musste sich seiner Haut zu wehren wissen. Für mein Alter war ich recht kräftig, zudem vertraute ich meinem Dolch und meinem Bogen. Dass ich kaum fünf Lenze zählte, das kam mir gar nicht in den Sinn. Ich hieß Myrlin, und ob nun Bastard oder nicht: Ich war die Enkelin des Königs.

Ich drang weiter vor. Als nächstes spürte ich eine Truhe nahe der Wand auf. Darauf entdeckten meine tastenden Finger Feuerstein, Eisen und Zunderbüchse. Dann stieß sie gegen eine große, ungefüge Kerze aus Schafstalg – und auf einen gehörnten Schafsschädel. Hier und dort in der Truhe staken Nägel, die durch Fetzen von Leder getrieben schienen. Doch als meine Finger die Formen befühlten, glitten sie über winzige Knochenskelette, von verschrumpfter Lederhaut umhüllt. Es waren tote Fledermäuse. Ausgestreckt auf das Holz genagelt.

Eine Schatzhöhle fürwahr. Weder die Entdeckung von Gold oder Waffen hätte mich mehr erregen können. Neugierig langte ich nach der Zunderbüchse.

Dann hörte ich, dass er zurückkam.

Mein erster Gedanke war, dass er mein Pony gesehen hatte. Doch offenbar näherte er sich der Höhle von oben. Kleine Steine prasselten herab, ein oder zwei klatschten ins Wasserbecken draußen. Und dann war es zu spät. Er sprang herab ins flache Gras neben dem Wasser.

Keine Zeit für falsche Tapferkeit: der Falke verwandelt sich in die Taube. Rasch lief ich tiefer in die Höhle hinein.

Eine Hand bog die Zweige beiseite, die den Eingang überschatteten und für einen Augenblick wurde es lichter. Im Hintergrund der Höhle erkannte ich einen Hang mir vorspringender Felsnase und breitem, nicht allzu hohem Absatz. Funkelndes Sonnenlicht, vom Metallspiegel her, glitt über ein schattiges Loch dort oben. Lautlos klomm ich empor und verbarg mich in dem Spalt, der zu einer weiteren, kleineren Höhle führte. Wie ein Fischotter schlängelte ich mich hindurch. Er schien nichts gehört zu haben. Das Gezweig am Eingang schnellte zurück, und die Helligkeit verlosch. Ruhige und feste Männerschritte näherten sich. Zielsicher strebten sie auf die Truhe zu, wo die Kerze stand. Missbehaglich verharrte ich in der winzigen Höhle, in die ich gekrochen war. In Form und Ausdehnung schien sie jenen Bottichen zu gleichen, die am Hofe zum Färben benutzt wurden. Ich stak wie im inneren einer Kugel, deren Wände mit Nadeln gespickt schienen, mit kantig hervorspringendem, scherbengleichem Gestein, das auch keine Handbreit glatter Fläche freiließ, und es war wohl auch nur mein geringer Körpergewicht, das mich vor Schaden bewahrte, als ich blind nach einer freien Stelle tappte, wo ich mich hinlegen konnte. Ich fand sie schließlich, leidlich glatt, und kauerte darauf nieder, Blick durch den trüb umrissenen Spalt in die Großhöhle gerichtet, Dolch schon in der Hand.

Ich vernahm das Gegeneinanderschlagen von Feuerstein und Eisen. Dann flammte der Zunder grell ins Dunkel. Und schließlich schimmerte der sanfte Schein der Kerze auf.

Schimmerte auf? Oh, nein. So hätte es wohl sein sollen: das langsame Anwachsen matten, milden Kerzenscheins. Statt dessen loderte es empor wie eine Flammen sprühende, Flammen speiende Fackel. Helle blinkte und blitzte weiß und rot und golden. Feuergarben blendeten mich. Furchtsam zuckte ich davor zurück und presste mich gegen die dornenscharfen Wandlungen meiner Höhle. Das ganze Verlies schien in Flammen zu stehen.

Und tatsächlich, jetzt sah ich es genau, war es ein kugelartiges Gewölbe, ausgekleidet mit Kristallen, fein und glatt wie Glas, doch klarer, als ich’s je gesehen, und leuchtend wie Diamant. Und genau so empfand es mein kindliches Gemüt: ich hockte in einer Diamanten bestückten Kugel, funkelnd Edelstein in Edelstein, millionenfach hin und her geschleuderte Strahlenbündel, glänzende, gläserne Lichtflut, regenbogenfarbig und sternengleich – die Umrisse eines blutrot hochgereckten Drachen an der Windung und darunter, mit geschlossenen Augen und verschwommen nur, ein Mädchengesicht. Sengend brannte sich das Licht in mir in den Leib, als müsse ich zerbersten.

Ich presste die Augen zusammen und verharrte so sekundenlang. Als ich sie wieder öffnete war das Licht dahingeschrumpft. Nur an einer Stelle an der Wand lagerte ein heller Kegel, kaum größer als mein Kopf. Und von dort, ohne jedes Bildnis, ohne jede Erscheinung jetzt, sprühten wie zersplittert vereinzelte Strahlen.

In der großen Höhle unten war alles still. Keine Bewegung, kein Laut, nicht einmal das Rascheln von Kleidern.

Dann begann das Licht zu wandern. Langsam glitt der helle Kegel über die Kristallwand. Zitternd drückte ich mich gegen die spitzen Steine. Doch es gab kein Entkommen. Schritt für Schritt glitt der Strahlenfinger über die Rundung vor und berührte meine Schulter, meinen Kopf. Ich duckte mich, krümmte mich zusammen. Wie in aufgewirbelter Wasserlache jagte mein Schatten über die Hohlkugel hinweg.

Das Licht verharrte glitzernd auf der Stelle. Und erlosch plötzlich. Das Glühen der Kerze blieb: ein stetes, gelbes Glimmen auf der anderen Seite der Fellspalte.

„Komm heraus.“, klar und deutlich klang der Befehl. Und gefügig kroch ich über die scharfen Kristalle hinweg durch den Spalt. Draußen, auf dem Felsabsatz in der eigentlichen Höhle, richtete ich mich auf und lehnte mich mit dem Rücken an die Wand, in der Hand meinen Dolch.

Er stand zwischen mir und der Kerze, eine, wie mir schien, riesige Gestalt in grobgewebtem gewand. Die Kerze wob einen hellen Kranz um sein Haupt. Das Haar wirkte grau und er trug einen Bart. Sein Gesicht war nicht zu erkennen. Die rechte hand hielt er in der Falte seines Gewandes. Ich wartete angespannt...

Er sprach im gleichen Ton wie zuvor: „Lass deinen Dolch und komm herab.“

„Zeigt mit erst Eure rechte Hand.“, sagte ich.

Er zog sie hervor und streckte sie aus. Sie war leer. „Dann geht mir aus dem Weg.“, sagte ich und sprang.

