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Als mein Onkel Camlan auf die Burg meines Großvaters zurückkam, war
ich erst drei Jahre alt. Es war ein wärmer, sonniger Tag im Spätfrühling, wie
es viele in meiner Heimat gab. Meine Mutter saß mit ihren Damen in ihrer
Halle und webten und ich saß dabei. Während meine Amme Moravik das
Spindelschiffchen drehte saß ich auf dem Boden und spielte mit ein paar
Steinchen. Normalerweise hätte ich anders mit ihnen gespielt, aber der halbe
Hofstaat meiner Mutter saß in diesem Raum und obwohl ich keine der Frauen für
besonders geistesgegenwärtig hielt, beschloss ich, brav zu sein, denn meine
Mutter hätte es bestimmt bemerkt, was ich tat und mich gescholten. So war das Spiel nicht besonders spannend, doch ich war entschlossen,
zu bleiben, denn irgendetwas lag in der Luft. Damals wusste ich nicht genau,
ob es etwas war, das ich belauscht und nur noch wage im Hinterkopf wusste
oder ob ich es spürte, wie die Hunde das Erdbeben. Aber so langweilig es auch
war, ich blieb sitzen und tat, als würde mich das Spiel beschäftigen. Und es
lohnte sich in gewisser Weise. Moravik war schon fast am Spinnrad
eingeschlafen und bewegte das Schiffchen nur noch aus Routine. Von allen
Damen schien nur meine Mutter hellwach und saß aufrecht da. Ich freute mich
darüber, dass ihr langes, kupferrotes Haar offen war, denn das war selten und
stand ihr gut. Ich fand sie unheimlich schön, ihren hellen Teint, ihre
ebenmäßiges Gesicht, ihre hellen, warmen Augen... so anders als ich. Da
erwischte ich mich bei einem Gedanken, den ich oft hatte: Sah ich meinem
Vater ähnlich? Plötzlich hörten wir draußen die Hufgeräusche von Pferden. Etwa ein
Dutzend Pferde schätzte ich und sprang zum Fenster. Inzwischen waren auch die
anderen Frauen aus ihren Tagträumen erwacht und schreckten hektisch auf. Nur
meine Mutter blieb ruhig und besonnen an ihrem Webstuhl sitzen und so
beruhigte sich die schnatternde Schar wieder. Draußen entdeckte ich die
Reiter. „Es ist mein Onkel Camlan!“, rief ich. Er war ein hoch gewachsener
Mann, das gleiche Haar wie meine Mutter und mein Großvater, die gleichen,
lebendigen Augen wie meine Mutter und die Statur eines Kriegers, so weit ich
das beurteilen konnte. Hinter ihm trugen zwei seiner Soldaten sein Banner.
Sein kleines Gefolge bestand hauptsächlich aus Männern, doch ich konnte auch
zwei Kriegerinnen darunter entdecken. „Stimmt es, dass er die Tochter des
Hohen Königs heiratet? Großvater zwingt ihn dazu, stimmt das?“, fragte ich.
Mit einem heftigen Ruck zog mich meine Amme vom Fenster weg und begann mich
hektisch zu kämmen. „Denke dir doch nicht immer solche Geschichten aus!“,
wies mich Moravik streng zu recht. „Ich hab sie mir nicht ausgedacht.“
„Behalte deine Ohren im Auge, sonst nimmt es mit dir einmal ein übles Ende.“,
schalt sie mich weiter. Meine Mutter bedeutete uns mit einer einzigen
Handbewegung still zu sein und alle verstummte. Draußen im Hof konnte ich
zwei Männer lachen hören. Den einen erkannte ich als meinen Großvater und der
andere musste dann folglich Camlan sein. „Er kommt, weil dein Onkel Dyved
gestorben ist.“, erklärte meine Mutter. Mein Onkel Dyved, Großvaters Erbe,
war an schrecklichen Magenschmerzen und unter Krämpfen plötzlich gestorben.
Wie gewöhnlich munkelten alle von einem Giftmord, doch dazu gab es keinen
Grund. Mit meinem Großvater stand Dyved auf gutem Fuß, seine Krieger hatten
meinen Onkel gemocht und auch zu den Sklaven und Dienern war er gutmütig
gewesen (auch wenn ich es mir nicht vorstellen konnte, wie ein Sklave hätte
an Gift kommen sollen). Es konnte niemandem einen Mord nachgewiesen werden
und nun war Dyved eben tot und seine kinderlose Witwe wieder bei ihrem Vater.
‚Nach eins kommt zwei’, dachte ich mir, ‚und nach Dyved kommt Camlan.’ Wäre
Camlan gestorben, wäre wohl meine Mutter Königin von Wales geworden. Doch sie
war schon fast eine Nonne des Klosters St. Johannes (und ich glaube, bevor
mein Großvater zugelassen hätte, dass ich als meiner Mutter erst geborenes
Kind Prinzessin von Wales geworden wäre, hätte er mich ertränkt). Nun, solche
Gedanken waren unnötig, denn Camlan war gesund, beliebt und hatte auch sonst
keine Feinde – außer mir, wie er anscheinend dachte. Draußen wurden noch ein
paar Begrüßungsworte gesprochen und drinnen machten sich die Hofdamen meiner
Mutter daran, hastig aufzuräumen. „Myrlin“, sprach meine Mutter und wendete
sich äußerlich wieder ihrem Webstuhl zu, „Halte deine Zunge im Zaum. Wenn sie
kommen, verhalte dich ruhig.“ Ich nickte. Da fiel mir das Tuch ins Auge, an
dem meine Mutter arbeitete: ein feines Tuch – für einen Schleier. Wenn mein
Großvater das sah, würde er zweifellos schäumen vor Wut, denn er hasste die
Frömmigkeit meiner Mutter und verweigerte ihr, sich ins Kloster
zurückzuziehen. Mir war es gleichgültig – so lange sie nur nicht vorhatten,
mich dazu zu sperren. Ich glaubte nicht an den Gott der Christen und das
bisschen Freiheit, das ich am Hof meines Großvaters eisern verteidigen
musste, wollte ich nicht verlieren, um in einem Zimmer stupide Bücher
abzuschreiben und andauernd zu einem Herrn zu beten, dessen Lehren ich weder
verstand (alles in diesem Glauben was wirr und widersprach sich selbst, wie
ich fand) geschweige denn die mein Verstand je hätte respektieren oder
glauben können. „Stimmt es denn wenigstens, dass er den Großkönig einmal gesehen
hat?“, wollte ich nun wissen. „Natürlich hat er Vortigern schon gesehen, immerhin
ist er...“ „Nicht Vortigern!“, unterbrach ich Moravik, „Ich meine den
Großkönig. Arthus, den echt...“ „Ruhe!“, zischte meine Mutter, zwar nicht
laut, aber eindringlich. Dann sprach sie mit ruhigerer Stimme weiter: „Du
meinst, den verstorbenen Hohen König.“ Ich wollte widersprachen, doch sie
fuhr fort und ging auf meinen unausgesprochenen Protest ein: „Vortigern sitzt
nun auf dem Thron, so zu reden ist Hochverrat – egal, ob es ein Königskind
oder ein Sklave sagt. So etwas darfst du nicht einmal denken, verstehst du?
Außerdem ist Camlan zu jung, um König Arthus je begegnet zu sein.“ Sie
wusste, ich hatte nicht nur Arthus gemeint, aber ihr Ton verriet, dass sie
kein Wort mehr hören wollte. Ich schaute mich trotzig um und bemerkte, wie
Moravik und einige andere Hofdamen das Zeichen gegen den Bösen Blick machten.
Damit hatten sie vielleicht gar nicht so Unrecht, auch wenn sie keine Ahnung
von meinen Kräften haben konnten. Manchmal fragte ich mich, ob sie Recht
hatten, mit dem, was sie über mich sprachen. Schwere Schritte näherten sich, Eisen von Rüstungen klirrte. Mein
Großvater und Camlan schienen sich zu nähern und eine unangenehme,
angespannte Ruhe breitete sich im Raum aus. Mein Großvater war von
riesenhafter Gestalt, mit den groben, feisten Gesichtszügen eines Kriegers
und Camlan schien sein jüngeres Abbild zu sein. Kaum stand er an der Tür
hatte er mit einem „Hinaus!“, alle Damen verjagt, nur meine Amme hielt noch
einen Augenblick das Feld, bevor sie unter des Königs strengem Blick
ebenfalls knickste und hinausging. Noch nie war mir der Raum so leer
vorgekommen und ich wäre gerne mit hinausgegangen, doch der Blick meines
Großvaters fixierte mich und ich rührte mich artig nicht. Kaum hatte er
seinen Blick von mir abgewendet lächelte Camlan mich an. Zwar war es das raue
Lächeln eines Ritters, doch es ermutigte mich und ich verlor ein bisschen
meiner Angst – zumindest die Angst vor ihm. In diesem Moment kam mir auch der
Gedanke, dass er gar nicht wusste, wer ich war. Doch vor seinem eigenen Sohn
und Thronerben würde mein Großvater mich nicht als seinen eigenen Bastard
ausgeben, das tat er nur manchmal vor Fremden und nicht etwa, weil er stolz
darauf gewesen wäre, sondern nur aus einer väterlichen Gefühlsregung heraus,
um meiner Mutter die Schande zu ersparen. „Das ist der Bastard deiner Schwester!“, erklärte er Camlan
schließlich. Das verschwörerische Lächeln meines Onkels verblasste nicht – er
musste es also gewusst, oder zumindest geahnt haben. „Dort ist sie. Vier
Jahre alt nächsten Winter. Aufgeschossen wie ein Kraut und keinem von uns
ähnlicher als des Teufels höchster Brut. Dunkle Augen, dunkles Haar und so
voll Furcht vor kaltem Eisen wie ein Wechselbalg aus den hohen Hügeln. Sag
mir, dass der Teufel selbst dieses Kind gezeugt hat, und ich glaube dir.“
Innerlich lächelte ich verächtlich, er wusste noch nicht einmal die Hälfte.
Diese Worte waren nichts Neues. Mein Onkel richtete seine Frage an meine Mutter: „Wer?“ „Narr!“, zischte mein Großvater und ich dachte stimmte ihm innerlich
insgeheim zu, eine solche Frage konnte nur ein kurzsichtiger Tölpel stellen.
„Gepeitscht wurde sie, bis die Frauen jammerten, sie würde das Kind
verlieren. Ihr selbst war kein Wort zu entreißen. Vielleicht wäre es besser
gewesen, sie hätte eine Todgeburt gehabt. Die Weiber erzählten sich
unsinnige, alte Ammenmärchen von Teufeln, die im Dunkeln zu jungen Mädchen
kriechen... und ihrem Aussehen zu Folge könnten sie sogar Recht haben.“
Camlan blickte zu mir herab und lächelte immer noch. An seinen
Rehfellstiefeln haftete getrockneter Schlamm. Stehenden Schmutzes und ohne
sich nach der Reise zu erfrischen war er gekommen, um mich zu sehen?
Irgendetwas daran kam mir unheimlich vor, doch ich hatte keine Angst, ich war
gewarnt worden. Und er starrte gutmütig auf mich, während meine Mutter, die
Hände sittsam gefaltet, dastand und mein Großvater mit rasselndem Atem,
bebendem Kinn und zuckender Stirn dastand, wie immer, wenn er erregt war.
„Komm her!“, sagte mein Onkel. Trotz seines freundlichen Lächelns traute ich
mich nicht näher als ein paar Schritte. Er wirkte nur noch größer, sein Kopf
schien fast den Deckenbalken zu berühren, so hatte ich das Gefühl. „Wie heißt
du?“ „Mynona Odry.“ „Odry? Listiger Rat? Das scheint kaum der Name für einen
Dämonenspross.“ Listiger Rat? Wenn ein Dämon nicht listig ist, wer dann? Aber
anscheinend hatte er vor, sich mit mir anzufreunden und ich wollte
mitspielen: „Man nennt mich Myrlin, wie den Flaken, den Conwalch.“ „Ein sehr
ängstlicher Vogel.“, warf mein Großvater ein. „Ein eben noch kleiner Vogel.“,
erklärte ich trotzig. „Siehst du jetzt, was mir noch bleibt? Deine Schwester,
die partout nicht den Vater dieser kleinen Teufelsbrut herausrücken will. Und
der Bastard hat die meisten meiner grauen Haare zu verantworten – stures,
kleines Biest. Wenn du nicht heiratest und ein eigenes Kind hast, ist alles
was mir bleibt mir nur das Wechselbalg als Erbe!“ „Nun gut.“, meinte mein
Onkel leichthin, „Und was ist mit eurer neuen König? Es heißt, sie trage ein
Kind unter dem Herzen.“ „Lass dich davon nicht beirren, mein Sohn. Heirate
die Tochter des Vortigerns und vergiss den Bankert. Wer auch immer dieses Gör
zeugte, hat sich die letzten drei Jahre nicht gemeldet und auch die nächsten
drei mal drei Jahre wird er nicht kommen. Und selbst wenn sie das Kind des
Hohen Königs Vortigern wäre, hätte der König an diesem Spross sicher keine
Freude; ein verstocktes Kind, das sich in Ecken und Winkeln herumdrückt,
anstatt mit den anderen Kindern zu spielen – aus Angst vermutlich. Mit immer
neuen, komischen Ideen, ein Kopf voller Streiche, Unfug und passivem
Blödsinn.“ Die beiden wandten sich wieder von mir ab und ich hoffte, bald
hinausgehen zu können, um wieder auf meine Weise zu spielen. „Geh zurück an
die Arbeit, Mädchen, und halt mir den Bastard fern.“, fuhr mein Großvater meine
Mutter an. Camlan lächelte mich wieder an, er hatte es also wirklich darauf
angelegt, mich kennen zu lernen. Er war mir tatsächlich sympathisch, und
obwohl die Sonne sich draußen zurückgezogen hatte war der Raum strahlend
hell. „Niniane“, er sprach zu meiner Mutter, „Hast du etwas dagegen, wenn ich
mich eine Weile mit dem Mädchen unterhalte. Immerhin sollten wir uns doch
kennen lernen.“ „Wenn du meinst, der Wechselbalg könne Handarbeit verrichten,
dann irrst du dich. Ungeschickt mir Wolle und Garn, wie ein Zyklop mit der
Harfe.“, antwortete mein Großvater. Camlan schien das als Einverständnis zu
sehen und bedeutete mit, ihm zu folgen. An diesem Abend hatte ich mich fort geschlichen, um wieder in mein
Versteck zu gehen. Die Burg meines Großvaters war ursprünglich eine alte
Römervilla, von der nur noch der Hauptteil stand und ein paar Räume für die
Sklaven wieder hergerichtet worden waren. Trotzdem wurde kaum noch etwas von
den alten Anlagen der Römern verwendet, allem voran das Hypokaustum. Die
Fußbodenheizung war unbenutzt und äußerst baufällig. Der unterirdische Tunnel
war mein geheimer Platz, mein Großvater hatte schon Recht, als er meinte, ich
würde mich in Ecken und Winkeln herumdrücken. Doch ich tat es nicht aus
Furcht – auch wenn die anderen Kinder mich bei ihren Kriegsspielen gerne zum
Prellbock machten, wenn sie meiner habhaft werden konnten. Doch ich
versteckte mich nicht, ich wollte nur allein hier unten meine Spiele spielen.
Das dumme Geschwätz der Knaben und Mädchen, ihre sinnlosen, brutalen Spiele,
die ihnen glaubhaft machen sollten, Krieg sei Spaß widerten mich an. Die
unterirdischen Tunnel wurden nur noch von ein paar Pfeilern gehalten, doch
man konnte geräuschlos hindurch kriechen. Außerdem diente mir das Hypokaustum
nicht nur als geheimer Spielplatz, obwohl ich den Erdgeruch, die verzweigten,
unterirdischen Tunnel liebte, hatte das ganze auch eine praktische Seite. Man
konnte alles und jeden im Palast belauschen und so kannte ich die dunkelsten
Geheimnisse der Ratsherren, Höflinge und aller, die am Hof meines Großvaters
verkehrten. Hätte man mich erwischt, hätte man mich wahrscheinlich nicht nur
einfach ausgepeitscht, denn so manches Geheimnis war selbst in Kinderohren
gefährlicher als jede Waffe, die ein Krieger sich vorstellen konnte. Meist kroch
ich zu einem Raum, den ich „Höhle“ nannte, ein kleiner Kesselraum, der jetzt
leer war und wo ich meine Sachen verstecken konnte, die andere besser nicht
entdecken sollten. Dort hatte außerdem die Decke ein Loch und ich konnte in
den Sternenhimmel blicken. Diesen Raum hatte ich einmal entdeckt, nach dem
mein Großvater mich in der Bibliothek erwischt hatte, wo er mich als letztes
haben wollte und ich die wahrscheinlich schlimmste Tracht Prügel meines
Lebens bekam. Ich war in mein Versteck gekrochen und hatte in den
unterirdischen Gängen ein Licht erblickt. In der „Höhle“ lagen ein paar Steinchen, wie die, mit denen ich auch
am Nachmittag gespielt hatte, nur hatten sie kleine Zeichen und Muster
eingemeißelt – es waren Trümmer eines zerstörten Mosaiks in einer Nebenhalle
-, die ich dort unten in aller Ruhe schweben lassen konnte. Das war eine
meiner Kräfte, kleinere Gegenstände bewegen, ohne die Hand daran zu legen.