Mit wenigen setzten war ich an ihm vorbei und strebte auf den Ausgang zu, ehe er auch nur eine Bewegung machen konnte. Aber er versuchte es auch gar nicht. Als ich schon an der Öffnung die Zweige beiseite bog, hörte ich hinter mir sein Lachen. Unwillkürlich blieb ich stehen und drehte mich um. Und von hier, im Licht, das jetzt die Höhle füllte, sah ich ihn deutlich. Er war ein alter Mann mit grauem Haar, das ihm von oben schon dünn strähnig über die Ohren fiel. Grau war auch sein gerader, grob gestutzter Bart. Seine Hände wirkten schwielig mit eingefressenen Schmutzspuren, doch waren die Finger früher offensichtlich wohlgeformt gewesen. Jetzt krochen, wurmgleich gebläht, knotige Adern über sie hinweg. Doch es war sein Gesicht, das mich gefangen nahm: schmal, ausgehöhlt, fast wie ein Totenschädel,  mit hoher, gewölbter Stirn und buschigen grauen Brauen, jäh hervorspringend über die Augen, die ihn altlos erscheinen ließen. Dicht beieinanderliegend, schauten sie mit großem und klarem Blick aus schwimmendem Grau. Seine Nase war messerscharf. Der Mund, lippenlos fast, dehnte sich in breitem Lächeln über erstaunlich gute Zähne.

„Kommt zurück. Ihr braucht keine Furcht zu haben.“

„Ich habe keine Furcht.“, ich ließ die Zweige los und ging mit gespielter Tapferkeit zurück. Wenige Schritte vor ihm blieb ich stehen. „Warum sollte ich mich vor Euch fürchten, wisst Ihr denn, wer ich bin?“

Grübelnd betrachtete er mich einen Augenblick. „Lasst mich nachdenken. Dunkle Haare, dunkle Augen, der Körper einer Fee und das benehmen eines jungen Wolfes... oder sollte ich besser sagen, eines jungen Falken?“

Ich ließ meinen Dolch sinken. „Dann kennt Ihr mich also?“

„Nun, vielleicht ahnte ich, dass Ihr eines Tages kommen würdet. Vielleicht wusste ich sogar, dass heute jemand in der Höhle war. Und vielleicht war es das, was mich so früh zurückkehren ließ.“

„Ihr habt gewusst, dass jemand in der Höhle war? Ach, natürlich, Ihr habt ja die Fledermäuse gesehen.“

„Das kann schon sein.“

„Fliehen die immer davon?“

„Nur wenn ein Fremder kommt. Euer Dolch, kleine Herrin.“ Ich steckte ihn in den Gürtel zurück. „Niemand nennt mich Herrin. Ich bin ein Bastard. Also gehöre ich keinem, außer mir selbst. Ich heiße Mynona Odry, oder einfach nur Myrlin. Aber das wisst Ihr ja schon.“

„Ich heiße Galapas. Habt Ihr Hunger?“

„Ja.“, sagte ich. Und stockte bei dem Gedanken an den Schafschädel und die toten Fledermäuse. Er begriff. Die grauen Augen zwinkerten belustigt. „Früchte und Honigkuchen? Und süßes Wasser von der Quelle? Selbst in des Königs Haus wird man kaum besser speisen.“

„Dort wäre ich zu dieser Stunde bestimmt schlechter dran.“, sagte ich offen, „Seid gedankt, Sir. Ich will gerne mit Euch essen.“

Er lächelte. „Auch mich nennt niemand Sir. Und genau wie Ihr gehöre ich niemandem außer mir selbst. Geht hinaus und setzt Euch in die Sonne. Ich bringe, was wir brauchen.“

Die Früchte waren Äpfel, die genau so schmeckten wie jene, aus meines Großvaters Obstgarten. Unwillkürlich warf ich meinem Gegenüber einen verstohlenen Blick zu. Hatte ich ihn vielleicht schon einmal irgendwo gesehen, am Flussufer oder in der Stadt?

„Habt Ihr eine Frau?“, fragte ich, „Wer hat die Honigkuchen gemacht? Sie schmecken ausgezeichnet.“

„Nein, ich habe keine Frau. Wie ich schon sagte: Ich gehöre keinem außer mir selbst. Ihr werdet noch sehen, Myrlin, wie Euer ganzes Leben lang Gitter um Euch errichtet werden. Aber Ihr werdet ihnen auch nach Blieben entkommen, bis Ihr sie aus freien Stücken selbst errichtet, um in ihrem Schatten zu schlafen... Die Honigkuchen bekomme ich von der Frau des hirten, die genug für drei macht, und sie sind ja so gut, dass man auch Gäste damit bewirten kann.“

„Dann seid Ihr ein Eremit? Ein heiliger Mann?“

„Sehe ich wie ein heiliger Mann aus?“

„Nein.“ Er sah wirklich nicht so aus. Jene heiligen Einsiedler zogen oft predigend und bettelnd durch die Stadt, die einzigen Menschen, vor denen ich mich damals fürchtete. Merkwürdige, hochmütige und anmaßende gestalten mit verrückten Augen. Der Geruch, den sie verbreiteten schien mit dem Abfall der Schlachthäuser verwandt, und oft genug wusste man überhaupt nicht, welchem Gott sie überhaupt dienten. Einige, so flüsterte Mann, seien geächtete Druiden, die ihrem Amt nicht mehr nachgehen durften.

„Aber da draußen am Quell war doch ein Gott.“, warf ich ein. „Ja, Mynona, er leiht mir seinen Quell und seinen heiligen Hügel und ich bezeige ihm den schuldigen Dank. Es ist immer ratsam, der Gottheit eines Ortes Verehrung entgegenzubringen. Am Ende sind sie noch alle ein und der selbe. Glaubst du an Götter?“, fragte er beiläufig. Ich schüttelte zaghaft den Kopf, nicht sicher, was er erwartet hatte und sagte dann bestimmt: „Nein.“ Als hätte er keine andere Antwort erwartet lächelte er.

„Wenn Ihr kein Eremit seid, was seid Ihr dann?“, meine Mutter, Cynric und Moravik hatte mich schon unzählige Male gewarnt, vor Gestalten, Vagabunden und anderen Gestalten ja fern zu bleiben, doch bei Galapas war mir gar nicht in den Sinn gekommen, er könne irgendjemandem (ausgenommen den Fledermäusen) Gewalt antun.

„Im Augenblick Lehrer.“

„Ich habe einen Lehrer. Er kommt aus Massilia, was aber auch schon in Rom. Wen lehrt Ihr denn?“

„Bis jetzt niemanden. Ich bin alt und müde und möchte hier ganz für mich studieren.“

„Was sollen die toten Fledermäuse dort drinnen auf der Truhe?“

„Ich studiere ihren Körperbau und die Art, wie sie fliegen und sich paaren und sich ernähren. Wie sie leben. Und das nicht nur bei Fledermäusen, sondern bei allen Tieren und Pflanzen. Auch bei Vögeln und bei Fischen.“

„Aber das ist doch kein Studieren!“, rief ich überrascht, „Demetrius und Chronos, meine Lehrer, sagen, es sei nur Zeitverschwendung Vogel, Fische und Eidechsen zu beobachten. Unsinnige Träumerei. Nur Cynric, ein Freund von mir, hat mal gesagt, ich soll die Ringeltauben studieren.“

„Warum?“

„Weil sie so still sind und so flink und vor allem davon flüchten. Zwei Eier legen sie nur und werden von allen gejagt, und trotzdem überstehen sie alles.“

„Und man sperrt sie auch nicht ein.“, er trank etwas Wasser und sah mich dann an: „Ihr habt also schon zwei Lehrer gehabt. Könnt Ihr auch lesen?“

„Natürlich.“

„Auch Griechisch?“

„Ja, ein wenig.“

„Dann folgt mir.“

Wir betraten die Höhle, wo er die Kerze wieder anzündete und dann in die hand nahm. Er hob den Deckel der Truhe. Darin sah ich eine große Anzahl an Schriftrollen. Er nahm eine, schloss die Truhe wieder und entrolle das Papier.

Voller Entzücken sah ich, was es war: die etwas zittrige und dennoch deutliche Zeichnung einer Fledermaus. Am Rande standen griechische Wörter, die ich, für den Augenblick selbst Galapas’ Gegenwart vergessend, sofort zu buchstabieren begann. Bald spürte ich seine Hand auf meiner Schulter. „Gehen wir nach draußen.“ Er zog die Nägel heraus, mit denen einer der trockenen, lederartigen Körper auf dem Truhendeckel befestigt war, und hob die tote Fledermaus vorsichtig hoch. „Blas die Kerze aus. Wir werden uns dies zusammen anschauen.“ Und so, ohne weitere Fragen und ohne weitere Umstände begann meine erste Unterrichtsstunde bei Galapas.

 

Erst als die Sonne, tief über dem Flügel des Tals lange Schatten den Hang hinauf schickte, erinnerte ich mich an jenes andere Leben, das auf mich wartete und den weiten Heimweg.

„Ich muss aufbrechen. Wenn ich zum Abendessen zu spät komme, schöpft man gewiss Verdacht.“

„Und du wirst ihnen nichts erzählen?“

„Nein, sonst dürfte ich gewiss nicht wieder herkommen.“

Er lächelte still. Und obwohl ich mir sicher war, er würde es mir nicht abschlagen, fragte ich aus Höflichkeit: „Ich darf doch wiederkommen, nicht wahr?“

„Natürlich.“

„Wann das sein wird, weiß ich leider nicht. Ich meine, es lässt sich schwer sagen, bei welcher Gelegenheit ich wieder – frei bin.“

„Mach dir keine Sorgen. Ich werde rechtzeitig wissen, wann du kommst. Und hier sein.“

„Wissen? Aber wie denn?“

Er rollte das Papier mit langen, schlanken Fingern zusammen.

„Genauso wie heute.“

„Ach ja, richtig. Wenn ich die Höhle betrete flüchten die Fledermäuse.“

„So wird es sein.“

Ich lachte vergnügt. „Du bist schon ein sonderbarer Mensch, Galapas. Rauchzeichen mit Fledermäusen! Niemand würde mir das glauben, nicht einmal Cynric.“

„Du wirst auch ihm nichts verraten?“

Ich nickte. „Ihm nicht und auch sonst niemandem. Aber jetzt muss ich aufbrechen. Auf Wiedersehen, Galapas.“

„Auf Wiedersehen.“

 

Und so geschah es dann auch in den folgenden Tagen und Monaten. Wann immer ich konnte ritt ich ein- bis zweimal das Tal hinauf zur Höhle. Er schien recht genau zu wissen, zu welchem Zeitpunkt ich kam, denn meist wartete er mit ausgebreiteten Schriftrollen vor der Höhle auf mich; und war er einmal nicht da, so rief ich ihn durch die davon flatternden Fledermäuse herbei. Mit der Zeit jedoch gewöhnten sich die Tiere an mich, und ich musste sie erst durch ein oder zwei gezielte Steinwürfe hinausscheuchen. Später dann erübrigte sich dies. Im Palast nahm man den ganzen Sommer über meine häufige Abwesenheit mehr oder weniger ungefragt hin und ich konnte mit Galapas von Tag zu Tag feste Verabredungen treffen.

Seit Ende Mai Olwens Sohn geboren war, hatte Moravik mich in zunehmendem Maße mich selbst überlassen; und als dann im September auch Camlans Tochter zur Welt kam, machte sie sich zur Herrin über das königliche Kinderzimmer und ließ mich gleichsam völlig fallen. Meine Mutter schien es zufrieden, ihre Zeit in Gesellschaft ihrer Frauen zu verbringen; ich sah kaum noch etwas von ihr. Die einzigen, mit denen ich am Hof in engerer Verbindung stand waren Demetrius (Chronos war von meinem Großvater geschnappt und auf der Flucht getötet worden) und Cynric. Demetrius hatte genug mit Dinias und den anderen zu kämpfen und Cynric war mein Freund. Und als solcher stellte er beim Absatteln meines Ponys keine neugierigen Fragen sondern scherzte höchstens augenzwinkernd, wo ich mich denn nur herumtriebe.

Im Lande herrschte Frieden; der König und sein Sohn standen gut miteinander; und ich selbst war dem äußeren Anschein nach nur allzu willig, in naher Zukunft ins Kloster zu gehen; bis auf die stunden bei Demetrius hatte ich keine Verpflichtungen und konnte meiner eigenen Wege gehen.

Cynric war zwar der Meinung, ich verwaise den ganzen Sommer über, doch auch er hatte tagsüber nie viel Zeit. War ich gerade nicht bei Galapas in der Höhle ritt ich durch die Hügel, um allein zu sein.

Im Tal traf ich nie auf einen Menschen. Der Schafhirte wohnte nur im Sommer dort, in einer armseligen Hütte am Waldrand. Andere Behausungen gab es nicht, und der Pfad unterhalb von Galapas’ Höhle wurde nur von Hirten und Schafen benutzt. Er führte nirgendwohin.

Galapas war ein ausgezeichneter Lehrer. Dennoch empfand ich die zeit bei ihm nie als Unterricht. Unterricht war das, was ich bei Demetrius und den Priestern meiner Mutter erfuhr (Sprachen und Geometrie beim einen, Religion bei den anderen).

Im Grunde schien er nur Geschichten zu erzählen, denen ich gebannt lauschte. Als junger Mann war er viel auf der anderen Seite der Erde gereist, in Äthiopien und Griechenland und Germanien und um das ganze Mittelmeer und er hatte viele fremdartige Dinge gesehen und gelernt. Oft waren sie von praktischem Nutzen und er unterwies mich darin: wie man Kräuter sammelte und trocknete und als heilmittel verwandte und wie man gewisse Pulver und Safte, auch giftige gewann. Er ließ mich Vögel und andere Getier studieren (oft fanden sich tote Kreaturen am Wege: Vögel und Schafe und einmal sogar ein Hirsch) und ich lernte viel über Körperorgane und Knochengerüst. Er zeigte mir auch, wie man blutende Wunden stillte und Knochenbrücke behandelte, wie man schlechtes Fleisch weg schnitt und die Wunde so säuberte, dass sie ordentlich verheilte, ja sogar (obschon dies erst später kam) wie man Fleisch und Sehnen näht, während das Tier mit Dünsten betäubt wird. Und ich weiß noch: Der erste Zauber, den er mich lehrte, war das Besprechen von Warzen – eine so mühelose Verrichtung, dass jeder sie vornehmen kann.