Meine Mutter hatte mir verboten, darüber zu sprechen oder auch im Geheimen
diese Kraft zu benutzen, doch ich sah im Hypokaustum keine Gefahr, davon
Gebrauch zu machen. Ich wusste nicht, ob meine Mutter das auch konnte, es war
keine verbreitete Gabe. Ich dachte, sie wollte es bloß nicht sehen, weil es
sich als Christ nicht schickte, doch vielleicht war es auch das Erbe meines
Vaters und man hätte all zu leicht seine Herkunft erschließen könne, hätte
jemand davon erfahren. Ich traute mich nicht, jemanden danach zu fragen, wer
solche Kräfte besaß, um meine Mutter nicht in Gefahr zu bringen. Außerdem tat
ich es auch nicht oft, denn ich ahnte, dass die Kraft mir zu mehr dienen
sollte. So benutzte ich sie nicht (jedenfalls fast nicht) und mein Großvater
schalt mich trotzdem Teufelsspross. Ich ließ mich in der Höhle in
das geklaute Stallstroh sinken. Außer den Steinen lagen dort noch ein Bogen
und ein paar Pfeile. Ich hatte in tausend Büchern und in Hunderten von
Experimenten einen Bogen gebastelt, der besser schoss, als der meines
Großvaters und ich zielte auch besser als er. Nur wollte ich nicht, dass jemand
herausfand, dass ich ein so guter Schütze war, denn im schlimmsten Fall hätte
ich dann Kriegerin werden müssen, und Krieg und Kampf verabscheute ich, nicht
aus Angst, sondern weil ich es nur Unheil brachte. Sicher, es gab
wahrscheinlich Dinge, für die zu kämpfen es sich lohnte, doch die
Plünderungen und Raubzüge der Ritter des Königs und der Sachsen waren in
meinen Augen menschenverachtend. Ich war ungewöhnlich und von Zeit zu Zeit war ich mir sicher, ein
Dämonenspross zu sein, nicht nur, weil mich alle so nannten. Ich beobachtete
den Himmel und die Sterne und stellte mir die unzähligen Menschen vor, die
ihn in diesem Moment auch sahen... war einer davon mein Vater? Auf dem Rückweg kroch ich unter einem Gemach vorbei, das bislang leer
gewesen war. Ich vernahm Stimmen und lauschte: natürlich, mein Onkel musste
nun dort wohnen. Der Mann, mit dem er sich unterhielt gehörte dem Akzent nach
zu seinem Gefolge, dass er am Nachmittag mitgebracht hatte. Möglichst
geräuschlos kroch ich unter den Pfeilern näher. Ich war darauf bedacht, kein
Geräusch zu machen, doch da stieß ich mit dem Knie hart gegen einen Stein,
der auf dem Boden lag. Ich stieß einen erstickten Schmerzensschrei aus. Meine
kurze Tunika ging nicht einmal bis zu den Knie und ich tatstete vorsichtig
mein Knie ab und versuchte, zu hören, was über mir gesagt wurde. „Der Palast
fällt nach und nach in Stücke.“, vernahm ich die wohlklingende Stimme meines
Onkels. Der andere Mann sprach mit dem Akzent eines Fürsten aus Cornwall. Ich
verstand nicht alles, da ich mich nicht näher traute, in Erinnerung an den
Zorn meines Großvaters, und so vernahm ich zuerst nur Bruchstücke und das
Eingießen eines Getränks. Aber dann sprach mein Onkel: „... ob sie ihn
abweißt oder nicht, das spielt keine Rolle. Sie geht in Kloster, das Los hat
sie selbst gezogen. Nach seinem Tod, spätestens.“ „Und das Mädchen?“ „Das
Mädchen?“, wiederholte Camlan und ging langsam im Zimmer auf und ab. Ich
musste um jeden Preis hören, was er sagte. Bankert, Bastard, Teufelsbrut – es
war mir egal, aber ich musste hören, was er jetzt sagte. „Ja!“, seine Stimme
klang überraschend sanft, „Ja, richtig, das Kind. Ein sehr gescheites Kind,
wie mir scheinen will, viel klüger, als alle Welt hier glaubt... und
zugänglich, wenn man sie anständig behandelt. Ich werde sie fortan nicht mehr
aus den Augen lassen. Vergiss nicht, Alun, ich mag sie.“ Zugänglich? Heute
Nachmittag hatte ich ihm nur belanglose Sachen erzählt, doch er schien zu
glauben, er habe das Eis gebrochen. Ich mochte ihn, er war nett, doch irgendetwas
in mir riet mir, ihm nicht zu trauen und diese Stimme belog mich nie.
Trotzdem wäre es gefährlich gewesen, mich seiner zu entziehen und so
beschloss ich, mich auch mit ihm anzufreunden – dem Anschein nach jedenfalls.
Und so war es auch. Tagelang folgte ich ihm überall hin und er
duldete, ermutigte mich sogar. Dass ein dreijähriges Kind einem
neunundzwanzigjährigen Prinzen nicht immer willkommen war, begriff ich nicht,
doch Moravik, und sie schalt mit mir. Aber meiner Mutter schien es nichts
auszumachen und sie gebot meiner Amme, mich in Ruhe zu lassen. Es war ein heißer Tag, etwa einen Monat, nach dem mein Onkel
heimgekehrt war. Südwales ist ein wunderschönes Land, selbst die kalten
Winter- und stürmischen Herbsttage mochte ich meine Heimat. Maridunum lag nicht weit vom Meer entfernt und der Geruch des
Salzwassers wurde vom Wind bis auf die Sonnenterrasse des Gesindegartens
getragen. Das Tal ist flach und die Felder weit, die Wiesen voll Blumen und
die Erde fruchtbar. Eine Heerstraße führte nach Carleon, dem Hof des
Großkönigs und in den Wäldern und kleinen Hügeln konnte man wunderbar
ausreiten. Man muss die Landschaft gesehen haben, um sie zu begreifen, die
Vielfältigkeit glauben zu können. Um das Haus meines Großvaters befanden sie Obstgärten voll Apfel- und
Pfirsichbäumen. In dem Garten, in dem ich mich herumtreiben durfte, wuchsen
nur Äpfel und es war mir nicht erlaubt, hinauf zu klettern, so dass ich mich
mit dem Fallobst begnügen musste. Moravik saß auf der Sonnenterrasse und
stickte etwas, während ich auf der Steinmauer saß, die den Garten umgab. Dort
hinauf durfte ich, denn man konnte auf die Straßen sehen, die vom Meer her
zum Haus, nach Carleon oder ins Dorf führten. Die Stadt unterhalb der Burg
hieß Caer-Myrddin, ähnlich wie die Göttin, deren gotischen Namen ich
trug. Ich saß auf der Steinmauer und sah auf die Straße, wie immer, um ja das
Treiben außerhalb gut im Auge zu haben. Ich war noch nicht viel ausgeritten,
obgleich ich ein eigenes Pony hatte. Manchmal schon war ich mit Cynric, einem
Sklaven, in die Stadt geritten und mein Onkel Camlan hatte mich vor ein paar
Tagen zu einem Spazierritt mitgenommen. Ich sah auf den Apfelbaum neben mir
und suchte den besten Weg hinauf ins Geäst. Ich wusste, Moravik würde
schimpfen, aber wenn man den Preis verkraften konnte, wieso nicht? Ich wollte
hinaufklettern. Vorsichtig richtete ich mich auf der Mauer auf die Füße. So
konnte ich den untersten Ast erreichen. Jedoch bekam ich nur die weiche,
nachgebende Spitze der Knospe zu fassen. Ich streckte mich noch mehr, fuhr
mit den Händen weiter den Trieb entlang. Mit einem kleinen Sprung wie eine
Berggämse, oben, auf dem Snowdon, hing ich an dem Ast. Ich schlang meine Füße
darum und zog und ruderte so lange mit Armen und Beinen, bis ich auf dem Ast
oben saß. Von dort aus griff ich nach dem nächsten Ast, drückte mich mit den
Füßen am Stamm ab und kam immer höher. Da hörte ich Pferdehufe und mein Kopf
fuhr herum, zur Straße. Eine ganze Gruppe von Reitern. Allen voraus ritt ein
barhäuptiger Mann auf einem riesigen, braunen Ross. Es war weder Camlan, noch
mein Großvater und auch die übrigen Reiter hatte ich zuvor noch nie gesehen:
sie trugen Farben, die ich nicht kannte. Als sie, näher kommend, die Brücke
fast schon hinter sich gelassen hatten, sah ich, dass Kopf- und Barthaar des
Anführers schwarz waren. Seine Kleidung wirkte ausländisch. Auf seiner Brust
schimmerte es golden. Die Schar, schätzte ich, zählte etwa fünfzig Mannen. König Gorlan von Lanascol. Was mir, deutlich und unverwechselbar, den Namen
eingab, wusste ich nicht. Vielleicht etwas, dass ich in meinen Labyrinth
erlauscht hatte? Oder ein achtlos dahingeworfenes Wort eines Erwachsenen, in
meiner, des Kindes, Gegenwart? Von Schilden und Speerspitzen glänzte mir
widerglänzendes Sonnenlicht in die Augen. Gorlan von Lanascol. Ein König.
Gekommen, um meine Mutter zu heiraten und mich mit zu nehmen, in ferne Lande.
Meine Mutter: eine Königin. Und ich... Schon war sein Ross am Fuß des Hügels. Und wenn sie ihn ablehnt?,
hörte ich Aluns Stimme von neulich Nacht. Und dann man Onkel: Selbst wenn
sie’s tut... Ich habe nichts zu fürchten, und käme er selbst... Die Reiterschar dort bei der Brücke. Das Klirren der Waffen und das
Stampfen der Hufe. Er war gekommen, er war hier. Ich kletterte ein paar Äste tiefer, die Männer kamen näher. Vor
Aufregung hätte ich ein paar Mal fast den halt verloren und wäre gestürzt.
Noch bevor ich auf dem vorletzten Ast stand rief ich: „Moravik! Moravik!“
Meine Amme war eingeschlafen und fuhr hoch. “Myrlin! Myrlin, wo steckst du
schon wieder?“ Ich hatte keine Zeit, mich zu rechtfertigen, er kam! „Hier,
Moravik, ich komme schon.“, da fiel ich vor Unachtsamkeit ein Stück nach
vorn, glitt mit dem nackten Fuß ab und fiel zwei Meter hinunter. „Oh, mein
Gott!“, lautete Moraviks schriller Aufschrei. Ich hatte keine Zeit, mich um
irgendwelche Schmerzen zu kümmern: „Moravik! Sie kommen!“ „Wer denn? Ich habe
Pferdehufe gehört? Was geht da draußen vor? Da kommt ja eine ganze Schar, wie
mir scheinen will. – Bei allen Heiligen, Kind, wie sehen deine Kleider aus!
Erst diese Woche habe ich sie wieder geflickt! Da, der Riss, eine Faust
könnte man hindurch stecken! Und schmutzig von Kopf bis Fuß wie ein
Bettlerkind.“ Ich wich ihrer ausgestreckten Hand aus. „Ich bin gefallen. Beim
Hinabklettern, als ich dir berichten wollte. Ja, eine ganze Reiterschar –
Fremde! Moravik, es ist König Gorlan von Lanascol! Er hat ein rotes Gewand
und einen schwarzen Bart!“ „Gorlan von Lanascol? Das ist ja kaum zwanzig Meilen von meinem
Geburtsort! Was mag er nur hier wollen?“ Ich starrte sie an. „Ja, weißt du
nicht? Er ist gekommen, um meine Mutter zu heiraten.“ „Unsinn!“ „Es ist
wahr!“ „Unsinn, sage ich! Denn dann wüsste ich bestimmt etwas. Rede also
nicht so daher, Myrlin, sonst gibt es nur wieder Ärger. Wo hast du denn das
aufgeschnappt?“ „Weiß ich nicht mehr. Jemand muss es mir erzählt haben, meine
Mutter, glaube ich.“ „Das ist nicht wahr, und du weißt es.“ „Dann hab ich’s
irgendwo gehört.“ „Irgendwo gehört, irgendwo gehört! Junge Schweine haben lange
Ohren, sagt man. Und deine sind wohl besonders lang, wo du so viel hörst. Was
lächelst du so?“ „Ach nichts.“ Sie stützte die Hände auf die Hüften. „Du hast
deine Ohren überall. Immer wieder habe ich dir gesagt, du sollst dich in Acht
nehmen. Kein Wunder, dass die Leute so über dich reden.“ Ich war zu erregt, um mich wie sonst in vorsichtiges Schweigen zu
hüllen. „Es ist wahr, das wirst du noch sehen! Wo ich’s gehört habe, weiß ich
nicht mehr, aber das ist doch auch egal, Moravik...“ „Was?“ „König Gorlan ist
mein Vater, mein wirklicher Vater!“ “Was?”, wie ein scharfer Dorn stieß das
Wort gegen mich. „Hast nicht einmal du das gewusst?“ „Nein und auch du weißt
ja nichts, gar nichts. Wehe dir, wenn du zu anderen davon... Woher kennst du
überhaupt seinen Namen?“ Sie packte mich bei den Schulter und schüttelte mich
heftig. „Wie willst du wissen, dass es König Gorlan ist? Keine Menschenseele
sonst konnte ahnen...“ „Das habe ich dir doch gesagt, ich habe es irgendwo
gehört. Jemand muss seinen Namen genannt haben, und ich weiß auch, dass er
wegen meiner Mutter zum König kommt. Dann geht’s nach Lanascol, und natürlich
kannst du bei uns bleiben, Moravik. Wäre das nicht schön? Dort ist doch deine
Heimat, und vielleicht...“ Ihr Griff spannte sich härter und ich verstummte. Erleichtert sah
ich, wie einer des Königs Leibdienern durch die Apfelbäume auf uns zueilte.
Keuchend blieb er vor uns stehen. „Sie soll zum König. Das Mädchen. In die
große Halle, rasch!“ „Wer ist es?“, fragte Moravik. „Rasch doch, rasch! Ich
habe schon überall gesucht.“ „Wer ist es?“ „König Gorlan von der Bretagne.“
Sie ließ ein überraschendes Zischen hören. Ihre Hände gaben meine Schultern
frei. „Was hat er mit dem Mädchen hier zu schaffen?“ „Woher soll ich das
wissen?“, entgegnete der Mann atemlos und barsch, „Das Kind und seine Mutter
sollen vor dem König erscheinen, und wenn das nicht bald geschieht, dann
lässt er seinen Zorn an uns aus. Seit die fremden Reiter hier sind, ist er in
großer Erregung.“ „Schon gut, schon gut, geh zurück und sage, dass wir in
wenigen Minuten kommen.“ Der Mann eilte davon. Moravik griff nach meinem Arm. „Bei allen
Heiligen im Himmel!“, obschon Christin schwor meine Amme auf tausenderlei
Talismane, von denen sie eine ganze Sammlung besaß; und nie ging sie an einem
Götzenschrein vorbei, ohne ihm ihre Ehrfurcht zu zeigen. Doch in den Minuten
der Not wurde sie wieder gläubig und fromm. „Süßer Cherub! Ausgerechnet heute
läuft dieses Kind in Lumpen herum. Rasch doch, rasch! Jetzt nur keine Sekunde
verloren!“ Unentwegt ihre Heiligen rufend und mich zur Eile treibend, drängte
sie mich auf das Haus zu. „Gnädiger St. Peter, warum habe ich nur die Aale
gegessen und bin dann eingeschlafen? Ausgerechnet heute! Hier...“, sie schob
mich vor sich her in mein Gemach. „Zieh diese Lumpen aus und lege dein gutes
Gewand an. Bald werden wir wissen, was der König von dir will. Rasch doch,
Kind!“ Das Gemach war eigentlich nur eine dunkle Kammer neben den Räumen für
das Gesinde, doch ich hatte es für mich allein. Stets roch es dort nach den
Dünsten der nahen Küche. Trotzdem, mir gefiel das, und ich mochte auch den
alten Birnenbaum vor dem Fenster, wo morgens die Vögel sangen. Mein Bett
stand unmittelbar unter diesem Fenster. Eine Pritsche aus nackten Brettern,
ohne jede Verzierung, ja, ohne eigentlich Abschluss am Kopf- oder Fußende.
Der Enkelin eines Königs gar nicht angemessen, wie Moravik den anderen
Bediensteten erklärte, wenn sie mich außer Hörweite glaubte. Mir jedoch
betonte sie, das könne mir sehr lieb sein, so nahe beim Gesinde zu sein. Und
zweifellos: Ich war zufrieden, denn sie sorgte für eine Strohmatratze und
eine Wolldecke, die nicht schlechter war als die im Gemach meiner Mutter,
nahe den Räumlichkeiten meines Großvaters. Moravik selbst hatte ein paar
Zimmer weiter ihr Lager, das sie nicht nur mit den sich kratzenden und Flöhe
suchenden Wolfshunden teilte (wie auch einer bei mir in der Kammer schlief),
und Cynric, einem Angelsachsen, der vor Jahren in Gefangenschaft geraten war
und seit her als Knecht diente. Er hatte hier geheiratet, doch Frau und Kind
waren bei der Niederkunft gestorben. Die Hunde in meinem und ihrem Zimmer
duldete Moravik, trotz des Gestanks und der Flöhe, offenbar, weil sie vor
Eindringlingen geschützt sein wollte (außer natürlich Cynric, den die Hunde
immer schwanzwedelnd willkommen hießen). Vor einem Jahr hatte Moravik noch
neben der Tür in meinem Zimmer geschlafen, doch der König hatte angeordnet,
dass sie bei einem der anderen Fürstenbastarde schlafen solle (die trotzdem
weitaus besser behandelt wurden, als ich). Doch Cynric hatte, aus Misstrauen
vermute ich, einen der stärkeren Wolfshunde zu mir gebracht. Normalerweise
wurden Königs- und Fürstenkinder bis zum Erwachsenenalter im Schlaf bewacht. In gewisser Weise nahm Cynric eine ähnliche Funktion ein, wie die der
Wachhunde. Und noch andere dazu. Da aber Moravik über ihn nie sprach, hielt
auch ich wohlweißlich den Mund. Von einem Kind nimmt man an, dass es tief und
fest schläft, doch so jung ich auch war – oft wachte ich mitten in der Nacht
auf und beobachtete, still daliegend, durch das Fenster die Sterne, die wie
funkelnde Silberfische im Netz des Baumgeäst gefangen waren. Meine Kleider wurden in einer Holztruhe aufbewahrt, die an der Wand
stand. Uralt war sie, bemalt mit Bildern von Göttern und Göttinnen, und ich
glaubte, dass sie aus Rom stammte. Die Farbe, schmutzig und verwischt,
blätterte teilweise ab, doch auf dem Deckel erkannte man noch,
schattengleich, eine Szene, die in einer Höhle zu spielen schien. Ein Stier
war zu sehen, und ein Mann mit einem Messer, der eine Garbe zu halten schien;
und darüber, fast verwischt, eine Gestalt mit Sonnenstrahlen um das Haupt und
einem Stab in der Hand. Die Truhe war mit Zedernholz gesäumt und Moravik, die
meine Kleider selbst wusch, legte immer süße, duftende Kräuter aus dem Garten
dazu. Jetzt hob sie den Deckel so energisch hoch, dass er gegen die Wand
prallte. Dann zog sie eines meiner guten Gewänder hervor. Es war eine
knielange Tunika, blau mit silberner Borte und einem silbernen, geflochtenen
Schnürgürtel, den sie mir locker um die Taille band. Sie rief nach Wasser,
und sofort kam eine der Mägde damit angelaufen. Der fettleibige Bedienstete, der und im Garten aufgestöbert hatte,
tauchte auf, um uns erneut zu Eile zu drängen. Und Moravik fuhr ihn unsanft
an. Doch kaum hatte ich meine Sandalen angezogen, fand ich mich den
Säulengang entlang gezerrt, durch das große, gewölbte Kernstück des Hauses. Die Halle, in der der König Besucher empfing, war ein hoher, lang
gestreckter Raum. Auf dem Fußboden säumten weiße und schwarze Steine ein
Mosaik, das einen Gott mit einem Leoparden darstellte. Gut erhalten war es
allerdings nicht. Das Verrücken schwerer Möbel und das ständige Stampfen von
Stiefeln hatten verheerenden Schaden angerichtet. An einer Seite, zum
Säulengang hin, war die Halle offen, und im Winter wurde dort, in losem
Steinring, auf dem Boden ein Feuer gemacht. Was sich an den Steinen und
Säulen in der Nähe befand war dementsprechend rauchgeschwärzt. Am anderen
Ende der Halle befand sich der Thronhimmel, mit einem Stuhl für meinen
Großvater und einen für seine Königin. Und dort saß er jetzt, Olwen, seine junge Gemahlin, zur Linken,
während Camlan rechts von ihm stand. Olwen war bereits seine dritte Gemahlin,
jünger als meine Mutter und ein eigentümlich einsilbiges und recht törichtes
Geschöpf. Sie hatte dunkles Haar, das ihr in Flechten bis zu den Knien hinab
hing, und milchweiße Haut. Auch konnte sie vogelgleich singen und verstand
sich auf schöne Stickereien, doch zu viel mehr langte es bei ihre nicht.