Eines Tages entnahm er der Truhe eine Schriftrolle, die er mit besonderer Sorgfalt ausbreitete.

„Weißt du, was dies ist?“

Ich hatte schon viele Skizzen gesehen und kannte mich gut mit ihnen aus. Diese Zeichnung jedoch sagte mir nichts. Sie war lateinisch beschriftet, und ich erkannte die Wörter Äthiopien und Glücksinseln und, link in einer Ecke, Britannien. Die Linien schienen wirr durcheinander zu laufen, und überall fanden sich, winzigen Maulwurfshügeln gleich, gewölbte Kurven.

„Das – das sind wohl Berge.“

„Ja“

„Dann ist dies ein Bild der Welt?“

„Eine Landkarte“

Es war das erste Mal, dass ich so etwas sah, und obschon mir anfangs alles dunkel und verschlüsselt schien, begriff ich bald, dank Galapas’ Erklärungen, wie man Zeichen zu sehen hatte: Wie ein Vogel aus großer Höhe blickte man hinab auf die Erde mit ihren Straßen und Strömen, weit verzweigt wie die Fäden eines Spinnwebs. Mühelos konnte man von Rom nach Massilia oder von Londinium nach Camelot reisen, ohne auch nur einmal nach dem Weg zu fragen. Diese Kunst wurde von dem Griechen Anaximander entwickelt, obwohl manche behaupteten, dass die Ägypter sie als erste beherrschten. Diese Karte hier war eine Kopie eines Werkes von Ptolemäus von Alexandrien, und Galapas trug mir schließlich auf, meine Schreibtafel zu holen und eine Skizze von meinem Land anzufertigen.

Als ich den letzten Strich getan hatte, warf er einen Blick darauf. „Was ist dies hier in der Mitte?“

„Maridunum.“, sagte ich überrascht, „Erkennst du es denn nicht, Galapas? Schau doch, hier ist die Brücke und der Fluss und hier die Straße, die über den Marktplatz führt.

„Das sehe ich. Aber ich habe dich gebeten, dein Land zu zeichnen, nicht deine Stadt.“

„Ganz Wales? Aber wie soll ich wissen, was dort oben liegt? Ich war noch nie dort!“

„Warte, ich will es dir zeigen.“

Er legte die Schreibtafel beiseite, nahm einen spitzen Stock und begann, jeden Strich und jeden Punkt erläuternd, in die nackte Erde zu kerben. Was unter seinen Händen entstand, war ein lang gestrecktes Dreieck, das nicht nur Wales wiedergab, sondern ganz Britannien, das raue Land jenseits der Hadrianwalls, wo die Wilden lebten, mit eingeschlossen. Er zeigte mir Berge und Flüsse und Straßen und Städte und, Londinium und Caleva und die dicht gedrängten Ortschaften unten im Süden bis hin zu jenen Städten und Festungen am Ende des Straßennetzes, Segontium, und Carleon und Eboracum und die Städte unmittelbar am Wall. Und er sprach, als sei es ein einziges Land, obschon ich ihm doch wenigstens ein Dutzend Könige hätte nennen können, die in verschiedenen Landstrichen herrschten. Ich erinnere mich daran nur auf Grund von Begebenheiten, die später folgten.

Der Herbst wich rasch dem Winter und als die Sterne schon zeitig am Himmel funkelten, lehrte er mit ihre Namen und sprach von ihrer Macht. Genau wie man eine Landkarte zeichnete könnte man auch eine Sternenkarte anfertigen, erzählte er und erklärte dann, dass die Sterne, indem sie sich bewegten Musik machten. Er selbst verstand sich nicht auf diese Kunst. Doch als er erfuhr, dass Olwen mich darin unterwiesen hatte, half er mir, eine Harfe zu bauen. Ein kleines, recht primitives Instrument aus Buchen- und Weidenholz, bespannt mit Schweifhaaren meines Ponys, obwohl, wie Galapas meinte, der Harfe einer Prinzessin Saiten aus Gold oder Silber gebührten. Doch ich verwendete auch durchbohrte Kupfermünzen (womit ich die Saiten befestigte) und geglättete Knochen (als Stimmwirbel) und schnitzte in den Säulenhals das Abbild eines Falken, Merlinfalken, wie ich ihn später nannte. Mich dünkte mein Instrument schöner als Olwens Harfe, und es ließen sich auf ihre auch süßliche Töne entlocken, jenes sanfte Wispern, das seine Weisen aus der Luft selbst zu empfangen schien. Da mir der Palast nicht sicher genug schein, ließ ich mein Instrument in der Höhle. Dort hatte ich ja den Gesang der Vögel im Birnenbau und hin und wieder war auch Olwens melodische Stimme zu hören. Und wenn die Vögel schwiegen und eisiges Licht den Nachthimmel überhauchte, so lauschte ich angespannt auf die Musik der Sterne.

Und eines Tages, als ich sechs Jahre alt war, sprach Galapas von der Kristallhöhle.

 

Oft stellen Kinder über jene Dinge, die ihnen am wichtigsten sind, keine Fragen. Instinktiv scheinen sie zu wissen, dass hier etwas ist, dass ihr Begriffsvermögen noch übersteigt. Doch insgeheim nähren sie ihre Phantasie, bis jenes Unfassbare alle Grenzen sprengt und wie Zauber oder auch ein Nachtmahr über ihrer Seele liegt.

So war es bei mir mit der Kristallhöhle.

Nie hatte ich zu Galapas von meinem ersten Erlebnis dort gesprochen. Ja, fast verschwieg ich mir selbst, was dann und wann in Licht und Feuer vor mir auftauchte. Träume, beschwichtigte ich mich: Erinnerungen jenseits aller Erinnerungen, ein eigentümliches Spiel der Phantasie – wie jene Stimme, die mir Gorlans Namen verraten hatte oder jener Blick, dem das Gift in der Aprikose nicht verborgen geblieben war. Und da Galapas seinerseits nie von der inneren Höhle sprach und der Bronzespiegel immer bedeckt blieb, wenn ich dort war, stellte ich keine Fragen.

An einem frostklirrenden Wintertag ritt ich wieder einmal den gewohnten Weg. Vor dem Maul meines Ponys wölbte sich die Atemluft wie Drachenhauch. Das Tier trottete rasch dahin und verfiel schließlich in Trab. Es war seit einer weile nicht mehr das falbe Pferdchen meiner frühen Kindheit, sondern ein kleiner, walisischer Grauschimmel, den ich stolz Raven nannte. Er gehörte zu jener Rasse von Gebirgsponys, die wild in den Hügeln leben und sich manchmal mit Pferden römischer Herkunft kreuzen. Sie sind zäh und schnell und sehr schön mit ihrem schmalen Kopf, den kleinen Ohren und dem kräftig gebogenen Hals. Raven war von meinem Vetter Dinias gefangen und gezähmt worden. Nach anderthalb Jahren schonungslosen Reitens hatte Dinias dann genug gehabt und wollte lieber einen richtigen Hengst. Unter mit benahm sich Raven zuerst recht störrisch, aber bald verlor sich seine Furcht vor mir und nach dem harten, ruckenden Zuckeltrab, den ich von meinem früheren Pony gewohnt war, schien seine Gangart geradezu seidenweich.

Inzwischen hatte ich hier im Tal auch einen Unterschlupf für mein Tier gefunden. Am Felsen unterhalb der Höhle wuchs ein Weichdorndickicht, in dessen Mitte Galapas Steine aufgeschichtet hatte. Die Rückwand bildete der Fels selbst. Äste und Adlerfarn formten ein dichtes Dach, und dieser kleine Stall bot dem Tier, zumal im Winter, eine warme Zuflucht, auch blieb es fremden Augen verborgen. Dieser Zwang zur Heimlichkeit war ein weiterer Zwang, über den wir nie gesprochen hatten. Aber ich begriff auch so, dass Galapas mir auf seine Weise half, Camlans Pläne, soweit sie mich betrafen, zunichte zu machen (obschon ich mit fortschreitender Zeit mehr und mehr auf mich gestellt war), und so ließ ich jede erdenkliche Vorsicht walten, indem ich mich etwa auf einem halben Dutzend verschiedener Wege dem Tal näherte und für neugierige Fragen am Hofe immer eine glaubwürdige Ausrede zur Hand hatte.

Ich führte Raven in den Verschlag, nahm ihm Sattel und Zaumzeug ab und warf ihm das Futter aus der Satteltasche vor. Dann zog ich einen kräftigen Ast vor den Eingang und klomm rasch den Weg zur Höhle empor.

Galapas war nirgends zu sehen, konnte jedoch noch nicht lange fort sein, denn auch dem offenen Metallofen, der innen beim Eingang stand, lag noch Glut. Ich schürte sie, bis die Flammen emporzüngelten, und ließ mich dann ganz in der Nähe mit einer Schriftrolle nieder. Eine Verabredung hatte ich mit Galapas für heute nicht getroffen, aber da mir viel Zeit blieb ließ ich die Fledermäuse in Frieden und las eine weile still für mich.

Im Laufe der Zeit war ich schon oft allein in der Höhle gewesen, so vermag ich nicht zu sagen, warum mich gerade an diesem Tag Neugierde trieb. Jedenfalls legte ich die Schriftrolle beiseite, ging an dem verdeckten Spiegel vorbei und spähte hinauf zu dem Felsspalt, durch den ich vor zwei Jahren geflüchtet war. Ob sie wirklich so aussah, wie ich sie in Erinnerung hatte? Ob die Kristalle und die in ihnen funkelnden Bilder (der Drache und das Mädchen) wohl nichts waren als Ausgeburten meiner erregten Phantasie? Irgendetwas Unnennbares, Neugier und doch mehr als Neugier, trieb mich jetzt. Rasch kletterte ich auf den Felsabsatz und spähte, mich auf Hände und Knie niederlassend, durch den Spalt.

Die innere Höhle war tot und kalt. Nicht der geringste Schimmer vom gezüngelten Feuer fing sich darin. Vorsichtig kroch ich vorwärts, bis meine Hände auf die scharfen Kristalle trafen. Ja, es gab sie. Sie waren nur allzu wirklich. Mit wachsamen Augen und Ohren gegen Galapas’ überraschende Rückkunft gewappnet, glitt ich rasch wieder hinaus, griff nach meinem Umhang, den ich neben dem Feuer abgelegt hatte und kletterte und kroch eilends durch den Spalt in die innere Höhle zurück, wo ich den Umhang ausbreitete.

Und so ließ es sich hier recht beharrlich verharren. Still lag ich und lauschte auf das vollständige Schweigen ringsum. Allmählich gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit. Mattes graues Glimmern kam von den Kristallen, doch von jenem zauberischen Licht, dass damals geglüht hatte, fand sich keine Spur.

Plötzlich spürte ich einen leichten Hauch kalter, bewegter Luft, sie selbst bis zu mir in dieses Verlies drang. Und dann hörte ich Schritte, die sich über eisiges Felsgestein näherten...

Als Galapas wenige Minuten später in die Höhle trat, saß ich beim Feuer, in der Hand mein Lehrbuch, der Umhang lag neben mir ausgebreitet.

Erst kurz vor Einbruch der Dunkelheit legten wir unsere Bücher beiseite. Doch immer noch machte ich keine Anstalten zu gehen. Das Feuer loderte jetzt. Wärme und flackerndes Licht erfüllten die Höhle. Eine Zeit lang saßen wir schweigend.

„Galapas, ich möchte dich etwas fragen.“

„Ja?“

„Erinnerst du dich an den Tag, an dem ich das erste Mal herkam?“

„Sehr deutlich.“

„Du wusstest, dass ich kam. Du hattest mich erwartet?“

„Habe ich das gesagt?“

„Ja, das hast du, und du weißt es auch. Aber wie konntest du nur von mir wissen?“

„Ich sah dich ja in der Kristallhöhle.“

„Oh, gewiss. Du hattest den Spiegel so gedreht, dass das Kerzenlicht auf mich traf, und du sahst meinen Schatten. Aber das meine ich nicht. Woher wusstest du, dass ich an jenem Tag das Tal heraufkam?“

„Eben diese Frage habe ich dir beantwortet, Myrlin. Ich wusste es, weil ich dich, ehe du zur Höhle kamst, im Spiegel sah.“

Wir sahen einander schweigend an. Zischelnd flackerten die Flammen zwischen uns. Ich nickte stumm. Es war ein Geheimnis, dass ich längst schon geahnt hatte.

Nach einer Weile sagte ich: „Wiest du’s mir zeigen?“

Er musterte mich einen Augenblick und erhob sich dann: „Es ist an der Zeit. Zünde die Kerze an.“

Ich gehorchte. Golden wuchs das kleine Licht und langte empor in die Schatten, die vom flackernden Feuer geworfen wurden.

„Enthülle den Spiegel.“

Ich zog am darüber gebreiteten Tuch. Wolligweich fiel es mir in die Arme und ich legte es auf Galapas’ Bett an der Wand.

„Jetzt klettere auf den Felsabsatz und lege dich hin.“

„Auf den Felsabsatz?“

„Ja. Leg dich auf den Bauch mit dem Kopf zum Spalt, so dass du hineinsehen kannst.“

„In die Kristallhöhle selber soll ich nicht?“

„Nimm deinen Umhang, damit du eine Unterlage hast.“

Halb schon auf dem Fels drehte ich mich um und sah, dass er lächelte.

„Du weißt also bescheid, Galapas?“

„Ja, ich weiß, dass du vorhin in der Kristallhöhle warst. Aber eines Tages werde ich dir selbst mit dem Blick nicht mehr folgen können. Jetzt lege dich hin und beobachte still.“ Ich streckte mich auf dem flachen, breiten Felsstück aus, Kopf auf den gebeugten Arm gestützt, Blick aus den Spalt gerichtet.“

Unter mir sagte Galapas leise: „Schalte deine Gedanken aus. Ich halte die Zügel in der Hand. Noch ist dies nicht für dich. Beschränke dich aufs Schauen.“

Ich hörte, wie er zur Wand ging: Er trat zum Spiegel.