Meine Mutter, glaube ich, mochte und verabscheute sie gleichermaßen. Wie dem
auch immer sein mochte: Bei kamen recht gut miteinander aus, und Moravik
behauptete, dass meine Mutter ein leichteres Leben habe, seit Gwynneth, des
Königs zweite Frau, vor einem Jahr gestorben und bald darauf Olwen an ihre
Stelle getreten war. Anders als Gwynneth, in deren einziger meiner
Erinnerungen an sie, sie mich schlug, weil ich mich gegen meine Cousine, zu
recht, gewehrt hatte, behandelte mich Olwen in ihrer vagen Art stets freundlich,
und ich liebte sie, wegen ihrer Musik. War der König nicht in der Nähe,
lehrte sie mich Noten lesen und ließ mich sogar an ihre Harfe, so dass ich
schon ein wenig spielen konnte. Sie meinte sogar, ich habe Talent, doch da
wir beide wussten, was der König von solchen Narrheiten hielt (besonders
streng war er mir gegenüber), betrieben wir es heimlich, und selbst meine
Mutter wusste nichts davon. Jetzt bemerkte sie mich nicht. Niemand bemerkte mich, außer meinem
Vetter Dinias, der neben Olwens Stuhl stand. Dinias war ein Bankert, den mein
Großvater mit einer Sklavin gezeugt hatte; sechs Jahre alt, groß für sein
Alter, rothaarig und jähzornig wie sein Vater, auch verfügte er über große
Kraft und schien sich vor nichts zu fürchten (in Wirklichkeit war er zu dumm,
um Gefahr abschätzen und den Tod kennen zu können). Vor einem Jahr hatte er
sich auf ein Pferd seines Vaters geschwungen, ein wildes braunes Füllen, mit
dem er durch die Stadt gesprengt war. Erst am Flussufer hatte es in abwerfen
können. Seitdem stand Dinias in Großvaters Gunst, auch wenn dieser ihm zuerst
eine kräftige Tracht Prügel verabreicht hatte, nicht ohne ihn anschließend
mit einem Dolch mit goldenem Griff zu belohnen. Von da an nahm Dinias,
wenigstens den übrigen Kindern gegenüber, den Titel eines Prinzen für sich an
Anspruch und behandelte mich, der ein Bastard war wie er, mit äußerster
Verachtung. Jetzt starrte er mich mit steinerner Miene an, machte jedoch mit
der Linken Hand verstohlen ein höhnisches Zeichen. Unwillkürlich war ich im Eingang stehen geblieben. Moraviks Hand
zupfte mein Gewand zu Recht und gab mir anschließend einen Stoß zwischen die
Schultern. „Geh schon. Und halte dich gerade. Er wird dich schon nicht
auffressen.“ Doch schien dies selbst in ihren Augen ein frommer Wunsch zu sein.
Sie begann ein Gebet zu murmeln und ich hörte das leise Klicken eines
Amuletts. Die Halle war voller Menschen. Viele von ihnen kannte ich. Die
anderen schienen zu jener Schar zu gehören, die vor kurzem über die Brücke
geritten waren. Ihr Anführer, von vielen seiner Mannen umgeben, saß nahe zur
rechten des Königs. Er war baumlang und dunkelhaarig. Kühn sprang seine
Adlernase vor. Das scharlachrote Gewand schien kraftvolle Gliedmaßen zu
verbergen. Auf der anderen Seite des Königs, noch unterhalb des Thronhimmels,
stand meine Mutter mit zwei ihrer Damen. Ihr Anblick gefiel mir sehr. Wie aus
frischem Holz geschnitzt fiel ihr langes, lichtes Kleid bis zum Boden. Auch
sonst trug sie sich wie eine Prinzessin. Ihr geflochtenes Haar wallte tief
über den Rücken. Eine kupferne Spange hielt das blaue Übergewand zusammen.
Ihr Gesicht jedoch war blutleer und wirkte sehr still. Allerlei Ängste durchrannen mich. Die höhnische Geste von Dinias; die
niedergeschlagenen Augen meiner Mutter; das Schweigen der Menge hier in der
Halle; die Leere des Mosaikbodens, über den ich schreiten musste; und
furchtsam mied ich jeden Blick zu meinem Großvater. Immer noch unbemerkt
hatte ich einen zaghaften Schritt gewagt, als er plötzlich mit einem Krach
wie von Pferdehufen beide Arme auf die Lehnen seines Stuhls schmetterte und
so heftig hochsprang, dass sein Thronsessel, ein schweres, wuchtiges Möbel,
mit schnurrenden Füßen ein Stück zurücksauste. „Beim Himmel.“, dunkel verfleckt schimmerte sein Gesicht. Zornig
zogen sie die roten Brauen über seinen wilden Augen zusammen. Ein funkelnder
Blick traf meine Mutter. Dann schnaubte er laut durch die Nase. Doch ehe er
etwas sagen konnte, begann sein Gast zu sprechen. Was er sagte, verstand ich
nicht. Zur gleichen zeit flüsterte auch Camlan auf seinen Vater ein. Der
König schien sich zu besinnen. Schließlich sagte er: „Wie ihr wollt. Später.
Schafft sie mir endlich aus den Augen.“ Dann zu meiner Mutter, sehr laut und
sehr deutlich: „Das ist noch nicht das Ende, Niniane, das verspreche ich dir.
Fast vier Jahre, das ist wahrlich genug. Kommt, Sir.“ Mit einem Arm raffte er seinen Umhang hoch, warf seinem Sohn einen
Blick zu und stieg vom Thronhimmel herab. Dann nahm er den Bärtigen beim Arm
und zog ihn dem Ausgang zu. Innerlich flehte ich, er möge mich wenigstens
dieses eine Mal übersehen. Olwen folgte ihnen mit ihren Frauen, denen sich
lächelnd Dinias anschloss. Bitte, mach, dass er mich in seinem Zorn nicht
bemerkt, flehte ich, zu welchem Gott war mir egal, so lange er meine Bitte
erhörte. Meine Mutter verharrte starr, wenigstens schien mein Großvater sie
nicht zu sehen. Bereitwillig machten dem König alle Platz. Allein und verängstigt stand ich drei schritte von der Tür. Sah dann,
wie der König näher und immer näher kam. Und versuchte, mich hastig davon zu
stehlen. Und war doch zu langsam. Ein Stück vor mir wirbelte er mit einer schwungvollen Geste herum und
ein Zipfel seines blauen Umhangs traf mich ins Auge, so dass es tränte.
Blinzend schaute ich zu ihm auf. Gorlan, neben ihm, schien gleichfalls
zornig, doch nicht auf mich. Überraschend fragte er den König: „Wer ist
dieses Mädchen?“ „Das ist ihre Tochter, der Ihr habt einen Namen geben
wollen, Sir.“, war die Antwort meines Großvaters, als er seine mächtige Hand
vorschnellen ließ und mich angewidert, als sei ich ein lästiges Insekt, zu
Boden schlug. Dann rauschte der blaue Umhang an mir vorbei. Gorlan folgte.
Olwen beugte sich besorgt über mich, doch ein wütender Ruf des Königs ließ
ihre ausgestreckte Hand zurückzucken. Rasch eilte sie mit ihren Frauen hinter
her. Ich raffte mich vom Boden hoch. Moravik stand bei meiner Mutter und
hatte den Vorfall gar nicht gewahrt. Ich versuchte, zu ihnen durch zu kommen,
doch bevor ich sie erreichen konnte verließ meine Mutter in mitten der
schweigenden Schar ihrer Frauen die Halle durch die andere Tür. Niemand
blickte sich zu mir um. Irgendjemand sprach auf mich ein. Ich antwortete
nicht. Rasch lief ich durch den Säulengang, über den Haupthof, und war dann
endlich wieder im stillen Sonnenschein des Obstgartens. Mein Onkel fand mich auf Moraviks Terrasse. Mit dem Blick auf eine
Eidechse lag ich mit dem Bauch auf den heißen Steinen, und von allem, was an
jenem Tag geschah ist diese Erinnerung die eindringlichste geblieben: „ die
Eidechse, flach, auf Glut getränktem Grund, kaum eine Handbreit von meinem
Gesicht und bis auf das Pulsen in ihrer Kehle starr wie schimmernde Bronze.
Kleine, dunkle Augen hatte sie, schieferfahl, und die Innenseite ihres Mauls
glänzte melonenfarben. Peitschengleich zuckte da die lange, schwarze Zunge
hervor. Und dann lief das Tier mit raschelnden Füßen über meine Finger und
verschwand in einem Spalt zwischen den Steinen. Ich wandte den Kopf. Mein
Onkel Camlan kam durch den Garten herbei. In seinen eleganten Flechtsandalen
stieg er die drei Flachen Stufen hinauf und blieb dann, auf mich
herabblickend, stehen. Ich schaute fort. Das zwischen den Steinen aufblühende
Moos trug weiße Blüten, nicht größer als Eidechsenaugen, und jede in sich
vollkommen wie ein kleiner, geschnitzter Becher. „Lass mal sehen.“, sagte er.
Ich bewegte mich nicht. Er trat zur Steinbank und setzte sich, Gesicht zu mir
gewandt, Hände zwischen den Knien. „Sieh mich doch an, Myrlin.“ Ich gehorchte. Eine Zeit lang
betrachtete er mich stumm. „Alle behaupten, dass du vor rauen Spielen zurückschreckst und vor
Dinias Angst hast. Und sie sagen auch, dass aus dir nie eine Kriegerin wird.“
Ja, sie erzählen auch den Kindern, wie sie heldenhaft Menschen im Krieg
abschlachteten und dafür belohnt wurden, Häuser anzuzünden, in denen Frauen
und Kinder eingesperrt waren. Wie sie ganze Dörfer vertrieben, wie sie die
Menschen überfielen, die mit ihren wenigen Habseligkeiten auf dem Rücken, in
Bündeln oder in kleineren Handwagen durch das Land flohen, weil sie von ihnen
aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Ist es etwa fair, mit einer Mutter, die
um das Leben ihres Kindes fleht, zu kämpfen? „Aber den Schlag des Königs, den selbst einer seiner größten
Hirschhunde zum Winseln gebracht hätte, hast du weggesteckt, ohne mit der
Wimper zu zucken.“ Ich schwieg. „Mir will scheinen, dass man dich
wahrscheinlich nicht ganz richtig einschätzt, Myrlin. Ich schwieg auch jetzt.
„Weißt du, warum Gorlan heute gekommen ist?“ Ich hielt es für klüger, zu
lügen: „Nein.“ „Er hat um die Hand deiner Mutter angehalten. Hätte sie eingewilligt,
wäre die Bretagne deine neue Heimat geworden.“ Mit dem Zeigefinger berührte
ich deine der Moosblüten. Sie zerfiel. Ich streckte den Finger nach einer
weiteren Blüte aus, Camlan fragte scharf: „Hörst du mir überhaupt zu?“ „Ja.
Aber wenn sie ablehnt, so spielt das kaum eine Rolle.“, ich blickte aus,
„Nicht wahr?“ „Du möchtest also gar nicht mit Gorlan ziehen. Dabei hatte ich
gedacht...“ Er knetete seine hellen Augenbrauen. „Man würde dir alle Ehren
erweise, und du wärst eine Prinzessin.“ „Eine Prinzessin bin ich ja schon.
Und mehr Prinzessin kann ich niemals sein.“ „Wie meinst du das?“ „Wenn sie
ihn zurückgewiesen hat“, sagte ich, „dann ist er auch nicht mein Vater. Und
das hatte ich eigentlich geglaubt. Ich dachte, deswegen sei er gekommen.“
„Und woher willst du wissen, dass er dein Vater ist?“ „Ich weiß nicht.
Aber...“, ich unterbrach mich. Wie sollte ich Camlan etwas erklären, dass
Gorlans Name vor mir wie ein Blitz aufgetaucht war. „Ich habe es eben
geglaubt.“ „Weil du schon so lange auf deinen Vater wartest, Myrlin.“, sagte
er mit ruhiger Stimme, „Doch Hoffen und Harren machen manchen zum Narren. Du
musst endlich die Wahrheit begreifen. Dein Vater ist tot.“ Meine Faust
krampfte sich in das Moos. Ich sah, wie die Knöchel weiß wurden. „Hat sie dir
das gesagt?“ „Nein“, er hob die Schultern, „Aber wenn er noch lebte, wäre er
schon längst gekommen. Da gibt es gar keinen Zweifel.“ Ich schwieg. „Lebt es
noch, ohne sich um deine Mutter und dich zu kümmern“, fuhr er fort, „so ist
es für alle Teile wohl das beste.“ „Vielleicht. Vielleicht auch nicht.“,
meinte ich und zog meine Hand aus dem Moos, das sich sofort wieder
entfaltete. Nur die kleinen Blüten waren fort. „Er hätte meiner Mutter viel
ersparen können, und mir auch.“ Mein Onkel nickte: „Es wäre gewiss klüger von
ihr gewesen, Gorlan oder einen anderen König zum Gemahl zu nehmen.“ „Was wird
mit uns geschehen?“, fragte ich. „Deine Mutter möchte in das Kloster von St.
Johannes treten. Und du – nun, du bist nicht dumm und kannst auch schon lesen,
wie ich hörte. Du könntest Priesterin werden.“ Ertappt! Er wollte nicht
gleich sagen „Nonne“, um mich nicht so einzuschüchtern, doch in dieser
Religion gab es keine Priesterinnen. Ich wusste, es würde nie so weit
gekommen, und deshalb ließ ich mich nicht weiter auf diesen Fehler ein.
„Nein!“ Er runzelte die hellen Brauen. „Höre, Myrlin.“, sagte er, „Zur
Kriegerin eignest du dich nicht. Und eine Priesterin führt doch ganz ein
angenehmes Leben.“ „Nein! Nein! Ich möchte frei sein! Ich möchte in kein
Kloster eingesperrt, und...“, rief ich hitzig und verstummte, weil mir die
rechten Worte fehlten. Wie sollte ich ihm erklären, was ich nur selbst ahnte?
Meine Augen suchten in seinem Gesicht. „Ich möchte bei dir bleiben. Und wenn
du mich nicht gebrauchen kannst, dann – dann laufe ich fort, um einem anderen
Prinzen zu dienen. „Nun“, seufzte er schließlich, „für solche Dinge ist es
noch zu früh. Du bist noch sehr klein.“ Er musterte mich. „Schmerzt dein
Gesicht?“ „Nein.“ „Man wird sich darum kümmern müssen. Komm jetzt.“ Er nahm
mich bei der Hand und wir gingen. Ich sah, dass er mich auf den Privatgarten
meines Großvaters zuführte und blieb stehen. „Das ist für mich verboten.“
„Nicht, wenn ich bei dir bin. Außerdem ist dein Großvater noch bei seinen
Gästen und kann dich nicht sehen. Ich habe etwas Besseres für dich, als deine
angefaulten Äpfel hier. Man hat Aprikosen gepflückt und ich habe aus einem
Korb die besten herausgesammelt.“ Mit federndem, katzenweichem Schritt ging
er auf eine Stelle an der Mauer zu, wo Aprikosen- und Pfirsichbäume standen.
Der betäubende Duft von Kräutern und Obst lag über dem Garten. Drüben, in
ihrem Schlag, gurrten die Tauben. Eine Aprikose lag zu meinen Füßen wie Samt
in der Sonne. Ich stieß mit den Zehen dagegen, sie rollte herum. Auf der Rückseite
war ein großes, fauliges Loch, in dem Wespen krochen. Ein Schatten fiel
darüber. Mein Onkel Camlan stand an meiner Seite, in jeder Hand eine
Aprikose. „Nimm nur“, er reichte mir eine, „Und wenn sie dich wegen
Diebstahls prügeln, müssen sie mich mitprügeln.“ Lächelnd biss er in seine
Frucht. Im Garten war es sehr heiß und sehr still. Das Summen der Insekten
war der einzige Laut. Die Aprikose in der Hand, stand ich, ohne mich zu rühren. Sie glänzte wie
Gold und roch nach Sonnenschein und süßen Säften. Ihre Haut war weich wie
Samt. Ich fühlte, wie mir das Wasser im Mund zusammenlief. „Was ist denn?“,
fragte mein Onkel ungeduldig. Der Saft seiner Aprikose lief ihm über das
Kinn. „Steh doch nicht so da, Myrlin! Beiß schon hinein! Oder gefällt dir die
Aprikose etwa nicht?“ Ich schaute auf. Die blauen Augen starrten mich grimmig
an. Ich hielt ihm die Aprikose hin. „Nein, sie gefällt mir nicht. Denn sie
ist innen schwarz. Schau doch. Man kann ja hindurch sehen.“ Er atmete tief. Plötzlich erklangen auf der anderen Seite der Mauer
Stimmen. Wahrscheinlich die Gärtner mit leeren Körben. Mein Onkel griff nach
der Frucht in meiner Hand und schleuderte sie von sich. Das goldene Fleisch
zerplatzte an der Mauer, Saft rann herab. Eine aufgescheuchte Wespe summte
zwischen uns. Camlan schlug nach mir mit einer schroffen Geste, plötzlich
klang seine Stimme voller Hass: „Bleib mir vom Leibe, du Teufelsbrut! Hörst
du? Lass dich nie wieder vor mir blicken!“ Er wischte sich mit dem Handrücken
über den Mund und ging mit großen Schritten auf das Haus zu. Ich blieb, wo
ich war, Augen unverwandt auf der Aprikose, deren Saft die weiße Mauer herab
rann. Eine Wespe ließ sich darauf nieder, kroch klebrig und torkelnd, dann
summend zu Boden. Zuckend wand sich der winzige Körper. Das Summen schwoll
zum Winseln. Dann streckte sich das Tier und lag still. Doch all dies gewahrte ich nur undeutlich, weil ein Würgen in meiner
Kehle saß, bis ich glaubte, ersticken zu müssen. Der goldene Tag verschwamm glitzernd
in Tränen. Es war, soweit ich mich erinnerte, das erste Mal in meinem Leben,
dass ich weinte. Körbe auf den Köpfen, tauchten die Gärtner hinter den Rosen auf. Ich
wandte mich um und rannte davon. Niemand war in meiner Kammer. Ich kroch auf mein Bett und stütze die
Ellbogen auf das Fenstersims. So verharrte ich lange Zeit, während draußen im
Birnenbaum eine Drossel sang und vom Hof der das monotone Hämmern des
Schmieds tönte. Irgendwann machte mir der Lärm aus der Küche bewusst, dass das Abendessen
bevorstand. Cynric, der Knecht, trat herein und starrte verdutzt, als er mein
Gesicht sah. „Der Heer sei uns gnädig! Was hast du denn getrieben? Bist du
etwa einem Stier vor die Hörner gelaufen?“ „Nein, nur hingefallen.“
„Hingefallen, ja? Dann möchte ich mal wissen, warum es ausgerechnet dich
immer so schlimm erwischt. Wer hat dir dieses Mal wieder so böse mitgespielt?
Etwa Dinias, das kleine Raubein? Oder die angehende Kriegerprinzessin?“ Als
ich nicht antwortete, trat er näher heran. Er war ein kleiner Mann mit
krummen Beinen und verwittertem, braunem Gesicht. „Hör mir mal gut zu.“,
erklärte er, „Wenn du größer bist, dann zeig ich dir, wie man’s macht. Ich
meine, wie man mit jemandem fertig wird, der größer ist, als man selbst. Ich
kenne da ein paar Kniffe, die es in sich haben, das kannst du mir glauben.
Bleibt einem ja nichts anderes übrig, wenn man nur ein Zwerg ist. Aber glaube
mir, ich lege auch schwere Kerle auf die Schulter – oder auch Weiber, wenn’s
drauf ankommt.“, er lachte und schien, den Kopf zur Seite wendend, ausspucken
zu wollen, besann sich dann aber anders. „Wenn du mal groß bist, wirst du
meine Tricks nicht mehr brauchen. Bist ja kein solcher Däumling, wie ich.