 

Die innere Höhle war größer, als ich angenommen hatte. Sie streckte sich so weit empor, dass mein Blick der Windung nicht mehr folgen konnte. Der Boden wirkte glatt, wie flachgeschliffen durch langen Gebrauch. Und selbst mit den Kristallen hatte ich mich getäuscht. Das Glimmern, das den Schein der Fackeln widerspiegelte, kam von Wasserlachen auf dem Boden und von einer feuchten Quelle an der Wand, über die ein riesiger Quell zu rieseln schien.

Die Fackeln: In Felsrisse waren sie gezwängt, billiges Zeug, minderwertiger Plunder, der trübe in stickiger Luft brannte. Und obwohl es eisig kalt war, bis auf einen schmalen Lederschurz, mit nackten Leibern. Schweiß strömte ihnen über Schultern und Rücken, während sie auf den Felsen loshackten, stetes, unablässiges Pochen, das nicht den leisesten Laut hervorrief. Muskeln spannten und ballten sich. Auf dem Boden, mit dem Rücken lang in die Wasserlachen gestreckt, lagen zwei Männer, die mit kurzen, kräftigen Hieben nach oben auf den tief überhängenden Fels einhämmerten. Auf dem Handgelenk des einen sah ich die schweißglänzende Narbe eines Brandmals.

Von hartem Husten geschüttelt, krümmte sich einer der Arbeiter zusammen und raffte sich, einen scheuen Blick über die Schulter werfend, sofort wieder hoch. Heller wurde es in der Höhle. Von einer quadratischen Öffnung, hinter der ein gewundener Tunnel aufschimmerte, näherte sich Fackellicht.

Schmutzverkrustet und halbnackt erschienen vier Knaben, die große Körbe trugen, Hinter ihnen kam ein Mann in braunem, feucht verflecktem Gewand. Er war es, der die Fackel trug. In der anderen Hand hielt er eine Schreibtafel, auf die er mit gerunzelten Brauen starrte, während die Knaben mit ihren Körben zu der Felswand liefen und abgehauenes Geröll hineinfüllten. Der Mann, Vorarbeiter offenbar, trat zu ihnen und betrachtete die Felswand mit hocherhobener Fackel. Dankbar für die kurze Atempause bildeten die Arbeiter einen Kreis um ihn. Einer der Männer sprach. Er deutete auf die behauene Wand und dann auf jene Stelle am anderen Ende der Höhle, von der unablässig Wasser rieselte.

Die Knaben schleppten ihre gefüllten Körbe fort. Der Mann im braunen Gewand zog achselzuckend eine Silbermünze hervor und schleuderte sie mit geübter Bewegung in die Luft. Die Arbeiter reckten die Hälse. Und fügsam nahm der Mann, der mit dem Vorarbeiter gesprochen hatte, wieder seine Hacke in die Hand und schwang sie gegen den Fels.

Unter seinen Hieben öffnete sich ein Spalt und klaffte auf, weiter und weiter. Wirbelnd stürzte Erde hinein und das Licht erlosch. Und nach dem herabrasselnden Staub kam das Wasser.

 

„Hier, trink das!“, sagte Galapas, „Ein Gebräu von mir. Wird dir gut tun. Trink nur.“ „Danke Galapas. Die Höhle ist ja wirklich aus Kristall. Im – im Traum sah ich sie eben ganz anders. „Denk jetzt nicht daran. Wie fühlst du dich?“ „Eigenartig. Ich kann’s nicht erklären. Bis auf die Kopfschmerzen fehlt mir nichts, aber ich fühle mich ausgesogen. Wie ein leeres Schneckengehäuse. Oder nein. Wie ein Schilfrohr ohne Mark.“ „Ein Spielzeug der Winde. Ja. Komm jetzt ans Feuer.“

Als ich wieder auf meinem Platz saß, einen Becher heißen Wein in der Hand, fragte er: „Wo warst du?“

Ich berichtete ihm, was ich gesehen hatte, aber als ich ihn dann um eine Erklärung dafür bat, schüttelte er den Kopf. „Ich fürchte, dass ich dir damit nicht dienen kann. Ich weiß selbst nicht, was es zu bedeuten hat. Aber du musst jetzt aufbrechen. Du hast wahrscheinlich keine Ahnung, wie lange du dort gelegen und geträumt hast. Der Mond steht bereits am Himmel.“

Ich erhob mich. „Schon? Dann wird man im Palast wohl nach mir suchen. Sicher ist das Abendessen schon vorbei.“ „Noch sucht niemand nach dir. Denn inzwischen ist einiges geschehen, wie du selbst herausfinden wirst. Sorge dafür, dass du nichts versäumst.“

„Wie meinst du das?“ „So, wie ich’s sage. Setze alles daran, den König zu begleiten. Hier, nimm deinen Umhang.“ Er warf ihn mir zu. „Der König verlässt Maridunum?“ „Ja, doch nur für eine Weile. Wann er zurückkehren wird weiß ich allerdings nicht.“ „Er wird niemals bereit sein, mich mitzunehmen.“ „Nun, das ist deine Sache. Dein Stern, Myrlin Odry, wird dich nur begleiten, wenn du seinen Weg wählst und was du suchst wirst du erst wissen, wenn du’s am richtigen Ort gefunden hast. Und dazu gehört Mut. Wickle dich in deinen Umhang ein, ehe du gehst. Draußen ist es kalt.“

Ich gehorchte. „Galapas, während ich mir bei meinem Traum von Sklaven in einem dummen Bergwerk Kopfschmerzen geholt habe, hast du gesehen, was wirklich geschieht. Wann bringst du mir endlich bei, zu sehen, was du siehst?“ „Nun, deine erste Probe kannst du gerne haben. Wenn du dich mit deinem Pony nicht beeilst, sehe ich, dass dich die Wölfe fressen.“ Er lachte wie über einen gutgelungenen Scherz. Ich lief rasch aus der Höhle, um Raven zu satteln.

 

Die Sichel des Mondes warf nur ein fahles Licht über den Pfad. Ungeduldig tänzelte Raven und strebte mit gespitzten Ohren heimwärts, so dass ich Mühe hatte, das Tier im Zaum zu halten, denn der Weg war vereist und ich hatte Angst vor einem Sturz. Doch Galapas’ Warnung drang mir immer noch in den Ohren und so ließ ich mein Pony geschwinder traben, als eigentlich ratsam war – bis wir dann bei der Mühle auf den Treidelpfad gelangten.

Doch endlich hatte ich freie Sicht und trieb Raven zu vollem Galopp an.

Als wir uns der Stadt näherten sah ich, dass irgendetwas im Gange war. Hinter der Stadtmauer, mit ihren längst geschlossenen Toren, flammte überall Licht. Fackeln loderten, Stimmen und Schritte hallten. Vor dem Tor, das zu den Stallungen führte, glitt ich aus dem Sattel. Doch wenn ich erwartet hatte, mich ausgesperrt zu finden, so fand ich mich angenehm getäuscht. Denn kaum stand ich, als schon das Tor aufschwang und Cynric, eine abgedunkelte Laterne in der Hand, mich hineinwinkte.