Aber um dein Gesicht sollte sich jemand kümmern. Sieht aus, als ob eine Narbe
bleiben könnte. Wo ist Moravik?“ „Bei meiner Mutter.“ „Na, dann komm mal mit
mir mit.“ Und so wurde der Riss auf meiner Wange mit Pferdeliniment behandelt.
Später aßen wir dann zusammen, im Stall auf Stroh hockend, während mich eine
braune Stute beschnüffelte und mein eigenes an seinem Strick zerrend, gierig
jeden Bissen beäugte. Augenscheinlich verfügte Cynric über beste Beziehungen
zur Küche. Es gab Hühnerkeulen, Speck und frischen Kuchen, das Bier war
schmackhaft und kühl. Vom Gesinde schien er erfahren zu haben, was
vorgefallen war, das verriet mir sein ernster Gesichtsausdruck. Doch er
schwieg und setzte sich, mir mein Essen reichend, zu mir. „Sie haben’s dir
erzählt?“, fragte ich. Er nickte und sagte dann kauend: „Er hat eine schwere
Hand.“ „Er war wütend, weil sie Gorlan abgewiesen hat.“, erklärte ich, „Er
möchte, dass sie meinetwegen heiratet, aber bisher hat sie das immer
verweigert. Und weil mein Onkel Dyved jetzt tot ist, und nur noch Camlan und
sie als Thronerben bleiben, haben sie Gorlan aufgefordert, sich mit ihr zu
vermählen. Wahrscheinlich hat Camlan meinen Großvater dazu aufgefordert, weil
er fürchtet...“ Überrascht und erschrocken starrte Cynric mich an: „Beim
Allmächtigen! Kind, woher hast du das alles? Wer hat dir das erzählt? Deine
Verwandten doch sicher nicht. Solle etwa Moravik ihren Mund nicht halten
können...“ „Ich hab’s nicht von Moravik. Aber ich weiß auch so, dass es
stimmt.“ „Aber woher denn, woher, in Thors Namen? Vielleicht
Sklavengeschwätz?“ Ich steckte der Stute den letzten Bissen zu. „Zu
heidnischen Göttern schwörst du, Cynric. Lass das ja nicht Moravik hören.“
„Ach was, mit der werd’ ich schon fertig. Aber nun heraus mit der Sprache:
Wer hat dir das erzählt?“ „Niemand. Ich weiß es eben. Woher – das kann ich
dir nicht erklären... Jedenfalls war mein Onkel Camlan genau so zornig, als
sie Gorlan abgewiesen hat. Er fürchtete nämlich, das eines Tages mein Vater
kommt, um sie zu heiraten, und ihn dann vertreibt. Aber davon sagt er meinem
Großvater natürlich wohlweißlich nichts.“ „Hm.“, er starrte mit halboffenem
Munde. Speichel lief über seine Lippen, Er schluckte hastig. „Mögen die
Götter – ich meine, mag Gott wissen, wo du das alles her hast. Aber es könnte
wahr sein. Na, sprich nur weiter.“ Das weiche Maul der braunen Stute stieß
sacht gegen mich. Aus geblähten Nüstern strich Luft über meinen Nacken. „Das
ist alles. Gorlan schäumt natürlich, aber sie werden ihn schon irgendwie
beschwichtigen, du wirst schon sehen.“ Einen Augenblick schwiegen wir beide.
Cynric bis in das Fleisch und schleuderte den abgenagten Knochen durch die
offene Stalltür hinaus. Sofort stürzte sich eine Meute von Hofkötern darauf
und schleppten ihn kläffend fort. „Myrlin...“ „Ja?“ „Es wäre klug von dir, zu
niemandem darüber zu sprechen, hörst du?“ Ich antwortete nicht. „Das sind
Dinge, die ein Kind noch nicht versteht. Dinge von höchster Wichtigkeit.
Sicher, über dies und das wird allgemein gesprochen... aber was du da eben
über Prinz Camlan gesagt hast...“, er packte mein Knie mit kräftiger Hand und
schüttelte es, wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. „Glaub mir,
Myrlin, er ist gefährlich, dein Onkel. Rühr nicht daran und bleib ihm aus den
Augen. Ich werde keiner Menschenseele ein Wort verraten, das schwöre ich dir.
Aber auch du darfst zu niemandem davon sprechen. Selbst als rechtmäßige
Prinzessin wärst du deines Lebens nicht mehr sicher, solltest du auch in des Königs Gunst stehen, wie
dieser Balg Dinias, oder seine hübsche Schwester. Aber bei dir ist das noch
viel...“, wieder schüttelte er mein Knie, „Hörst du, Myrlin? Für dich ist es
das Beste, den Mund zu halten und deiner Wege zu gehen. Und jetzt sage mir
endlich, wer dir all dies erzählt hat.“ Ich dachte an die Höhle im Hypokaustum und an dem Himmel, hoch oben
über dem Schacht. „Niemand. Das schwöre ich dir.“ Und als er mich musterte,
gleichermaßen unwillig und besorgt, rückte ich mit der Wahrheit heraus,
soweit sie unverfänglich war: „Ja, es stimmt schon. Hier und dort habe ich
etwas gehört. Manchmal unterhalten sich die Leute über meinen Kopf hinweg,
als ob ich gar nicht da wäre oder nichts verstünde. Doch oft...“, ich zögerte
unwillkürlich, „ist es auch, als ob etwas zu mir spräche und ich Dinge sehen
könnte... Manchmal reden die Sterne zu mir... und Stimmen und Musik klingen
zu mir im Dunkeln. Wie bei Träumen.“ Seine Hand hob sich wie zum Schutz. Er schien sich bekreuzigen zu
wollen. Aber dann sah ich, dass er ein Zeichen machte: gegen den bösen Blick.
Doch beschämt ließ er die Hand wieder sinken. „Träume, ja, das wird’s sein,
du hast Recht. Wahrscheinlich hast du in irgendeinem Winkel geschlafen und
mit angehört, was die Leute so reden. Fast hätte ich vergessen, dass du ja
noch ein so kleines Kind bist. Aber wenn du einen mit diesen Augen
ansiehst...“, er brach ab und zuckte mit den Schultern, „Versprich mir, dass
du niemandem etwas von dem sagst, was du gehört hast.“ „Gut, Cynric. Ich
verspreche es. Aber dafür musst du mir auch etwas sagen.“ „Und das wäre?“
„Wer mein Vater ist.“ Das Bier schwappte aus dem Trinkhorn in seiner Hand. Er
wischte sich den Schaum vom Mund, setzte das Gefäß dann an und blickte mich
beschwörend an. „Wie bei allen guten Geistern kommst du darauf, dass ich das
wissen könnte?“ „Vielleicht hat Moravik dir etwas verraten.“ „Weiß sie es
denn?“ Seine Frage klang so überrascht, dass es keinen Zweifel geben konnte:
er sprach die Wahrheit. „Ich habe sie danach gefragt, aber sie meinte nur, es
gäbe Dinge, über die man besser nicht spricht.“ „Das hat sie Recht.
Wahrscheinlich wollet sie dir damit auch nur zu verstehen geben, dass sie nicht
mehr weiß, als andere. Und das bring mich auf noch etwas, was ich dir sagen
will. Myrlin, stell’ niemandem mehr diese Frage. Wenn deine Mutter wollte,
dass du es erfährst, dann hätte sie es dir gesagt. Du wirst es schon zur
rechten Zeit erfahren.“ Ich sah, wie er, halb von mir abgewandt, wieder
dieses Zeichen machte. Schon wollte ich ihn fragen, ob er denn jene
Schauermärchen glaubte, als er nach dem Trinkhorn griff und aufstand. „Ich
habe also dein versprechen, ja?“ „Ja!“ „Ich habe dich beobachtet. Du gehst deine eigenen Wege, und
manchmal habe ich das Gefühl, dass du der wilden Natur näher bist, als wir
Menschen. Weißt du, dass sie dich nach dem Falken benannt hat?“ Ich nickte.
„Nun ja. Dann lass dir durch den Kopf gehen, was ich dir gesagt habe und vergiss’
für einen Augenblick die Falken, es gibt sowieso viel zu viele von ihnen.
Hast du schon einmal die Ringeltauben beobachtet, Myrlin?“ „Natürlich. Das
sind doch die, die mit den weißen tauben immer am Springbrunnen trinken und
dann frei davon fliegen. Ich habe sie letzten Winter zusammen mit den anderen
Tauben gefüttert.“ „In meinem Vaterland sagt man, dass die Ringeltaube viele
Feinde hat, weil ist Fleisch süß ist und ihre Eier gut schmecken. Aber sie
lebt und gedeiht, weil sie vor der Gefahr flieht. Und du, meine kleine
Myrlin, bist noch kein Falke, auch wenn deine Mutter dich so genannt hat. Du
bist nur eine Taube, vergiss das nicht. Verhalte dich still wie sie und begib
dich nicht in Gefahr. Merk’ dir meine Worte.“, er nickte zur Bekräftigung und
reichte mir dann die Hand, um mich empor zu ziehen, “Schmerzt der Riss noch?“
„Es brennt.“ „Dann beginnt es zu heilen. Mach dir darüber also keine Sorgen.
Bald wirst du nicht mehr davon sehen. Tatsächlich verheilte die Wunde sehr sauber und ließ keine Narbe zurück.
Doch in der ersten Nacht brannte und biss es so wild, dass ich kaum schlafen
konnte. Als ich nicht schlafen konnte, schlich ich mich an meinem Wolfshund
vorbei zum Hypokaustum. Aber in dieser Nacht hörte ich nichts von
Wichtigkeit. Nur Olwens Stimme sang, lieblich wie das zwitschern einer Amsel,
die ein Lied sang, das ich noch nie gehört hatte: von einer Wildgans und
einem Jäger mit goldenem Netz. Nach diesen Ereignissen verlief das Leben wieder in gewohnten Bahnen.
Die Wegerung meiner Mutter, sich zu vermählen, schien mein Großvater als
unabänderlich hinzunehmen. Ein oder zwei Wochen noch maß er sie bei jeder
Bewegung mit zornigem Blick, aber dann legte sich sein Unmut. Schließlich war
sein Sohn Camlan wieder da und außerdem begann die große Jagdsaison für den
Winter bald. Nur mit meinem Verhältnis zu Camlan stand es nicht zum Besten. Nach
dem Vorfall im Obstgarten hatte ich seine besondere Gunst verwirkt. Ich
meinerseits fühlte mich nicht schuldig. Aber er war nicht etwa unfreundlich
zu mir, und einige Male nahm er mich gegen die anderen Kinder in Schutz,
sogar gegen Dinias, der jetzt an meiner Stelle sein Liebling war. Doch ich bedurfte seines Schutzes nicht mehr. Mit Dinias konnte ich
alleine fertig werden, ich war gewitzter und schlauer als er. Camlan hielt es
vor der großen Jagdsaison für die Zeit, uns Kindern lesen und schreiben
beibringen zu lassen. Das scheinbare Interesse, dass Camlan vor allem an mir
in dieser Beziehung hatte erfreute meine Mutter sehr, und mich freute es
insgeheim auch, denn Camlan hätte genau so gut die Sachsen an unseren Küsten
mit neuen Waffen ausstatten können, er hätte genau so viel davon gehabt. Der Sommer und seine süßen Düfte wichen dem Herbst und seinen
absterbenden Farben, was mich immer zum Druidenfest in feierliche Stimmung
versetzte. Das Tal, die Hügel und die Ebenen wurden rot, braun und gelb. Die
Vögel zogen gen Süden, die Ernte wurde eingebracht und abends wurde es früher
dunkel. Maridunum liegt im Herbst genau so friedlich da, wie im Frühling und
Sommer, nur die kalten Winde vom Meer her bliesen durch das Laub, bewegten
sie kahlen Äste wie tote Glieder. Camlan hatte einen Lehrer aufgetrieben. Er war ein griechischer
Sklave, ein Gelehrter, der mir anvertraute, dass er nur durch die
Verstrickung in Schulden in die Sklaverei hinabgerutscht war. Oft lag er
betrunken da, schlief seinen Rausch aus. Die anderen merkten bald, dass er
sie nicht verriet, wenn sie ihn nicht verrieten, nach einem nächtlichen
Trinkgelage mit surrendem Atem seinen Rausch ausschlief. Er verzieh uns
unsere Schwänzerein und wir behielten sein Geheimnis für uns. Dinias, seine
Zwillingsschwester Briga, die ihm aussah, wie aus dem Gesicht geschnitten,
und der Rest der Bande hatten so bald wieder ihre alte Freiheit erlangt, denn
so lange sie niemand während der Unterrichtszeit sah, konnten sie tun, was
sie wollten. Ich hingegen mochte Chronos, den Lehrersklaven, wirklich. In den
zahlreichen Stunden, in denen er nüchtern und ich allein anwesend war, wurde
der Unterricht auch anspruchsvoller. Ich lernte binnen einer Woche das
griechische Alphabet und er erzählte mir währenddessen von seiner Heimat und
den vielen Geschichten über Griechenland, die sieben Weißen, wie Solon die
Demokratie einführte, von den sieben schönen Künsten und schließlich auch vom
römischen Imperium, als er versuchte, den anderen und mir Latein
beizubringen. Ich mochte es am liebsten, wenn wir beide allein waren, denn
dann lernte ich mehr und auch Dinge, für die ihn mein Großvater erschlagen
hatte, hätte er davon erfahren: die Demokratie und die Freiheit des Volkes. Ich sprach zwar alle vier Sprachen, die in Albion gesprochen wurden,
doch Chronos beherrschte auch Griechisch und Latein und auch wenn er glaubte,
ich sei zu klein dafür, musste er klein bei geben und er beschloss, als ich
endlich vier Jahre alt war, es auch mir beizubringen. Leider wurden Dinias und einige seiner Anhänger einmal im Wald bei
der Kaninchenjagd entdeckt – während sie eigentlich hätten in der Schulstube
sitzen sollen. Als mein Großvater sie entdeckte hatte er zwar Verständnis,
doch eine Prügelstrafe tat ihm nie leid und so wurde den fünf Herumtreibern
ordentlich der Hintern versohlt. Normalerweise hätte ich mich gefreut, doch es brachte mehr Nachteile
für mich, als für irgendjemanden sonst mit sich: ich konnte nun auch nicht
mehr ausreiten, wann ich wollte, während der Unterrichtszeit, da Dinias mich
sonst verraten hätte, und alle mussten wieder in die Stube sitzen und lernen.
Und am meisten tat mir der arme Chronos leid, die Strafe für ihn müsste
fürchterlich gewesen sein, auch wenn weder er noch Cynric mir etwas darüber
erzählten. Ich selbst tat mir auch leid, denn alles, was die anderen noch
lernen musste hätte ich so oder so schon gekonnt. Chronos war es mit der Zeit
ebenso leid, sich mit unwilligen Kindern herumzuschlagen, aber er war Sklave
und musste gehorchen. Trotzdem gab er mir immer wieder kleine Sonderaufgaben
und zeigte mir Schriften, während Dinias sich mit dem einfachen Alphabet
herumschlug und Briga versuchte, mit Fingern und Zehen eine Summe auszurechnen.
Chronos’ Schriften waren nicht die Bibliothek des Königs, in der ich mich
nach wie vor nicht erwischen lassen durfte, aber ich las sieh gern. Doch als das Ende des Winters kam, nahm auch dieser Unterricht sein
Ende... Die Dämmerung lag seit Ewigkeiten über den Feldern, aber nur langsam,
aber dafür stetig, wurde es dunkler. Ich saß mit Olwen allein in ihrem
Musikzimmer. Während sie mit ihrer Amselstimme eines ihrer Lieblingslieder,
die Ballade des Götterfalken, sang kauerte ich auf ihren Knien und spielte
die Harfe. Ich konnte noch bei weitem nicht so gut spielen wie Olwen, doch
ich kannte die Töne und konnte von den Noten ablesen, wann sie zu spielen
waren. Olwen meinte, es sei eine Wohltat, zusammen zu musizieren, denn so
könne sie sich besser auf das Singen konzentrieren. Bei unseren anfänglichen
Versuchen hatte sie noch meine Hände geführt, so musst ich immer auf ihrem
Schoß Platz nehmen. Mit der Zeit brauchte ich ihre Führung nicht mehr, doch
dass ich immer noch auf ihren Knien saß, hatte zwei Gründe: wenn mein
Großvater plötzlich kam, konnte sie so tun, als habe sie dir ganze Zeit die
Harfe gespielt und den anderen Grund verriet sie mir erst Jahre später. Die Harfe war ein großes, kostbares Instrument, das mein Großvater
ihr zur Hochzeit schenkte. Das Gestell war aus Brokat, mit Verzierungen und
Anhängseln aus Elfenbein und Geschmeide. Der Rahm war verziert mit einem
langgestreckten Drachenkörper, dessen Kopf fein am oberen Ende mit wertvollen
Steinen eingesetzt war. Ich hatte es nie jemandem erzählt, auch nicht Olwen,
dieser Drache war der Pendragon. Ich spürte es, als ich diese Harfe zum
ersten Mal sah, seine Gestalt schien mir seltsam vertraut und vor mir sah ich
manchmal den Pendragon, auf einem roten Banner, das im Wind wehte. Ich kannte
keinen Fürsten oder Ritter, der unter dem Zeichen des Pendragons ritt, aber
ich wusste, es war einst das Zeichen König Arthus’. Die Saiten waren fein gearbeitet und klar gestimmt, doch am Anfang
taten mir die Finger weh, wenn ich ein bisschen gespielt hatte. Olwen meinte,
das sei normal, ihr sei es selbst so ergangen. Aber meine Finger taten nicht
mehr weh, ich ließ sie über die Saiten gleiten und spielten sie von ganz
allein zu Olwens Gesang, während ich einen anderen Liedtext hörte. Nein, es
war weniger ein Lied, denn eine Warnung. In der Dunkelheit lauert die Gefahr, sie sind überall, sie sind immer da. Sie werden auferstehen, kannst du sie sehen? Kannst du sie sehen? (Erscheine!) Mach deine Augen auf! Kannst du sie sehen? In der Dunkelheit lauert die Gefahr, sie sind überall, sie sind immer da. Sie zeigen ihre Macht, wenn die Nacht anbricht, sie bekämpfen sich, sie zeigen ihr Gesicht. Mach die... Ich wurde wieder zurückgeholt, als ich bemerkte, das Olwen aufgehört
hatte sie singen, und beunruhigt auf mich einsprach. Ich verstand nicht, was
sie sagte, aber ich bemerkte ihren erschrockenen Tonfall. „Odry!“,
es war nicht Olwen, die meinen Namen rief. Es war nicht Olwen und der Ruf
schien nicht mir zu gelten, es war zwar die Stimme meiner Mutter, die fern
und leise klang, aber ihr Rufen galt nicht mir. „Myrlin!“, Olwen schüttelte mich sacht und ich sah auf. Sie sah
angsterfüllt aus, ich hatte ihr nicht zugetraut, noch so gefasst zu bleiben,
denn sie saß still da. „Ich bin nur schläfrig geworden. Weil du so schön
gesungen hast, das hat mich...“, ich wollte Olwen nicht beunruhigen, so log
ich, und sie glaubte mir. „Natürlich, es ist auch schon fast Abend.“ Olwen
war noch nie zuvor schwanger gewesen, so würde sich der Bauch erst spät
wölben, doch man sah bereits die ersten Anzeichen. „Die Musik beruhigt auch
ihn, und selbst mich.“, erklärte sie, mit einem Lächeln. „Ich bin sicher zu
schwer für dich.“, rutschte von ihren Knien. „Ach nein, du bist leicht wie
ein Spatz.“ Der Knabe wird kein langes Leben haben... ich fröstelte,
diese Stimme hatte mir auch den Namen von König Gorlan eingeflüstert, und nun
prophezeite sie den Tod von Olwens Sohn. Eine unsichtbare Macht schien mich
dazu bringen zu wollen, Olwen diese Worte laut zu verkünden, aber ich konnte
mich daran hindern. Olwen behandelte mich fast so liebevoll wie ihr eigenes Kind, auch
wenn sie es nicht oft und offen tun konnte. „Bald gibt es Abendessen, in
letzter Zeit erwische ich mich dabei, wie ich immer hungriger werde.“, sagte
Olwen. Sie sprach selten so offen, wahrscheinlich lag das an der
Schwangerschaft, doch zu mit mir hatte sie immer offenherziger gesprochen,
als zu anderen. Ich nickte, ich hatte seit dem späten Morgen nichts mehr
gegessen, da ich lange allein im Schulzimmer über einer Übersetzung gebrütet
hatte, die mir Chronos am Tag zuvor aufgegeben hatte. Ich hatte den Griechen
heute zwar noch nicht zu Gesicht bekommen, doch ich brauchte seine Hilfe dazu
nicht. „Hoffentlich kommt der König mit Wild zurück.“, sagte Olwen. Plötzlich
ging die Tür auf. Ich seufzte enttäuscht, als ich zuerst nur Brigas
sommersprossiges Gesicht sah, doch ihr Begleiter machte mich neugierig. Der
Mann war wahrscheinlich kaum 25, sah aber sehr viel jünger aus, wie ein Kind,
das zu schnell erwachsen geworden war. Dasselbe hielt ich auch immer von
Olwen, eine zerbrechliche Puppe, der man die Kindheit geraubt zu haben
schien. Der Mann hatte genau so milchweiße Haut, kurzer, seine schwarzen
Haare schienen ungekämmt, standen in kurzen Strähnen von seinem Kopf ab.
Olwens Bruder... ich wusste es, ohne dass ich es gesagt bekam, die
Ähnlichkeit sprach für sich. „Diese kleine Lady versprach, mich zu Euch zu bringen, Schwester.“,
er sprach freundlich, seine Bewegungen waren höfisch und geübt. Nicht die eine
Kriegers. „Es freut mich, dass ihr Euch ausgeruht habt. Kommt, setzt Euch zu
uns.“, forderte Olwen ihn auf. Der junge Mann setzte sich ihr gegenüber. „Ich
freue mich zu sehen, dass es die walisischen Musikliebhaber doch noch gibt.“,
meinte er und lächelte mich an. Briga schloss die Tür und setzte sie
provokant zu Olwens anderer Seite. Ich mochte sie nicht, sie war genau so
jähzornig, wie ihr Bruder. „Oh, ich vergaß, das ist mein Bruder, Allan.“,
stellte Olwen den jungen Mann vor, „Er ist schon weit herumgekommen, auch auf
der anderen Seite des Meeres war er. An fremden Küsten.“ „Auch schon in
Rom?“, platzte es aus mir heraus. „Oh ja, besonders dort.“, er begann zu
erzählen, „Doch Rom ist nur noch ein trauriges Abbild vom einstigen Herzen
der Welt. Das Kolosseum des Augustus ist in einem schlimmen Zustand und die
Tempel der Götter sind ein trauriger Anblick.“ „Aber du kennst doch bestimmt
eine kleine Geschichte, über Rom, in der alten Blütezeit.“, sagte Olwen. „Ich
kenne Geschichten der großen Feldherren. Caesar, Pompeius, Cato...“ „Auch
Cicero?“, fragte ich. „Oh ja, sie alle waren große Mannen. Der gesamte Senat,
große Männer. Doch sie alle fanden ein trauriges Ende. Kennt ihr die
Geschichte von der Schlacht bei Alesia?“ Ich schüttelte den Kopf, und ohne auf
Briga zu achten begann er zu erzählen: „Caesar war Jahre in Gallien
unterwegs. Er eroberte Gebiete und verhalf Rom zu einer mächtigen Größe. In
Rom selbst stritt der Senat täglich über Caesars Rückkehr. Sie hatten Angst,
er könne wie Sullar einst mit seiner riesigen Streitmacht Rom einnehmen.
Stimmen wurden laut, die Caesars Rückkehr forderten und auch Pompeius befiehl
die Angst, sein Freund könne die Herrschaft in Rom an sich reißen und den
Senat und die Volkstribunen entmündigen. Doch Caesar kämpfte weiter und
eroberte mehr und mehr Land. Bis sich die Gallier unter ihrem Anführer
Vercingetorix versammelten und sich in ihrer übermächtigen Festung Alesia
verschanzten. Man sagte Caesar, Alesia sei uneinnehmbar, er würde
Vercingetorix nicht angreifen können. So beschloss der große Feldherr einen
Belagerungsring um die Festung zu bauen. Die Gallier beobachteten dies mit
Argwohn, denn die Römer würden sie gewiss aushungern und ihre Vorräte
reichten nicht lange. Vercingetorix hoffte auf Hilfe von außen. Doch auch
Caesar schien zu ahnen, dass weitere Truppen von Galliern kommen würden und
ließen zusätzlich einen äußeren Belagerungsring anlegen, die wohl schlauste
Kriegsliste seiner Zeit. Vercingetorix wurde ungeduldig, die Verstärkung kam
nicht und die Vorräte ging schneller zur neige, als er gedacht hatte. Zwar
hungerten auch die Römer, doch für Vercingetorix’ Männer sah es eindeutig
schlechter aus. Da traf er eine schwere Entscheidung: er wollte die Frauen
und Kinder den Römern als Sklaven überlassen, denn wenn sie die Sklaven der
Römer waren, mussten diese sich um sie kümmern. So öffneten sie die Tore
ihrer Festung und lieferten ihre Familien den Feinden aus.“ „Aber Caesar hat
sie nicht aufgenommen, oder?“, fragte ich. „Nein, aber auch die Gallier
hielten die Tore verschlossen. Sie verhungerten.“ „Aber wieso haben die Römer
sich nicht um sie gekümmert?“ „Sie hatten selbst nicht genug und Caesar war
nur am wohl seiner eigenen Männer interessiert.“ „Er selbst hätte sie doch
gar nicht durchfüttern müssen, er hätte ja Vorräte von Rom bekommen und sie
gleich dort hin bringen lassen können.“ „Da hast du wohl Recht.“, seufzte
Allan schließlich, ihm schien es zu gefallen, jemanden für seine Geschichten
gefunden zu haben. „Ich glaube nicht, dass das passend ist, für Kinderohren.“,
warf Olwen ein. „Nein, vielleicht hast du Recht, Schwester.“ Doch bevor er weitere Geschichten erzählen konnte, holte ein Diener
die Königin und ihren Bruder zum Abendessen und auch ich beschloss, in die
Küche zu gehen. In der großen Halle prasselte das Feuer und bald würden der König und
sein Gefolge wieder von der Jagd zurück sein. Ich bemerkte, dass auch Briga
mir gefolgt war und sich nun an mir vorbei, zum Feuer drängend. Da vernahm
ich im Säulengang schwere Schritte – mein Großvater war von der Jagd
zurückgekehrt. Normalerweise sah er aber immer blutbeschmiert und befriedigt
dabei aus, doch nun... Sein Gefolge, mein Onkel, alle fixierten mich mit
ihren Blicken und ich wusste, das, was auch immer passiert war, er glaubte,
ich sei daran Schuld. „Ich dachte schon, er prügelt dich tot.“, wiederholte Cynric
kopfschüttelnd, „Diesen griechischen Halunken zu beschützen war es nicht
wert.“ Ich lag nur still auf meiner Wolldecke, sagte nichts, rührte mich
nicht. „Komm schon!“, er half mir, mich wieder auf zu setzten. „Ich dachte
schon, er prügelt dich tot.“, wiederholte Cynric vorwurfsvoll, „Ich dachte
schon, du bleibst in deiner eigenen Blutlache liegen.“, er nahm meine Arm und
schmierte noch mehr Liminent auf die Wunden, Kratzer, Risse und Prellungen. Wenn
ich dachte, mein Großvater sei wegen meiner Steifzüge in die Bibliothek
damals wütend geworden, dann war ich jetzt eines Besseren belehrt worden. Ich
hatte leider erst zu spät gemerkt, was Chronos mir hatte sagen wollen. Die
Übersetzung, der Text; er wollte in die Bretagne flüchten. Es waren Wörter
aus dem Original ersetzt worden „litus“, der einzige Strand in der Nähe war
an der Küste Galliens auf der anderen Seite der kleinen See. Ich hatte keine
Ahnung, was Chronos dort zu finden verhoffte, doch die Männer meines
Großvaters würde ihn schnell wieder einfangen, bei dieser Jahreszeit konnte
kein Mensch übersetzten, ohne eine ordentliche Summe zu bezahlen. Mit tat
jeder einzelne Knochen im Leib weh. Cynric versuchte mich ununterbrochen dazu
zu überreden, zu sagen, was ich wusste, wenn ich etwas wusste, sonst würde
ich es später noch bereuen. Ich sagte gar nicht, vielleicht hatte ich mich in
meinen Schlussfolgerungen ja geirrt, war meine vage Hoffnung. In dieser Nacht lag ich hungrig und von Schmerzen geplagt wach und
konnte nicht einschlafen. Als ich mir sicher war, dass Moravik und Cynric
nebenan schliefen, stand ich auf, um zum Hypokaustum zu gehen. In der Höhle legte ich mich auf das Stallstroh und sah wieder in den
Himmel. Es war kalt, doch die Sterne schienen trotzdem und ich fragte sie
nach Chronos. Nichts. Dann hatte ich eine andere Idee. Ich hatte Cynric
versprochen, niemanden nach meinem Vater zu fragen, doch dies war damit
sicher nicht gemeint. Der Wald erschien, der Fluss… es war eine Stelle die ich
noch nicht gesehen hatte, eine Höhle… Komm
zu mir… Ich weiß nicht, ob mich die Schmerzen damals zurückgeholt haben
oder ob es die Stimmen waren, die ich vernahm. Ich lauschte diesmal in reale
Richtungen und erkannte die Stimme meines Großvaters. Wenn er mich im
Hypokaustum erwischt hätte, hätte ich zweifellos mein letztes Gebet sprechen
können. Aber es zog mich an. Lautlos kroch ich durch die Gänge und blieb
schließlich unter dem Arbeitszimmer des Königs, legte mich flach auf den
Bauch und wartete. Anfangs konnte ich nur ein Wort verstehen: Mordred… aber
mein Großvater sprach weiter: „Wenn er wirklich Mordreds Spion war müssen wir
ihn finden.“, erklärte er in seinem üblichen, scharf klingenden Tonfall. „Und
woher sollte der Bastard etwas wissen? Er kann sowieso nicht fliehen. Und
außerdem wissen wir jetzt, wenn er wirklich ein Spion ist, dass Mordred
wirklich etwas plant.“, meinte Camlans Freund, Alun. Der Rest drehte sich nur
wieder um Mordred, der angeblich in der Bretagne Truppen sammelte, um den
Thron seines Vaters zurückzuerobern. Diese Gerüchte gab es seit meiner
Geburt, doch es war seither das erste Zeichen von Mordred… An die nächsten Tage erinnere ich mich nur noch undeutlich. Nachdem
ich mich zurück in mein Zimmer geschleppt hatte war ich eingeschlafen. Noch
im Traum verfolgten mich Bilder, die ich nicht deuten konnte und jemand, der
mich rufend aufforderte zu kommen… Mein Großvater hatte mir verboten, mein Zimmer zu verlassen, aber ich
wäre auch kaum dazu in der Lage gewesen. Als Moravik am nächsten Morgen ein
bisschen Gerstenbrot bringen wollte gewahr ich nur undeutlich, wie sie alle
Heiligen anrief, die sie kannte. Es waren nicht die Wunden, die sich
entzündet hatten, es war mein Geist, der sich lösen wollte, das weiß ich
jetzt. Moravik glaubte, ich hätte Fieber und genau so fühlte es sich auch an:
ein Fiebertraum. Ich war nicht oft bei Bewusstsein, Tag und Nacht versuchte
mich etwas fortzuzerren, die Stimmen wurden eindringlicher und bevor ich
schließlich am dritten Tag gesund erwachte sah ich dich… Von meinem Träumen war mir kaum etwas im Gedächtnis geblieben, du
musst dafür gesorgt haben, dass ich dein Bild wieder vergesse, bevor die Zeit
gekommen ist. Nur eines wusste ich, jemand wartete auf mich und ich musste
kommen. Ich lag lange Zeit da, ohne dass jemand herein kam oder Notiz von mir
nahm. Am Spätnachmittag dann kam Cynric herein und erzählte mir, dass Chronos
tot war. Nur dass er ein Spion war wusste er nicht. Mein Großvater vergaß, dass ich mit dieser Sache etwas zu tun hatte,
oder sprach es zumindest nicht mehr an. Ich war vielleicht der einzige, der
um Chronos in ganz Albion trauerte, aber nicht auf der ganzen Welt. Zu Dinias
Pech bekamen wir einen anderen Lehrer, der aber als Sklave genau so wenig von
Disziplin hielt… Camlan seinerseits heiratete noch vor der Wintersonnwende
die Tochter des Großkönigs. Er tat sich als Anführer und Krieger hervor und
auch sonst schien er seinen Vater zufrieden zu stellen, denn bald war seine
junge Frau schwanger. An Dinias rächte ich mich noch einmal. Eines Nachts kroch ich auf dem
Weg zu meiner „Höhle“ unter seiner Schlafkammer vorbei und vernahm lautes
Lachen. Mit Brys, einem seiner Anhänger, sprach er über einen Streich, den
sie sich geleistet hatten: Heimlich waren sie Alun, Camlans Freund, zu seinem
Stelldichein mit einer Magd gefolgt und hatten alles beobachtet. Als mir
Dinias am nächsten tag auflauerte, fragte ich ihn, einige Sätze aus seiner
Unterhaltung wörtlich aufzählend, ob er schon Alun über den Weg gelaufen sei.
Er starrte mich an. Blitzschnell wechselten Blässe und Röte in seinem
Gesicht. Seine Furcht, vom jähzornigen Alun durchgeprügelt zu werden, war
offenkundig. Er schien sich zu fragen, woher ich meine Weisheit hatte und
drückte sich dann scheu an mir vorbei, hinter seinem Rücken das Zeichen
machend. Er glaubte also, dass hinter meinem schlichten Trick Zauberei
steckte. Von da an ließen mich die anderen Kinder in Frieden. Gerade noch rechtzeitig denn in jenem Frühling stürzte ein Teil des
Badeshauses ein und mein Großvater ließ die Löcher zuschütten und Rattengift
auslegen. Der geheime Zugang zu meinem Wissen war mir also versperrt und ich
musste auf andere Weise mein Haupt retten. Eines Tages im frühen Frühling, stahl ich mich nach dem Unterricht
davon und ritt hinaus in die Hügel hinter der Stadt. Es war nicht das erste
Mal, dass ich diesen Weg einschlug. Ein Umweg eigentlich. Doch hätte mich der
kürzere Weg durch die Stadt geführt, wo neugierige Blicke und Fragen
unausweichlich gewesen wären. So zog ich es vor, am Flussufer entlang zu
reiten, am Kloster und an der Mühle, wo die Schiffe ihre Lasten abluden,
vorbei. Und dort, jenseits der Stadt, lag ein Tal, durch das ein Bach floss,
der in einem Fluss mündete. Es war ein heißer, schläfriger Tag. Adlerfarn duftete schwer. Über
dem Wasser zuckten blau schimmernde Libellen hin und her. Dicke Wolken
summender Fliegen hockten auf Sträuchern und Bäumen. Es würde Stunden dauern,
ehe man meine Abwesenheit bemerkte. Dem Flusslauf folgend schlängelte sich
der Pfad in engen Windungen dahin, ehe er schließlich durch Dorngestrüpp in
einem Bogen den offenen Hang hinaufstrebte. Die Sonne stand steiler. Leichter Windhauch strich durch die
Sträucher. Ich trieb das Pony an. Jetzt sah ich auch die ersten Kiefern,
deren Stämme rötlich in der Helle schimmerten. Der Boden wurde rauer und
härter. Kahles, graues Gestein kroch durch die dünne Erdkruste. Wohin der
Pfad mich führte wusste ich nicht, ich wusste nur eines: Ich war allein, ich
war frei. Nichts verriet mir, was für ein Tag dies war oder was mich führte.
Die Hitze sengte sich und ich spürte Dunst. Der Pfad lief nun unter einer
niedrigen Felsnase dahin. Irgendwo über mir hörte ich das Geplätscher von
Wasser zwischen den Steinen. Ich hielt das Pony an, stieg ab und führte es
ins Gehölz, wo ich es anband. Dann machte ich mich auf die Suche nach dem
Wasser. Der Fels neben dem Pfad war trocken. Auch unterhalb des Pfades
deutete nicht daraufhin, dass hier irgendwo ein Rinnsal seinen Weg zum Bach
suchte. Und doch hörte ich, stetig und unverkennbar, das Plätschern von
Wasser. Kurz entschlossen klomm ich die mit Büschel bewachsene Anhöhe
seitlich des Felsens empor und gelangte auf einen Grasüberwucherten Absatz,
über dem sich, ein wenig zurückgesetzt, eine weitere Felswand erhob. Und
plötzlich entdeckte ich sie, die Höhle
mitten in dieser Wand. Eine enge und regelmäßig gerundete Öffnung, fast einem
Torbogen gleich, führte ins Innere. Rechts diesem Eingang lag eine kleine
Kuppe – Felsgestein, das vor Jahren einmal herabgestürzt sein musste. Und
dort wuchsen Eichen und Ebereschen, deren Schatten die Höhle überschatteten.
Links, und nur wenige Schritte vom Eingang entfernt, fand sich die Quelle.
Ich näherte mich ihr. Ein winziges glitzern nur zeigte an, wo das Wasser aus
dem Felsspalt drang, ehe es sich mit stetem Plätschern in ein Steinbecken
ergoss. Einen Abfluss konnte ich nirgends entdecken. Vermutlich fand das
Wasser durch einen zweiten Felsspalt den Weg hinunter zum Bach. Durchsichtig
klar war es und ich konnte jeden Kiesel, ja selbst jedes Sandkorn auf dem
Grund des Beckens erkennen. Oberhalb der Steinschale wucherte Zungenfarn, an
ihrem Rand wuchs Moos und unterhalb breitete sich saftiges Gras. Hier kniete ich nieder und wollte eben den Mund zum Wasser beugen,
als ich den Becher entdeckte, der in einer winzigen Nische zwischen den
Farnen stand. Er war etwa eine Handspanne hoch und bestand aus braunem Horn.