„Ich habe dich kommen hören. Den ganzen Abend liege ich schon auf der Lauer. Wo hast du bloß gesteckt, du unbändiges Feenkind. Hast heute wohl ganzen besonderen Schabernack ausgeheckt, was?“

„Oh, natürlich. Hat schon jemand nach mir gefragt? Hat man mich schon vermisst?“

„Nicht, dass ich wüsste. Die haben heute etwas anderes im Kopf als dich. Gib mir den Zügel, damit ich Raven erst einmal in der Scheune unterstelle. Im großen Hof herrscht mir jetzt zu viel Treiben.“ „Wieso, was ist denn los? Der Lärm ist ja meilenweit zu hören... Ist ein Krieg ausgebrochen?“ „Nein, aber dazu kann er durchaus noch kommen. Heute Nachmittag traf die Botschaft ein, dass der Großkönig sich auf dem Weg nach Segontium befindet, wo er ein oder zwei Wochen lagern wird. Morgen wird dein Großvater zu ihm reiten. Und daher ist hier alles in heller Aufregung.

„So ist das also.“ Ich folgte ihm in die Scheune, wo er das Pony absattelte, während ich aus einem Haufen einen Strohwisch zog, damit er das Tier abreiben konnte.“ „König Vortigern in Segontium? Wozu?“ „Um Köpfe zu zählen, heißt es.“ Er lachte heiser auf und begann das Pony mit Stroh zu bearbeiten. „Dann spricht man also von Krieg?“ „Von Krieg spricht man, seit Mordred in der Bretagne sitzt. Die Jahre kann man an dir abzählen, Myrlin. Mordred soll jetzt auch noch Truppen von seinem Ziehbruder Agravain von den Orkaden im Rücke haben. Abertausende Krieger von der anderen Seite des Hadrianwalls heißt es... Es gibt Dinge, über dir man besser nicht spricht.“

Ich nickte. Auch wenn niemals laut davon gesprochen wurde, wusste doch jeder, wie der Hohe König auf den Thron gelangt war: Während  König Arthus mit seinem Sohn Mordred krieg führte und die Tafelrunde immer machtloser wurde, sammelte Vortigern Gefährten, allen voran die barbarischen Sachsen, um sich und griff schließlich in den Krieg ein. Zwar vertrugen sich Vater und Sohn wieder, um den verräterischen Vortigern in seine Schranken zu weisen, doch dieser tötete Arthus und Mordred, seine Geschwister Lleu und Onenn und der klägliche Rest treuer Ritter mussten fliehen. Seit dem flammte Jahr für Jahr erneut das Gerücht auf, die drei Königskinder säßen in Benwick, und der edle Lancelot, der einst der treueste und tapferste Ritter Arthus’ war, bewaffne sie; dass Mordred nach Athen gegangen sei; dass Lleu Mietling des Ostkaisers sei oder seine Schwester bald die Kaiserin Konstantinopels persönlich; dass die drei mit einer viertausend Mann starken Streitmacht die britische Insel erobern und brandschatzen würde, oder dass sie friedlich wie die Erzengel kämen, um die Angelsachsen ohne einen Schwertstreich von den Ostküsten zu vertreiben. Doch über fünf Jahre waren nun inzwischen vergangen und nichts war geschehen. Alles Gerede vom Kommen des neuen Pendragon glich jetzt eher einer Legende – so, wie man etwa vom zweiten Erscheinen Jesu Christi sprach, obschon meine Mutter, als mich diesen Vergleich wiedergab, vor Zorn außer sich geriet.

„Oh ja.“, sagte ich, „Mordred kommt wohl wieder einmal, nicht wahr? Aber im Ernst, Cynric: Was will der Großkönig in Nordwales.“ „Das habe ich doch gesagt. Um vor dem Frühjahr seine Verbündeten zusammen zu trommeln, er und seine angelsächsische Königin.“, sagte Cynric und spuckte aus. „Warum tust du das? Du bist doch selbst ein Angelsachse.“ „Das ist lange hier. Jetzt lebe ich hier. Schließlich war es doch dieses flachsköpfige Luder, dass vortigern zu seinem Verrat angestiftet hat. Aber wie dem auch sei. Du weißt do gut wie ich, dass die Nordmänner wie die Heidefeuer über das Land schwärmen, seit sie im Bett des Hohen Königs liegt. Wenn sie so ist, wie man sagt, dann wird keiner seiner erstgeborenen Söhne lange genug am Leben bleiben, um nach ihm den Thron zu besteigen.“ Leise sprechend warf er bei seinen letzten Worten einen verstohlenen Blick über die Schulter. Dann spuckte er wieder aus und machte das Zeichen. „Nun, all dies wei0t du ja – oder solltest du wissen. Aber wenn man natürlich seine ganze Zeit in Büchern oder bei den Geistern der hohen Hügel verbringt...“ „In den hohen Hügeln?“ „Ja, so sagt man allgemein. Aber mich interessiert das nicht. Herum mit dir!“, befahl er dem Pony und begann, es auf der anderen Seite mit Stroh trocken zu reiben, „Es heißt, dass die Angelsachsen wieder im Norden von Rutupiae gelandet sind, und diesmal sind ihre Forderungen selbst für Vortigern zu hoch. Im kommenden Frühjahr wird ihm nichts übrig bleiben, als zu kämpfen.“ „Und mein Großvater an seiner Seite?“ „Darauf hofft er natürlich. Lauf jetzt, wenn du noch etwas zu essen möchtest. Niemand wird dich bemerken. Als ich vor einer Stunde was wollte, war in der Küche der Teufel los.“ „Wo ist mein Großvater?“

„Keine Ahnung.“, er blickte mich schräg über den Pferderumpf hinweg an, „Warum möchtest du das denn wissen?“ „Weil ich mir ihm ziehen will.“

„Hah!“, machte er und warf dem Pony ein paar Häcksel hin. Es klang nicht gerade ermutigend. „Was ist denn dabei, wenn ich mit nach Segontium möchte?“ „Gar nichts, möchte ja selber mal gerne dort hin. Aber wenn du mit dem Gedanken spielst, den König darum zu bitten, dass er dich...“, er brach ab und fuhr dann fort: „Natürlich ist es langsam an der Zeit, dass du aus den Wänden hier hervorkriechst und dich ein wenig im Lande umschaust. Bloß wie? Da liegt der Hase im Pfeffer. Den König würde ich an deiner Stelle lieber nicht fragen.“ „Warum denn nicht? Er kann ja nicht mehr tun, als es mir abschlagen.“ „Beim Jupiter, was für ein kleiner Grünschnabel. Nicht mehr tun...? Wenn ich dir einen Rat geben darf, dann lass die Finger davon. Und versuch’s auch nicht bei Camlan. Zwischen ihm und seiner Frau hat’s gerade gekracht – das ist mit ihm nicht gut Kirschen essen. („Pfirsiche essen ist mit ihm ja generell nie gut.“, dachte ich mir dabei) – Außerdem meinst du das ja auch nicht im Ernst.“ „Ich werde nur Antworten finden, wenn ich meinen Stern dort finde, wohin er mir folgt.“ „schon recht. Aber manchmal leuchten Sterne doch so hell, dass man sich nur allzu leicht daran verbrennt. Möchtest du ein christliches Begräbnis?“ „Mal sehen... ich bin noch nicht getauft, ich kann’s mir noch aussuchen.“ Er lachte. „Du scheinst ja zu allem entschlossen. Na gut. Aber stärk dich erst, bevor du zum König gehst.“

„Das will ich tun.“, sagte ich und ging, um etwas zu essen auszutreiben. Später schlüpfte ich in meine beste Tunika und machte mich auf die Suche nach meinem Großvater...

Ich fand ihn in seinem Schlafgemach, wohlig auf seinem Stuhl ausgestreckt, vor einem prasselnden Holzfeuer, seine beiden Jagdhunde lagen zu seinen Füßen. Zu meiner Erleichterung war Camlan nicht bei ihm. Aber auf einem zweiten Stuhl sah ich eine Frau, Olwen, wie ich zuerst glaubte. Doch dann sah ich, dass es meiner Mutter war. Überrascht lächelte sie mich an. Einer der Wolfshunde pochte mit dem Schwanz auf den Boden, der andere öffnete glotzend ein Auge und schloss es wieder. Mein Großvater musterte mich mit zusammengezogenen Brauen, sagte jedoch freundlich: „Komm doch schon herein. Es zieht ja erbärmlich. Mach die Tür zu.“ Ich gehorchte und trat näher ans Feuer. „Darf ich Euch sprechen, Sir?“ „Nun, was möchtest du denn? Hol dir einen Schemel und setz’ dich.“

Ich rückte den Schemel, der bei meiner Mutter stand zwischen die beiden Stühle und nahm Platz. „Nun, ich habe lange nichts mehr von dir gesehen. (Er meinte damit, ich hatte mir lange keine Dummheiten mehr erlaubt) Studierst du immer noch fleißig?“ „Ja, Sir.“ Und da es heißt, dass Angriff die beste Verteidigung ist, kam ich ohne Umschweife zur Sache:

„Ich hatte heute Nachmittag frei und ritt aus, und...“ „Wohin?“ „Den Fluss entlang, ohne besonderes Ziel, nur um mich im Sattel zu üben.“ „Was ja auch nichts schaden kann.“ „Ja, Sir. Aber dadurch habe ich erst später erfahren, dass ein Bote hier war. Es heißt, dass Ihr Maridunum morgen verlasst, Sir?“ „Weshalb fragst du?“ „Weil ich mit Euch reiten möchte.“ „Ja, höre ich recht? Warum denn auf einmal?“

Ein wahrer Wirbel von Antworten schoss mir durch den Kopf, aber welche war die richtige? Aus den Augenwinkel gewahrte ich, dass meine Mutter mich mitleidig beobachtete. Mein Großvater wirkte gleichermaßen ungehalten, wie belustigt. Ich entschloss mich, die Wahrheit zu sagen: „Weil ich noch nie von Maridunum weg war, obwohl ich doch nun schon sechs Jahre alt bin. Und wenn ich nach Onkel Camlans Willen Gelehrte werde, bald ganz von der Welt abgeschlossen bin. Und...“

Drohend sengten sich die buschigen Brauen. „Willst du damit sagen, dass du keine Lust zum Studieren hast?“ „Doch, Sir. Ich studiere für mein Leben gern. Aber aus Büchern lässt sich viel mehr gewinnen, wenn man ein bisschen von der Welt gesehen hat, wirklich, Sir. Und wenn Ihr mir erlauben würdet, mit Euch zu...“ „Weißt du denn auch, dass es nach Segontium geht? Das ist kein fröhliches Jagdtreiben, sondern ein langer und harter Ritt, bei dem schlechte Reiter nichts zu suchen haben.“ Nur mit Mühe hielt ich dem durchdringenden Funkeln seiner Augen stand. „Ich habe viel geübt Sir. Und ich habe jetzt auch ein besseres Pony.“ „Ja, Dinias’ abgelegter Schinder. Ha! Das zeigt doch, wie du einzuschätzen bist. Nein, ich nehme keine Kinder mit!“ „Dann bleibt also auch Dinias hier?“ Meine Mutter schien zusammen zu zucken. Der Kopf meiner Großvaters fuhr zu mir herüber, seine Faust ballte sich um die Armlehne des Sessels doch er schlug nicht zu. „Dinias kann ich dort gebrauchen. Er wird das Lagerleben kennenlernen.“ „Und Briga? Darf sie Euch begleiten?“ Atemlos begann meine Mutter auf mich einzureden, doch eine Handbewegung meines Großvaters brachte sie zum Schweigen. Er musterte mich mit wachem, aufmerksamem Blick. „Briga ist mir als Braut von großem Nutzen, und der Gemahl auch, den ich für sie dort finden werde. Und du?“ Ich sah ihn an. Einen Trumpf hatte ich noch und den musste ich nun ausspielen. „Bis jetzt war ich Euch wohl nie sehr nützlich, Sir.“, begann ich langsam, „Aber  hat man Euch nicht gesagt, dass ich Angelsächsisch genau so spreche wie Walisisch, und dass ich Griechisch lesen kann und dass mein Latein besser ist, als das Eure?“ „Myrlin...“, hob meine Mutter an, doch ich achtete nicht auf sie. „Ich hätte auch noch Bretonisch und Cornisch hinzufügen können, doch dafür werdet Ihr in Segontium wohl kaum Verwendung haben.“ „Nun“, sagte mein Großvater sarkastisch, „dann nenne mir doch einmal einen Grund, warum ich mich mit König Vortigern in einer anderen Sprache als Walisisch unterhalten soll? Schließlich kommt er doch aus Guent.“

Aber der Klang seiner Stimme verriet mir, dass ich gewonnen hatte. Ich senkte den Blick vor den erbarmungslosen blauen Augen und fühle mich wie nach einer siegreichen Schlacht. Dann holte ich tief Luft und sagte sehr ergeben, sehr bescheiden: „Ich wüsste keinen, Sir.“ Er lachte schallend auf und stieß mit dem Fuß spielerisch gegen einen der beiden Jagdhunde zu seinen Füßen. „Nun, vielleicht rollt trotz deines Aussehen noch etwas von unserem Blut in deinen Adern. Immerhin hast du den Mut, dem alten Löwen sogar in seiner Höhle die Stirn zu bieten. Also gut, du darfst mitkommen. Wer ist dein Knecht?“ „Cynric.“ „Der Angelsachse? Befiehl ihm, alles zum Abritt vorzubereiten. Wir brechen beim ersten Morgengrauen aus. Nun, worauf wartest du noch?“

„Ich möchte meiner Mutter nur gute Nacht sagen.“ Rasch erhob ich mich von meinem Schemel und trat zu ihr. Als ich sie küsste, schaute sie überrascht auf. Es geschah selten genug.

Hinter mir sagte mein Großvater schroff: „Du ziehst nicht in den Krieg. In drei Wochen bist du wieder zurück. Und nun mach, dass du fort kommst.“ „Ja, Sir, Vielen Dank. Und gute Nacht.“

Draußen stand ich, gegen die Wand gelehnt, fast eine volle Minute, wahrend mein wild hämmerndes Herz sich allmählich beruhigte und der Knoten von Übelkeit nach und nach aus meiner Kehle wich. Ich werde nur Antworten finden, wenn ich meinen Stern dort finde, wohin er mir folgt... und dazu gehört Mut und Verstand. Ich schluckte hart, wischte mir den Schweiß von den Händen und lief davon, um Cynric zu suchen.