Ich griff danach und sah plötzlich, zwischen den Farnen halb verborgen, die
kleine, aus Holz geschnitzte Figur eines Gottes. Ich erkannte ihn: Unter der
Eiche bei Tyr Myrddin hatte ich ein solches Bildnis schon gesehen. Hier nun
stand er in seinem Reich unter freiem Himmel. Ich füllte den Becher und trank. Dann betrat ich die Höhle. Sie war viel größer, als sich von außen vermuten ließ. Wenige kurze
Kinderschritte nur und sie öffnete sich zu einem weiten Gewölbe, oben von
Schatten umhüllt. Sie schien dunkel und was doch (auch wenn ich dies zuerst
nicht wahrnahm noch nach dem Grund dafür fragte) von einer unnennbaren Helle,
so dass ich deutlich den glattgeebneten, völlig leeren Boden unter mit
erkannte. Angestrengt spähend, bewegte ich mich langsam voran, und tief in
mir wurde jene wogende Erregung wach, die der Anblick von Höhlen stets in mir
erweckt. Anderen Menschen geht es beim Anblick von Wasser oder Feuer so, oder
auch bei hohen Gipfeln. Ich fühle mich immer von der Tiefe der Wälder oder
auch der erde gepackt. Ich hatte etwas Neues entdeckt: etwas, das ich mir in
einer Welt, in der nichts mein eigen war, zu eigen machen konnte. Plötzlich
durchzuckte mich ein Schreck und ich blieb stehen. Nicht weit weg von hier
hatte ich im Halbdunkel eine Bewegung gewahrt. Ich stand wie erstarrt. Spähte
mit zusammengekniffenen Augen. Und sah nichts. Ich hielt den Atem an. Kein Geräusch. Prüfend sog ich die Luft ein.
Es roch weder nach Tier, noch nach Mensch. Nur der Geruch von Erde, Rauch und
feuchtem Fels wurde spürbar. Und ein eigentümlich muffiger Geruch, den ich
nicht identifizieren konnte. Instinktiv wusste ich, dass niemand in meiner
unmittelbaren Nähe war. Leise sagte ich auf walisisch: „Zum Gruß!“, doch in raschen Echo
kamen die Worte vom wahrscheinlichen nahen Felswall zurück und verloren sich
dann zischend in der Höhle. Und aus dem Widerhall meines Flüsterns schien es zu steigen, ein
Rauschen, das wuchs, wie das Rascheln von Gewändern oder das Flattern eines
Vorhangs in bewegter Luft. Dann fuhr mit schrillem, schier tonlosem Schrei
etwas an meinem Kopf vorüber. Und mehr, immer mehr, Flocken zerrissener Schatten gleich,
herabregend aus der höhle wie windgepeitschtes Laub: Fledermäuse, die
aufgescheucht von ihren Schlupfwinkeln hinausströmten ins lichte Tal. Ich stand bewegungslos. Dieser muffige Dunst, den ich wahrgenommen
hatte, stammte er vielleicht von ihnen? Nein. Der Geruch, den die vorbei fliegenden
Tiere ausströmten war anders. Immer noch stoben sie dahin, doch kein
Flügelschlag berührte mich. In Tageshelle wie Nachtschwärze weichen
Fledermäuse jedem Hindernis aus. Wie Federleichte Blütenblätter scheint sie
der Wind um jedes Hemmnis herumzutragen. In dichter Flut bewegte es sich
zwischen der Felswand und mir und in kindlicher Neugier trat ich näher. Schob
teilte sich die Flut und schoss weiter voran, während sachter Lufthauch gegen
meine Wangen prallte. Und im gleichen Moment sah ich es; mit mir hatte es
sich bewegt, ein Wesen wie ich. Ich tastete mit ausgestreckter Hand. Meine
Finger trafen nicht auf Fels, sondern auf Metall, und ich begriff, dass jenes
fremde Wesen mein Spiegelbild war. An der Wand hing eine matt glänzende Metallplatte, und ganz
offensichtlich war sie die Quelle des diffusen Lichts in der Höhle. Die
seidige Spiegelfläche fing vom Eingang her die Helle ein und sandte sie ins
Höhleninnere. Unwillkürlich zuckte ich vor meinem geistergleichen Abbild
zurück. Und sah, wie meine Hand, schon am Dolch in meinem Gürtel, sich
erleichtert von der Waffe löste. Die Flut der Fledermäuse war verebbt. Die Höhle lag still. Aufmerksam
betrachtete ich mich im Spiegel. Ich erinnerte mich, dass meine Mutter einmal
einen gehabt hatte, ein altes Stück aus Ägypten, bald wieder außer Gebrauch,
da solche Dinge sie eitel dünkten. Natürlich hatte ich mein Gesicht schon oft
im Wasser gesehen, doch hier erblickte ich mich erstmals ganz: ein
dunkelhaariges Mädchen, das aus aufgerissenen Augen neugierig und erregt
starrte. Schwarz wirkten meine Pupillen hier, im trüben Licht, fast schwarz
auch mein sauberes, nackenlanges Haar, das durch die Locken schlechter
geschnitten aussah als die Mähne meines Ponys. Auch mein Gesicht spottete
jeder Beschreibung. Ich lächelte, und bereitwillig warf der Spiegel mein
Lächeln zurück. Plötzlich verwandeltes Bild: nicht mehr gehetztes Tier,
bereit zur Flucht oder Gegenwehr, sondern ein Gesicht voll Offenheit und
Zutraulichkeit. Und schon damals wusste ich, dass nur wenige Menschen mich so
kannten. Ich ließ meine Hand über das Metall gleiten. Es war kalt und glatt
und frisch geputzt. Es musste also erst kürzlich jemand hier gewesen sein.
Vielleicht lebte er immer noch in der Höhle. Jeden Augenblick konnte er
zurückkehren. Doch ich hatte kaum Angst. Auch in friedlichen Zeiten, wie sie in
unserer Gegend herrschten, lernte man schon früh auf der Hut zu sein vor
herumstreunenden Verbrechern und Vagabunden. Wer gerne auf eigene Faust
handelte, wie ich, musste sich seiner Haut zu wehren wissen. Für mein Alter
war ich recht kräftig, zudem vertraute ich meinem Dolch und meinem Bogen.
Dass ich kaum fünf Lenze zählte, das kam mir gar nicht in den Sinn. Ich hieß
Myrlin, und ob nun Bastard oder nicht: Ich war die Enkelin des Königs. Ich drang weiter vor. Als nächstes spürte ich eine Truhe nahe der
Wand auf. Darauf entdeckten meine tastenden Finger Feuerstein, Eisen und
Zunderbüchse. Dann stieß sie gegen eine große, ungefüge Kerze aus Schafstalg
– und auf einen gehörnten Schafsschädel. Hier und dort in der Truhe staken
Nägel, die durch Fetzen von Leder getrieben schienen. Doch als meine Finger
die Formen befühlten, glitten sie über winzige Knochenskelette, von
verschrumpfter Lederhaut umhüllt. Es waren tote Fledermäuse. Ausgestreckt auf
das Holz genagelt. Eine Schatzhöhle fürwahr. Weder die Entdeckung von Gold oder Waffen
hätte mich mehr erregen können. Neugierig langte ich nach der Zunderbüchse. Dann hörte ich, dass er zurückkam. Mein erster Gedanke war, dass er mein Pony gesehen hatte. Doch offenbar
näherte er sich der Höhle von oben. Kleine Steine prasselten herab, ein oder
zwei klatschten ins Wasserbecken draußen. Und dann war es zu spät. Er sprang
herab ins flache Gras neben dem Wasser. Keine Zeit für falsche Tapferkeit: der Falke verwandelt sich in die
Taube. Rasch lief ich tiefer in die Höhle hinein. Eine Hand bog die Zweige beiseite, die den Eingang überschatteten und
für einen Augenblick wurde es lichter. Im Hintergrund der Höhle erkannte ich
einen Hang mir vorspringender Felsnase und breitem, nicht allzu hohem Absatz.
Funkelndes Sonnenlicht, vom Metallspiegel her, glitt über ein schattiges Loch
dort oben. Lautlos klomm ich empor und verbarg mich in dem Spalt, der zu
einer weiteren, kleineren Höhle führte. Wie ein Fischotter schlängelte ich mich
hindurch. Er schien nichts gehört zu haben. Das Gezweig am Eingang schnellte
zurück, und die Helligkeit verlosch. Ruhige und feste Männerschritte näherten
sich. Zielsicher strebten sie auf die Truhe zu, wo die Kerze stand.
Missbehaglich verharrte ich in der winzigen Höhle, in die ich gekrochen war.
In Form und Ausdehnung schien sie jenen Bottichen zu gleichen, die am Hofe
zum Färben benutzt wurden. Ich stak wie im inneren einer Kugel, deren Wände
mit Nadeln gespickt schienen, mit kantig hervorspringendem, scherbengleichem
Gestein, das auch keine Handbreit glatter Fläche freiließ, und es war wohl
auch nur mein geringer Körpergewicht, das mich vor Schaden bewahrte, als ich
blind nach einer freien Stelle tappte, wo ich mich hinlegen konnte. Ich fand
sie schließlich, leidlich glatt, und kauerte darauf nieder, Blick durch den
trüb umrissenen Spalt in die Großhöhle gerichtet, Dolch schon in der Hand. Ich vernahm das Gegeneinanderschlagen von Feuerstein und Eisen. Dann
flammte der Zunder grell ins Dunkel. Und schließlich schimmerte der sanfte
Schein der Kerze auf. Schimmerte auf? Oh, nein. So hätte es wohl sein sollen: das langsame
Anwachsen matten, milden Kerzenscheins. Statt dessen loderte es empor wie
eine Flammen sprühende, Flammen speiende Fackel. Helle blinkte und blitzte
weiß und rot und golden. Feuergarben blendeten mich. Furchtsam zuckte ich
davor zurück und presste mich gegen die dornenscharfen Wandlungen meiner
Höhle. Das ganze Verlies schien in Flammen zu stehen. Und tatsächlich, jetzt sah ich es genau, war es ein kugelartiges
Gewölbe, ausgekleidet mit Kristallen, fein und glatt wie Glas, doch klarer,
als ich’s je gesehen, und leuchtend wie Diamant. Und genau so empfand es mein
kindliches Gemüt: ich hockte in einer Diamanten bestückten Kugel, funkelnd
Edelstein in Edelstein, millionenfach hin und her geschleuderte
Strahlenbündel, glänzende, gläserne Lichtflut, regenbogenfarbig und
sternengleich – die Umrisse eines blutrot hochgereckten Drachen an der
Windung und darunter, mit geschlossenen Augen und verschwommen nur, ein
Mädchengesicht. Sengend brannte sich das Licht in mir in den Leib, als müsse
ich zerbersten. Ich presste die Augen zusammen und verharrte so sekundenlang. Als ich
sie wieder öffnete war das Licht dahingeschrumpft. Nur an einer Stelle an der
Wand lagerte ein heller Kegel, kaum größer als mein Kopf. Und von dort, ohne
jedes Bildnis, ohne jede Erscheinung jetzt, sprühten wie zersplittert
vereinzelte Strahlen. In der großen Höhle unten war alles still. Keine Bewegung, kein Laut,
nicht einmal das Rascheln von Kleidern. Dann begann das Licht zu wandern. Langsam glitt der helle Kegel über
die Kristallwand. Zitternd drückte ich mich gegen die spitzen Steine. Doch es
gab kein Entkommen. Schritt für Schritt glitt der Strahlenfinger über die
Rundung vor und berührte meine Schulter, meinen Kopf. Ich duckte mich,
krümmte mich zusammen. Wie in aufgewirbelter Wasserlache jagte mein Schatten
über die Hohlkugel hinweg. Das Licht verharrte glitzernd auf der Stelle. Und erlosch plötzlich.
Das Glühen der Kerze blieb: ein stetes, gelbes Glimmen auf der anderen Seite
der Fellspalte. „Komm heraus.“, klar und deutlich klang der Befehl. Und gefügig kroch
ich über die scharfen Kristalle hinweg durch den Spalt. Draußen, auf dem Felsabsatz
in der eigentlichen Höhle, richtete ich mich auf und lehnte mich mit dem
Rücken an die Wand, in der Hand meinen Dolch. Er stand zwischen mir und der Kerze, eine, wie mir schien, riesige
Gestalt in grobgewebtem gewand. Die Kerze wob einen hellen Kranz um sein
Haupt. Das Haar wirkte grau und er trug einen Bart. Sein Gesicht war nicht zu
erkennen. Die rechte hand hielt er in der Falte seines Gewandes. Ich wartete
angespannt... Er sprach im gleichen Ton wie zuvor: „Lass deinen Dolch und komm
herab.“ „Zeigt mit erst Eure rechte Hand.“, sagte ich. Er zog sie hervor und streckte sie aus. Sie war leer. „Dann geht mir
aus dem Weg.“, sagte ich und sprang. Mit wenigen setzten war ich an ihm vorbei und strebte auf den Ausgang
zu, ehe er auch nur eine Bewegung machen konnte. Aber er versuchte es auch
gar nicht. Als ich schon an der Öffnung die Zweige beiseite bog, hörte ich
hinter mir sein Lachen. Unwillkürlich blieb ich stehen und drehte mich um.
Und von hier, im Licht, das jetzt die Höhle füllte, sah ich ihn deutlich. Er
war ein alter Mann mit grauem Haar, das ihm von oben schon dünn strähnig über
die Ohren fiel. Grau war auch sein gerader, grob gestutzter Bart. Seine Hände
wirkten schwielig mit eingefressenen Schmutzspuren, doch waren die Finger
früher offensichtlich wohlgeformt gewesen. Jetzt krochen, wurmgleich gebläht,
knotige Adern über sie hinweg. Doch es war sein Gesicht, das mich gefangen
nahm: schmal, ausgehöhlt, fast wie ein Totenschädel, mit hoher, gewölbter Stirn und buschigen
grauen Brauen, jäh hervorspringend über die Augen, die ihn altlos erscheinen
ließen. Dicht beieinanderliegend, schauten sie mit großem und klarem Blick
aus schwimmendem Grau. Seine Nase war messerscharf. Der Mund, lippenlos fast,
dehnte sich in breitem Lächeln über erstaunlich gute Zähne. „Kommt zurück. Ihr braucht keine Furcht zu haben.“ „Ich habe keine Furcht.“, ich ließ die Zweige los und ging mit
gespielter Tapferkeit zurück. Wenige Schritte vor ihm blieb ich stehen.
„Warum sollte ich mich vor Euch fürchten, wisst Ihr denn, wer ich bin?“ Grübelnd betrachtete er mich einen Augenblick. „Lasst mich
nachdenken. Dunkle Haare, dunkle Augen, der Körper einer Fee und das benehmen
eines jungen Wolfes... oder sollte ich besser sagen, eines jungen Falken?“ Ich ließ meinen Dolch sinken. „Dann kennt Ihr mich also?“ „Nun, vielleicht ahnte ich, dass Ihr eines Tages kommen würdet.
Vielleicht wusste ich sogar, dass heute jemand in der Höhle war. Und
vielleicht war es das, was mich so früh zurückkehren ließ.“ „Ihr habt gewusst, dass jemand in der Höhle war? Ach, natürlich, Ihr
habt ja die Fledermäuse gesehen.“ „Das kann schon sein.“ „Fliehen die immer davon?“ „Nur wenn ein Fremder kommt. Euer Dolch, kleine Herrin.“ Ich steckte
ihn in den Gürtel zurück. „Niemand nennt mich Herrin. Ich bin ein Bastard.
Also gehöre ich keinem, außer mir selbst. Ich heiße Mynona Odry, oder einfach
nur Myrlin. Aber das wisst Ihr ja schon.“ „Ich heiße Galapas. Habt Ihr Hunger?“ „Ja.“, sagte ich. Und stockte bei dem Gedanken an den Schafschädel
und die toten Fledermäuse. Er begriff. Die grauen Augen zwinkerten belustigt.
„Früchte und Honigkuchen? Und süßes Wasser von der Quelle? Selbst in des
Königs Haus wird man kaum besser speisen.“ „Dort wäre ich zu dieser Stunde bestimmt schlechter dran.“, sagte ich
offen, „Seid gedankt, Sir. Ich will gerne mit Euch essen.“ Er lächelte. „Auch mich nennt niemand Sir. Und genau wie Ihr gehöre
ich niemandem außer mir selbst. Geht hinaus und setzt Euch in die Sonne. Ich
bringe, was wir brauchen.“ Die Früchte waren Äpfel, die genau so schmeckten wie jene, aus meines
Großvaters Obstgarten. Unwillkürlich warf ich meinem Gegenüber einen
verstohlenen Blick zu. Hatte ich ihn vielleicht schon einmal irgendwo
gesehen, am Flussufer oder in der Stadt? „Habt Ihr eine Frau?“, fragte ich, „Wer hat die Honigkuchen gemacht?
Sie schmecken ausgezeichnet.“ „Nein, ich habe keine Frau. Wie ich schon sagte: Ich gehöre keinem
außer mir selbst. Ihr werdet noch sehen, Myrlin, wie Euer ganzes Leben lang
Gitter um Euch errichtet werden. Aber Ihr werdet ihnen auch nach Blieben
entkommen, bis Ihr sie aus freien Stücken selbst errichtet, um in ihrem
Schatten zu schlafen... Die Honigkuchen bekomme ich von der Frau des hirten,
die genug für drei macht, und sie sind ja so gut, dass man auch Gäste damit
bewirten kann.“ „Dann seid Ihr ein Eremit? Ein heiliger Mann?“ „Sehe ich wie ein heiliger Mann aus?“ „Nein.“ Er sah wirklich nicht so aus. Jene heiligen Einsiedler zogen
oft predigend und bettelnd durch die Stadt, die einzigen Menschen, vor denen ich
mich damals fürchtete. Merkwürdige, hochmütige und anmaßende gestalten mit
verrückten Augen. Der Geruch, den sie verbreiteten schien mit dem Abfall der
Schlachthäuser verwandt, und oft genug wusste man überhaupt nicht, welchem
Gott sie überhaupt dienten. Einige, so flüsterte Mann, seien geächtete
Druiden, die ihrem Amt nicht mehr nachgehen durften. „Aber da draußen am Quell war doch ein Gott.“, warf ich ein. „Ja,
Mynona, er leiht mir seinen Quell und seinen heiligen Hügel und ich bezeige
ihm den schuldigen Dank. Es ist immer ratsam, der Gottheit eines Ortes
Verehrung entgegenzubringen. Am Ende sind sie noch alle ein und der selbe.
Glaubst du an Götter?“, fragte er beiläufig. Ich schüttelte zaghaft den Kopf,
nicht sicher, was er erwartet hatte und sagte dann bestimmt: „Nein.“ Als
hätte er keine andere Antwort erwartet lächelte er. „Wenn Ihr kein Eremit seid, was seid Ihr dann?“, meine Mutter, Cynric
und Moravik hatte mich schon unzählige Male gewarnt, vor Gestalten,
Vagabunden und anderen Gestalten ja fern zu bleiben, doch bei Galapas war mir
gar nicht in den Sinn gekommen, er könne irgendjemandem (ausgenommen den
Fledermäusen) Gewalt antun. „Im Augenblick Lehrer.“ „Ich habe einen Lehrer. Er kommt aus Massilia, was aber auch schon in
Rom. Wen lehrt Ihr denn?“ „Bis jetzt niemanden. Ich bin alt und müde und möchte hier ganz für
mich studieren.“ „Was sollen die toten Fledermäuse dort drinnen auf der Truhe?“ „Ich studiere ihren Körperbau und die Art, wie sie fliegen und sich
paaren und sich ernähren. Wie sie leben. Und das nicht nur bei Fledermäusen,
sondern bei allen Tieren und Pflanzen. Auch bei Vögeln und bei Fischen.“ „Aber das ist doch kein Studieren!“, rief ich überrascht, „Demetrius
und Chronos, meine Lehrer, sagen, es sei nur Zeitverschwendung Vogel, Fische
und Eidechsen zu beobachten. Unsinnige Träumerei. Nur Cynric, ein Freund von
mir, hat mal gesagt, ich soll die Ringeltauben studieren.“ „Warum?“ „Weil sie so still sind und so flink und vor allem davon flüchten.
Zwei Eier legen sie nur und werden von allen gejagt, und trotzdem überstehen
sie alles.“ „Und man sperrt sie auch nicht ein.“, er trank etwas Wasser und sah
mich dann an: „Ihr habt also schon zwei Lehrer gehabt. Könnt Ihr auch lesen?“ „Natürlich.“ „Auch Griechisch?“ „Ja, ein wenig.“ „Dann folgt mir.“ Wir betraten die Höhle, wo er die Kerze wieder anzündete und dann in
die hand nahm. Er hob den Deckel der Truhe. Darin sah ich eine große Anzahl
an Schriftrollen. Er nahm eine, schloss die Truhe wieder und entrolle das
Papier. Voller Entzücken sah ich, was es war: die etwas zittrige und dennoch
deutliche Zeichnung einer Fledermaus. Am Rande standen griechische Wörter,
die ich, für den Augenblick selbst Galapas’ Gegenwart vergessend, sofort zu
buchstabieren begann. Bald spürte ich seine Hand auf meiner Schulter. „Gehen
wir nach draußen.“ Er zog die Nägel heraus, mit denen einer der trockenen,
lederartigen Körper auf dem Truhendeckel befestigt war, und hob die tote
Fledermaus vorsichtig hoch. „Blas die Kerze aus. Wir werden uns dies zusammen
anschauen.“ Und so, ohne weitere Fragen und ohne weitere Umstände begann
meine erste Unterrichtsstunde bei Galapas. Erst als die Sonne, tief über dem Flügel des Tals lange Schatten den
Hang hinauf schickte, erinnerte ich mich an jenes andere Leben, das auf mich
wartete und den weiten Heimweg. „Ich muss aufbrechen. Wenn ich zum Abendessen zu spät komme, schöpft
man gewiss Verdacht.“ „Und du wirst ihnen nichts erzählen?“ „Nein, sonst dürfte ich gewiss nicht wieder herkommen.“ Er lächelte still. Und obwohl ich mir sicher war, er würde es mir
nicht abschlagen, fragte ich aus Höflichkeit: „Ich darf doch wiederkommen,
nicht wahr?“ „Natürlich.“ „Wann das sein wird, weiß ich leider nicht. Ich meine, es lässt sich
schwer sagen, bei welcher Gelegenheit ich wieder – frei bin.“ „Mach dir keine Sorgen. Ich werde rechtzeitig wissen, wann du kommst.
Und hier sein.“ „Wissen? Aber wie denn?“ Er rollte das Papier mit langen, schlanken Fingern zusammen. „Genauso wie heute.“ „Ach ja, richtig. Wenn ich die Höhle betrete flüchten die Fledermäuse.“ „So wird es sein.“ Ich lachte vergnügt. „Du bist schon ein sonderbarer Mensch, Galapas.
Rauchzeichen mit Fledermäusen! Niemand würde mir das glauben, nicht einmal
Cynric.“ „Du wirst auch ihm nichts verraten?“ Ich nickte. „Ihm nicht und auch sonst niemandem. Aber jetzt muss ich
aufbrechen. Auf Wiedersehen, Galapas.“ „Auf Wiedersehen.“ Und so geschah es dann auch in den folgenden Tagen und Monaten. Wann
immer ich konnte ritt ich ein- bis zweimal das Tal hinauf zur Höhle. Er
schien recht genau zu wissen, zu welchem Zeitpunkt ich kam, denn meist
wartete er mit ausgebreiteten Schriftrollen vor der Höhle auf mich; und war
er einmal nicht da, so rief ich ihn durch die davon flatternden Fledermäuse
herbei. Mit der Zeit jedoch gewöhnten sich die Tiere an mich, und ich musste
sie erst durch ein oder zwei gezielte Steinwürfe hinausscheuchen. Später dann
erübrigte sich dies. Im Palast nahm man den ganzen Sommer über meine häufige
Abwesenheit mehr oder weniger ungefragt hin und ich konnte mit Galapas von Tag
zu Tag feste Verabredungen treffen. Seit Ende Mai Olwens Sohn geboren war, hatte Moravik mich in
zunehmendem Maße mich selbst überlassen; und als dann im September auch
Camlans Tochter zur Welt kam, machte sie sich zur Herrin über das königliche
Kinderzimmer und ließ mich gleichsam völlig fallen. Meine Mutter schien es
zufrieden, ihre Zeit in Gesellschaft ihrer Frauen zu verbringen; ich sah kaum
noch etwas von ihr. Die einzigen, mit denen ich am Hof in engerer Verbindung
stand waren Demetrius (Chronos war von meinem Großvater geschnappt und auf
der Flucht getötet worden) und Cynric. Demetrius hatte genug mit Dinias und
den anderen zu kämpfen und Cynric war mein Freund. Und als solcher stellte er
beim Absatteln meines Ponys keine neugierigen Fragen sondern scherzte
höchstens augenzwinkernd, wo ich mich denn nur herumtriebe. Im Lande herrschte Frieden; der König und sein Sohn standen gut
miteinander; und ich selbst war dem äußeren Anschein nach nur allzu willig,
in naher Zukunft ins Kloster zu gehen; bis auf die stunden bei Demetrius
hatte ich keine Verpflichtungen und konnte meiner eigenen Wege gehen. Cynric war zwar der Meinung, ich verwaise den ganzen Sommer über,
doch auch er hatte tagsüber nie viel Zeit. War ich gerade nicht bei Galapas
in der Höhle ritt ich durch die Hügel, um allein zu sein. Im Tal traf ich nie auf einen Menschen. Der Schafhirte wohnte nur im
Sommer dort, in einer armseligen Hütte am Waldrand. Andere Behausungen gab es
nicht, und der Pfad unterhalb von Galapas’ Höhle wurde nur von Hirten und
Schafen benutzt. Er führte nirgendwohin. Galapas war ein ausgezeichneter Lehrer. Dennoch empfand ich die zeit
bei ihm nie als Unterricht. Unterricht war das, was ich bei Demetrius und den
Priestern meiner Mutter erfuhr (Sprachen und Geometrie beim einen, Religion
bei den anderen). Im Grunde schien er nur Geschichten zu erzählen, denen ich gebannt
lauschte. Als junger Mann war er viel auf der anderen Seite der Erde gereist,
in Äthiopien und Griechenland und Germanien und um das ganze Mittelmeer und
er hatte viele fremdartige Dinge gesehen und gelernt. Oft waren sie von
praktischem Nutzen und er unterwies mich darin: wie man Kräuter sammelte und
trocknete und als heilmittel verwandte und wie man gewisse Pulver und Safte,
auch giftige gewann. Er ließ mich Vögel und andere Getier studieren (oft
fanden sich tote Kreaturen am Wege: Vögel und Schafe und einmal sogar ein
Hirsch) und ich lernte viel über Körperorgane und Knochengerüst. Er zeigte
mir auch, wie man blutende Wunden stillte und Knochenbrücke behandelte, wie
man schlechtes Fleisch weg schnitt und die Wunde so säuberte, dass sie
ordentlich verheilte, ja sogar (obschon dies erst später kam) wie man Fleisch
und Sehnen näht, während das Tier mit Dünsten betäubt wird. Und ich weiß
noch: Der erste Zauber, den er mich lehrte, war das Besprechen von Warzen –
eine so mühelose Verrichtung, dass jeder sie vornehmen kann. Eines Tages entnahm er der Truhe eine Schriftrolle, die er mit
besonderer Sorgfalt ausbreitete. „Weißt du, was dies ist?“ Ich hatte schon viele Skizzen gesehen und kannte mich gut mit ihnen
aus. Diese Zeichnung jedoch sagte mir nichts. Sie war lateinisch beschriftet,
und ich erkannte die Wörter Äthiopien und Glücksinseln und, link in einer
Ecke, Britannien. Die Linien schienen wirr durcheinander zu laufen, und
überall fanden sich, winzigen Maulwurfshügeln gleich, gewölbte Kurven. „Das – das sind wohl Berge.“ „Ja“ „Dann ist dies ein Bild der Welt?“ „Eine Landkarte“ Es war das erste Mal, dass ich so etwas sah, und obschon mir anfangs
alles dunkel und verschlüsselt schien, begriff ich bald, dank Galapas’
Erklärungen, wie man Zeichen zu sehen hatte: Wie ein Vogel aus großer Höhe
blickte man hinab auf die Erde mit ihren Straßen und Strömen, weit verzweigt
wie die Fäden eines Spinnwebs. Mühelos konnte man von Rom nach Massilia oder
von Londinium nach Camelot reisen, ohne auch nur einmal nach dem Weg zu
fragen. Diese Kunst wurde von dem Griechen Anaximander entwickelt, obwohl
manche behaupteten, dass die Ägypter sie als erste beherrschten. Diese Karte
hier war eine Kopie eines Werkes von Ptolemäus von Alexandrien, und Galapas
trug mir schließlich auf, meine Schreibtafel zu holen und eine Skizze von
meinem Land anzufertigen. Als ich den letzten Strich getan hatte, warf er einen Blick darauf.
„Was ist dies hier in der Mitte?“ „Maridunum.“, sagte ich überrascht, „Erkennst du es denn nicht,
Galapas? Schau doch, hier ist die Brücke und der Fluss und hier die Straße,
die über den Marktplatz führt. „Das sehe ich. Aber ich habe dich gebeten, dein Land zu zeichnen, nicht
deine Stadt.“ „Ganz Wales? Aber wie soll ich wissen, was dort oben liegt? Ich war
noch nie dort!“ „Warte, ich will es dir zeigen.“ Er legte die Schreibtafel beiseite, nahm einen spitzen Stock und begann,
jeden Strich und jeden Punkt erläuternd, in die nackte Erde zu kerben. Was
unter seinen Händen entstand, war ein lang gestrecktes Dreieck, das nicht nur
Wales wiedergab, sondern ganz Britannien, das raue Land jenseits der
Hadrianwalls, wo die Wilden lebten, mit eingeschlossen. Er zeigte mir Berge
und Flüsse und Straßen und Städte und, Londinium und Caleva und die dicht
gedrängten Ortschaften unten im Süden bis hin zu jenen Städten und Festungen
am Ende des Straßennetzes, Segontium, und Carleon und Eboracum und die Städte
unmittelbar am Wall. Und er sprach, als sei es ein einziges Land, obschon ich
ihm doch wenigstens ein Dutzend Könige hätte nennen können, die in
verschiedenen Landstrichen herrschten. Ich erinnere mich daran nur auf Grund
von Begebenheiten, die später folgten. Der Herbst wich rasch dem Winter und als die Sterne schon zeitig am
Himmel funkelten, lehrte er mit ihre Namen und sprach von ihrer Macht. Genau
wie man eine Landkarte zeichnete könnte man auch eine Sternenkarte
anfertigen, erzählte er und erklärte dann, dass die Sterne, indem sie sich
bewegten Musik machten. Er selbst verstand sich nicht auf diese Kunst. Doch
als er erfuhr, dass Olwen mich darin unterwiesen hatte, half er mir, eine
Harfe zu bauen. Ein kleines, recht primitives Instrument aus Buchen- und
Weidenholz, bespannt mit Schweifhaaren meines Ponys, obwohl, wie Galapas
meinte, der Harfe einer Prinzessin Saiten aus Gold oder Silber gebührten.
Doch ich verwendete auch durchbohrte Kupfermünzen (womit ich die Saiten
befestigte) und geglättete Knochen (als Stimmwirbel) und schnitzte in den
Säulenhals das Abbild eines Falken, Merlinfalken, wie ich ihn später nannte.
Mich dünkte mein Instrument schöner als Olwens Harfe, und es ließen sich auf
ihre auch süßliche Töne entlocken, jenes sanfte Wispern, das seine Weisen aus
der Luft selbst zu empfangen schien. Da mir der Palast nicht sicher genug
schein, ließ ich mein Instrument in der Höhle. Dort hatte ich ja den Gesang
der Vögel im Birnenbau und hin und wieder war auch Olwens melodische Stimme
zu hören. Und wenn die Vögel schwiegen und eisiges Licht den Nachthimmel
überhauchte, so lauschte ich angespannt auf die Musik der Sterne. Und eines Tages, als ich sechs Jahre alt war, sprach Galapas von der
Kristallhöhle. Oft stellen Kinder über jene Dinge, die ihnen am wichtigsten sind,
keine Fragen. Instinktiv scheinen sie zu wissen, dass hier etwas ist, dass
ihr Begriffsvermögen noch übersteigt. Doch insgeheim nähren sie ihre
Phantasie, bis jenes Unfassbare alle Grenzen sprengt und wie Zauber oder auch
ein Nachtmahr über ihrer Seele liegt. So war es bei mir mit der Kristallhöhle. Nie hatte ich zu Galapas von meinem ersten Erlebnis dort gesprochen.
Ja, fast verschwieg ich mir selbst, was dann und wann in Licht und Feuer vor
mir auftauchte. Träume, beschwichtigte ich mich: Erinnerungen jenseits aller
Erinnerungen, ein eigentümliches Spiel der Phantasie – wie jene Stimme, die
mir Gorlans Namen verraten hatte oder jener Blick, dem das Gift in der
Aprikose nicht verborgen geblieben war. Und da Galapas seinerseits nie von
der inneren Höhle sprach und der Bronzespiegel immer bedeckt blieb, wenn ich
dort war, stellte ich keine Fragen. An einem frostklirrenden Wintertag ritt ich wieder einmal den
gewohnten Weg. Vor dem Maul meines Ponys wölbte sich die Atemluft wie
Drachenhauch. Das Tier trottete rasch dahin und verfiel schließlich in Trab.
Es war seit einer weile nicht mehr das falbe Pferdchen meiner frühen
Kindheit, sondern ein kleiner, walisischer Grauschimmel, den ich stolz Raven
nannte. Er gehörte zu jener Rasse von Gebirgsponys, die wild in den Hügeln
leben und sich manchmal mit Pferden römischer Herkunft kreuzen. Sie sind zäh
und schnell und sehr schön mit ihrem schmalen Kopf, den kleinen Ohren und dem
kräftig gebogenen Hals. Raven war von meinem Vetter Dinias gefangen und
gezähmt worden. Nach anderthalb Jahren schonungslosen Reitens hatte Dinias
dann genug gehabt und wollte lieber einen richtigen Hengst. Unter mit benahm
sich Raven zuerst recht störrisch, aber bald verlor sich seine Furcht vor mir
und nach dem harten, ruckenden Zuckeltrab, den ich von meinem früheren Pony
gewohnt war, schien seine Gangart geradezu seidenweich. Inzwischen hatte ich hier im Tal auch einen Unterschlupf für mein
Tier gefunden. Am Felsen unterhalb der Höhle wuchs ein Weichdorndickicht, in
dessen Mitte Galapas Steine aufgeschichtet hatte. Die Rückwand bildete der
Fels selbst. Äste und Adlerfarn formten ein dichtes Dach, und dieser kleine
Stall bot dem Tier, zumal im Winter, eine warme Zuflucht, auch blieb es
fremden Augen verborgen. Dieser Zwang zur Heimlichkeit war ein weiterer
Zwang, über den wir nie gesprochen hatten. Aber ich begriff auch so, dass
Galapas mir auf seine Weise half, Camlans Pläne, soweit sie mich betrafen,
zunichte zu machen (obschon ich mit fortschreitender Zeit mehr und mehr auf
mich gestellt war), und so ließ ich jede erdenkliche Vorsicht walten, indem
ich mich etwa auf einem halben Dutzend verschiedener Wege dem Tal näherte und
für neugierige Fragen am Hofe immer eine glaubwürdige Ausrede zur Hand hatte. Ich führte Raven in den Verschlag, nahm ihm Sattel und Zaumzeug ab
und warf ihm das Futter aus der Satteltasche vor. Dann zog ich einen
kräftigen Ast vor den Eingang und klomm rasch den Weg zur Höhle empor. Galapas war nirgends zu sehen, konnte jedoch noch nicht lange fort
sein, denn auch dem offenen Metallofen, der innen beim Eingang stand, lag
noch Glut. Ich schürte sie, bis die Flammen emporzüngelten, und ließ mich
dann ganz in der Nähe mit einer Schriftrolle nieder. Eine Verabredung hatte
ich mit Galapas für heute nicht getroffen, aber da mir viel Zeit blieb ließ
ich die Fledermäuse in Frieden und las eine weile still für mich. Im Laufe der Zeit war ich schon oft allein in der Höhle gewesen, so
vermag ich nicht zu sagen, warum mich gerade an diesem Tag Neugierde trieb.
Jedenfalls legte ich die Schriftrolle beiseite, ging an dem verdeckten
Spiegel vorbei und spähte hinauf zu dem Felsspalt, durch den ich vor zwei
Jahren geflüchtet war. Ob sie wirklich so aussah, wie ich sie in Erinnerung
hatte? Ob die Kristalle und die in ihnen funkelnden Bilder (der Drache und
das Mädchen) wohl nichts waren als Ausgeburten meiner erregten Phantasie?
Irgendetwas Unnennbares, Neugier und doch mehr als Neugier, trieb mich jetzt.
Rasch kletterte ich auf den Felsabsatz und spähte, mich auf Hände und Knie
niederlassend, durch den Spalt. Die innere Höhle war tot und kalt. Nicht der geringste Schimmer vom
gezüngelten Feuer fing sich darin. Vorsichtig kroch ich vorwärts, bis meine
Hände auf die scharfen Kristalle trafen. Ja, es gab sie. Sie waren nur allzu
wirklich. Mit wachsamen Augen und Ohren gegen Galapas’ überraschende
Rückkunft gewappnet, glitt ich rasch wieder hinaus, griff nach meinem Umhang,
den ich neben dem Feuer abgelegt hatte und kletterte und kroch eilends durch
den Spalt in die innere Höhle zurück, wo ich den Umhang ausbreitete. Und so ließ es sich hier recht beharrlich verharren. Still lag ich
und lauschte auf das vollständige Schweigen ringsum. Allmählich gewöhnten
sich meine Augen an die Dunkelheit. Mattes graues Glimmern kam von den
Kristallen, doch von jenem zauberischen Licht, dass damals geglüht hatte,
fand sich keine Spur. Plötzlich spürte ich einen leichten Hauch kalter, bewegter Luft, sie
selbst bis zu mir in dieses Verlies drang. Und dann hörte ich Schritte, die
sich über eisiges Felsgestein näherten... Als Galapas wenige Minuten später in die Höhle trat, saß ich beim
Feuer, in der Hand mein Lehrbuch, der Umhang lag neben mir ausgebreitet. Erst kurz vor Einbruch der Dunkelheit legten wir unsere Bücher
beiseite. Doch immer noch machte ich keine Anstalten zu gehen. Das Feuer
loderte jetzt. Wärme und flackerndes Licht erfüllten die Höhle. Eine Zeit
lang saßen wir schweigend. „Galapas, ich möchte dich etwas fragen.“ „Ja?“ „Erinnerst du dich an den Tag, an dem ich das erste Mal herkam?“ „Sehr deutlich.“ „Du wusstest, dass ich kam. Du hattest mich erwartet?“ „Habe ich das gesagt?“ „Ja, das hast du, und du weißt es auch. Aber wie konntest du nur von
mir wissen?“ „Ich sah dich ja in der Kristallhöhle.“ „Oh, gewiss. Du hattest den Spiegel so gedreht, dass das Kerzenlicht
auf mich traf, und du sahst meinen Schatten. Aber das meine ich nicht. Woher
wusstest du, dass ich an jenem Tag das Tal heraufkam?“ „Eben diese Frage habe ich dir beantwortet, Myrlin. Ich wusste es, weil
ich dich, ehe du zur Höhle kamst, im Spiegel sah.“ Wir sahen einander schweigend an. Zischelnd flackerten die Flammen
zwischen uns. Ich nickte stumm. Es war ein Geheimnis, dass ich längst schon
geahnt hatte. Nach einer Weile sagte ich: „Wiest du’s mir zeigen?“ Er musterte mich einen Augenblick und erhob sich dann: „Es ist an der
Zeit. Zünde die Kerze an.“ Ich gehorchte. Golden wuchs das kleine Licht und langte empor in die
Schatten, die vom flackernden Feuer geworfen wurden. „Enthülle den Spiegel.“ Ich zog am darüber gebreiteten Tuch. Wolligweich fiel es mir in die
Arme und ich legte es auf Galapas’ Bett an der Wand. „Jetzt klettere auf den Felsabsatz und lege dich hin.“ „Auf den Felsabsatz?“ „Ja. Leg dich auf den Bauch mit dem Kopf zum Spalt, so dass du
hineinsehen kannst.“ „In die Kristallhöhle selber soll ich nicht?“ „Nimm deinen Umhang, damit du eine Unterlage hast.“ Halb schon auf dem Fels drehte ich mich um und sah, dass er lächelte. „Du weißt also bescheid, Galapas?“ „Ja,
ich weiß, dass du vorhin in der Kristallhöhle warst. Aber eines Tages werde
ich dir selbst mit dem Blick nicht mehr folgen können. Jetzt lege dich hin
und beobachte still.“ Ich streckte mich
auf dem flachen, breiten Felsstück aus, Kopf auf den gebeugten Arm gestützt,
Blick aus den Spalt gerichtet.“ Unter
mir sagte Galapas leise: „Schalte deine Gedanken aus. Ich halte die Zügel in
der Hand. Noch ist dies nicht für dich. Beschränke dich aufs Schauen.“ Ich
hörte, wie er zur Wand ging: Er trat zum Spiegel. Die
innere Höhle war größer, als ich angenommen hatte. Sie streckte sich so weit
empor, dass mein Blick der Windung nicht mehr folgen konnte. Der Boden wirkte
glatt, wie flachgeschliffen durch langen Gebrauch. Und selbst mit den
Kristallen hatte ich mich getäuscht. Das Glimmern, das den Schein der Fackeln
widerspiegelte, kam von Wasserlachen auf dem Boden und von einer feuchten
Quelle an der Wand, über die ein riesiger Quell zu rieseln schien. Die
Fackeln: In Felsrisse waren sie gezwängt, billiges Zeug, minderwertiger
Plunder, der trübe in stickiger Luft brannte. Und obwohl es eisig kalt war,
bis auf einen schmalen Lederschurz, mit nackten Leibern. Schweiß strömte
ihnen über Schultern und Rücken, während sie auf den Felsen loshackten,
stetes, unablässiges Pochen, das nicht den leisesten Laut hervorrief. Muskeln
spannten und ballten sich. Auf dem Boden, mit dem Rücken lang in die
Wasserlachen gestreckt, lagen zwei Männer, die mit kurzen, kräftigen Hieben
nach oben auf den tief überhängenden Fels einhämmerten. Auf dem Handgelenk des
einen sah ich die schweißglänzende Narbe eines Brandmals. Von
hartem Husten geschüttelt, krümmte sich einer der Arbeiter zusammen und
raffte sich, einen scheuen Blick über die Schulter werfend, sofort wieder
hoch. Heller wurde es in der Höhle. Von einer quadratischen Öffnung, hinter
der ein gewundener Tunnel aufschimmerte, näherte sich Fackellicht. Schmutzverkrustet
und halbnackt erschienen vier Knaben, die große Körbe trugen, Hinter ihnen
kam ein Mann in braunem, feucht verflecktem Gewand. Er war es, der die Fackel
trug. In der anderen Hand hielt er eine Schreibtafel, auf die er mit
gerunzelten Brauen starrte, während die Knaben mit ihren Körben zu der
Felswand liefen und abgehauenes Geröll hineinfüllten. Der Mann, Vorarbeiter
offenbar, trat zu ihnen und betrachtete die Felswand mit hocherhobener
Fackel. Dankbar für die kurze Atempause bildeten die Arbeiter einen Kreis um
ihn. Einer der Männer sprach. Er deutete auf die behauene Wand und dann auf
jene Stelle am anderen Ende der Höhle, von der unablässig Wasser rieselte. Die
Knaben schleppten ihre gefüllten Körbe fort. Der Mann im braunen Gewand zog
achselzuckend eine Silbermünze hervor und schleuderte sie mit geübter
Bewegung in die Luft. Die Arbeiter reckten die Hälse. Und fügsam nahm der
Mann, der mit dem Vorarbeiter gesprochen hatte, wieder seine Hacke in die
Hand und schwang sie gegen den Fels. Unter
seinen Hieben öffnete sich ein Spalt und klaffte auf, weiter und weiter.
Wirbelnd stürzte Erde hinein und das Licht erlosch. Und nach dem
herabrasselnden Staub kam das Wasser. „Hier,
trink das!“, sagte Galapas, „Ein Gebräu von mir. Wird dir gut tun. Trink
nur.“ „Danke Galapas. Die Höhle ist ja wirklich aus Kristall. Im – im Traum
sah ich sie eben ganz anders. „Denk jetzt nicht daran. Wie fühlst du dich?“
„Eigenartig. Ich kann’s nicht erklären. Bis auf die Kopfschmerzen fehlt mir
nichts, aber ich fühle mich ausgesogen. Wie ein leeres Schneckengehäuse. Oder
nein. Wie ein Schilfrohr ohne Mark.“ „Ein Spielzeug der Winde. Ja. Komm jetzt
ans Feuer.“ Als
ich wieder auf meinem Platz saß, einen Becher heißen Wein in der Hand, fragte
er: „Wo warst du?“ Ich
berichtete ihm, was ich gesehen hatte, aber als ich ihn dann um eine
Erklärung dafür bat, schüttelte er den Kopf. „Ich fürchte, dass ich dir damit
nicht dienen kann. Ich weiß selbst nicht, was es zu bedeuten hat. Aber du
musst jetzt aufbrechen. Du hast wahrscheinlich keine Ahnung, wie lange du
dort gelegen und geträumt hast. Der Mond steht bereits am Himmel.“ Ich
erhob mich. „Schon? Dann wird man im Palast wohl nach mir suchen. Sicher ist
das Abendessen schon vorbei.“ „Noch sucht niemand nach dir. Denn inzwischen
ist einiges geschehen, wie du selbst herausfinden wirst. Sorge dafür, dass du
nichts versäumst.“ „Wie
meinst du das?“ „So, wie ich’s sage. Setze alles daran, den König zu
begleiten. Hier, nimm deinen Umhang.“ Er warf ihn mir zu. „Der König verlässt
Maridunum?“ „Ja, doch nur für eine Weile. Wann er zurückkehren wird weiß ich
allerdings nicht.“ „Er wird niemals bereit sein, mich mitzunehmen.“ „Nun, das
ist deine Sache. Dein Stern, Myrlin Odry, wird dich nur begleiten, wenn du
seinen Weg wählst und was du suchst wirst du erst wissen, wenn du’s am
richtigen Ort gefunden hast. Und dazu gehört Mut. Wickle dich in deinen
Umhang ein, ehe du gehst. Draußen ist es kalt.“ Ich
gehorchte. „Galapas, während ich mir bei meinem Traum von Sklaven in einem
dummen Bergwerk Kopfschmerzen geholt habe, hast du gesehen, was wirklich
geschieht. Wann bringst du mir endlich bei, zu sehen, was du siehst?“ „Nun,
deine erste Probe kannst du gerne haben. Wenn du dich mit deinem Pony nicht
beeilst, sehe ich, dass dich die Wölfe fressen.“ Er lachte wie über einen
gutgelungenen Scherz. Ich lief rasch aus der Höhle, um Raven zu satteln. Die
Sichel des Mondes warf nur ein fahles Licht über den Pfad. Ungeduldig
tänzelte Raven und strebte mit gespitzten Ohren heimwärts, so dass ich Mühe
hatte, das Tier im Zaum zu halten, denn der Weg war vereist und ich hatte
Angst vor einem Sturz. Doch Galapas’ Warnung drang mir immer noch in den
Ohren und so ließ ich mein Pony geschwinder traben, als eigentlich ratsam war
– bis wir dann bei der Mühle auf den Treidelpfad gelangten. Doch
endlich hatte ich freie Sicht und trieb Raven zu vollem Galopp an. Als
wir uns der Stadt näherten sah ich, dass irgendetwas im Gange war. Hinter der
Stadtmauer, mit ihren längst geschlossenen Toren, flammte überall Licht.
Fackeln loderten, Stimmen und Schritte hallten. Vor dem Tor, das zu den
Stallungen führte, glitt ich aus dem Sattel. Doch wenn ich erwartet hatte,
mich ausgesperrt zu finden, so fand ich mich angenehm getäuscht. Denn kaum
stand ich, als schon das Tor aufschwang und Cynric, eine abgedunkelte Laterne
in der Hand, mich hineinwinkte. „Ich
habe dich kommen hören. Den ganzen Abend liege ich schon auf der Lauer. Wo
hast du bloß gesteckt, du unbändiges Feenkind. Hast heute wohl ganzen
besonderen Schabernack ausgeheckt, was?“ „Oh,
natürlich. Hat schon jemand nach mir gefragt? Hat man mich schon vermisst?“ „Nicht,
dass ich wüsste. Die haben heute etwas anderes im Kopf als dich. Gib mir den
Zügel, damit ich Raven erst einmal in der Scheune unterstelle. Im großen Hof
herrscht mir jetzt zu viel Treiben.“ „Wieso, was ist denn los? Der Lärm ist
ja meilenweit zu hören... Ist ein Krieg ausgebrochen?“ „Nein, aber dazu kann
er durchaus noch kommen. Heute Nachmittag traf die Botschaft ein, dass der
Großkönig sich auf dem Weg nach Segontium befindet, wo er ein oder zwei
Wochen lagern wird. Morgen wird dein Großvater zu ihm reiten. Und daher ist
hier alles in heller Aufregung. „So
ist das also.“ Ich folgte ihm in die Scheune, wo er das Pony absattelte,
während ich aus einem Haufen einen Strohwisch zog, damit er das Tier abreiben
konnte.“ „König Vortigern in Segontium? Wozu?“ „Um Köpfe zu zählen, heißt
es.“ Er lachte heiser auf und begann das Pony mit Stroh zu bearbeiten. „Dann
spricht man also von Krieg?“ „Von Krieg spricht man, seit Mordred in der
Bretagne sitzt. Die Jahre kann man an dir abzählen, Myrlin. Mordred soll
jetzt auch noch Truppen von seinem Ziehbruder Agravain von den Orkaden im Rücke
haben. Abertausende Krieger von der anderen Seite des Hadrianwalls heißt
es... Es gibt Dinge, über dir man besser nicht spricht.“ Ich
nickte. Auch wenn niemals laut davon gesprochen wurde, wusste doch jeder, wie
der Hohe König auf den Thron gelangt war: Während König Arthus mit seinem Sohn Mordred krieg
führte und die Tafelrunde immer machtloser wurde, sammelte Vortigern
Gefährten, allen voran die barbarischen Sachsen, um sich und griff
schließlich in den Krieg ein. Zwar vertrugen sich Vater und Sohn wieder, um
den verräterischen Vortigern in seine Schranken zu weisen, doch dieser tötete
Arthus und Mordred, seine Geschwister Lleu und Onenn und der klägliche Rest
treuer Ritter mussten fliehen. Seit dem flammte Jahr für Jahr erneut das
Gerücht auf, die drei Königskinder säßen in Benwick, und der edle Lancelot,
der einst der treueste und tapferste Ritter Arthus’ war, bewaffne sie; dass
Mordred nach Athen gegangen sei; dass Lleu Mietling des Ostkaisers sei oder
seine Schwester bald die Kaiserin Konstantinopels persönlich; dass die drei
mit einer viertausend Mann starken Streitmacht die britische Insel erobern
und brandschatzen würde, oder dass sie friedlich wie die Erzengel kämen, um
die Angelsachsen ohne einen Schwertstreich von den Ostküsten zu vertreiben. Doch
über fünf Jahre waren nun inzwischen vergangen und nichts war geschehen.
Alles Gerede vom Kommen des neuen Pendragon glich jetzt eher einer Legende –
so, wie man etwa vom zweiten Erscheinen Jesu Christi sprach, obschon meine
Mutter, als mich diesen Vergleich wiedergab, vor Zorn außer sich geriet. „Oh
ja.“, sagte ich, „Mordred kommt wohl wieder einmal, nicht wahr? Aber im
Ernst, Cynric: Was will der Großkönig in Nordwales.“ „Das habe ich doch
gesagt. Um vor dem Frühjahr seine Verbündeten zusammen zu trommeln, er und
seine angelsächsische Königin.“, sagte Cynric und spuckte aus. „Warum tust du
das? Du bist doch selbst ein Angelsachse.“ „Das ist lange hier. Jetzt lebe
ich hier. Schließlich war es doch dieses flachsköpfige Luder, dass vortigern
zu seinem Verrat angestiftet hat. Aber wie dem auch sei. Du weißt do gut wie
ich, dass die Nordmänner wie die Heidefeuer über das Land schwärmen, seit sie
im Bett des Hohen Königs liegt. Wenn sie so ist, wie man sagt, dann wird
keiner seiner erstgeborenen Söhne lange genug am Leben bleiben, um nach ihm
den Thron zu besteigen.“ Leise sprechend warf er bei seinen letzten Worten
einen verstohlenen Blick über die Schulter. Dann spuckte er wieder aus und
machte das Zeichen. „Nun, all dies wei0t du ja – oder solltest du wissen.
Aber wenn man natürlich seine ganze Zeit in Büchern oder bei den Geistern der
hohen Hügel verbringt...“ „In den hohen Hügeln?“ „Ja, so sagt man allgemein.
Aber mich interessiert das nicht. Herum mit dir!“, befahl er dem Pony und
begann, es auf der anderen Seite mit Stroh trocken zu reiben, „Es heißt, dass
die Angelsachsen wieder im Norden von Rutupiae gelandet sind, und diesmal
sind ihre Forderungen selbst für Vortigern zu hoch. Im kommenden Frühjahr
wird ihm nichts übrig bleiben, als zu kämpfen.“ „Und mein Großvater an seiner
Seite?“ „Darauf hofft er natürlich. Lauf jetzt, wenn du noch etwas zu essen
möchtest. Niemand wird dich bemerken. Als ich vor einer Stunde was wollte,
war in der Küche der Teufel los.“ „Wo ist mein Großvater?“ „Keine
Ahnung.“, er blickte mich schräg über den Pferderumpf hinweg an, „Warum
möchtest du das denn wissen?“ „Weil ich mir ihm ziehen will.“ „Hah!“,
machte er und warf dem Pony ein paar Häcksel hin. Es klang nicht gerade
ermutigend. „Was ist denn dabei, wenn ich mit nach Segontium möchte?“ „Gar
nichts, möchte ja selber mal gerne dort hin. Aber wenn du mit dem Gedanken
spielst, den König darum zu bitten, dass er dich...“, er brach ab und fuhr
dann fort: „Natürlich ist es langsam an der Zeit, dass du aus den Wänden hier
hervorkriechst und dich ein wenig im Lande umschaust. Bloß wie? Da liegt der
Hase im Pfeffer. Den König würde ich an deiner Stelle lieber nicht fragen.“
„Warum denn nicht? Er kann ja nicht mehr tun, als es mir abschlagen.“ „Beim
Jupiter, was für ein kleiner Grünschnabel. Nicht mehr tun...? Wenn ich dir
einen Rat geben darf, dann lass die Finger davon. Und versuch’s auch nicht
bei Camlan. Zwischen ihm und seiner Frau hat’s gerade gekracht – das ist mit
ihm nicht gut Kirschen essen. („Pfirsiche essen ist mit ihm ja generell nie
gut.“, dachte ich mir dabei) – Außerdem meinst du das ja auch nicht im
Ernst.“ „Ich werde nur Antworten finden, wenn ich meinen Stern dort finde,
wohin er mir folgt.“ „schon recht. Aber manchmal leuchten Sterne doch so
hell, dass man sich nur allzu leicht daran verbrennt. Möchtest du ein
christliches Begräbnis?“ „Mal sehen... ich bin noch nicht getauft, ich kann’s
mir noch aussuchen.“ Er lachte. „Du scheinst ja zu allem entschlossen. Na
gut. Aber stärk dich erst, bevor du zum König gehst.“ „Das
will ich tun.“, sagte ich und ging, um etwas zu essen auszutreiben. Später
schlüpfte ich in meine beste Tunika und machte mich auf die Suche nach meinem
Großvater... Ich
fand ihn in seinem Schlafgemach, wohlig auf seinem Stuhl ausgestreckt, vor
einem prasselnden Holzfeuer, seine beiden Jagdhunde lagen zu seinen Füßen. Zu
meiner Erleichterung war Camlan nicht bei ihm. Aber auf einem zweiten Stuhl
sah ich eine Frau, Olwen, wie ich zuerst glaubte. Doch dann sah ich, dass es
meiner Mutter war. Überrascht lächelte sie mich an. Einer der Wolfshunde
pochte mit dem Schwanz auf den Boden, der andere öffnete glotzend ein Auge
und schloss es wieder. Mein Großvater musterte mich mit zusammengezogenen
Brauen, sagte jedoch freundlich: „Komm doch schon herein. Es zieht ja
erbärmlich. Mach die Tür zu.“ Ich gehorchte und trat näher ans Feuer. „Darf
ich Euch sprechen, Sir?“ „Nun, was möchtest du denn? Hol dir einen Schemel
und setz’ dich.“ Ich
rückte den Schemel, der bei meiner Mutter stand zwischen die beiden Stühle
und nahm Platz. „Nun, ich habe lange nichts mehr von dir gesehen. (Er
meinte damit, ich hatte mir lange keine Dummheiten mehr erlaubt)
Studierst du immer noch fleißig?“ „Ja, Sir.“ Und da es heißt, dass Angriff
die beste Verteidigung ist, kam ich ohne Umschweife zur Sache: „Ich
hatte heute Nachmittag frei und ritt aus, und...“ „Wohin?“ „Den Fluss
entlang, ohne besonderes Ziel, nur um mich im Sattel zu üben.“ „Was ja auch
nichts schaden kann.“ „Ja, Sir. Aber dadurch habe ich erst später erfahren,
dass ein Bote hier war. Es heißt, dass Ihr Maridunum morgen verlasst, Sir?“
„Weshalb fragst du?“ „Weil ich mit Euch reiten möchte.“ „Ja, höre ich recht?
Warum denn auf einmal?“ Ein
wahrer Wirbel von Antworten schoss mir durch den Kopf, aber welche war die
richtige? Aus den Augenwinkel gewahrte ich, dass meine Mutter mich mitleidig
beobachtete. Mein Großvater wirkte gleichermaßen ungehalten, wie belustigt.
Ich entschloss mich, die Wahrheit zu sagen: „Weil ich noch nie von Maridunum
weg war, obwohl ich doch nun schon sechs Jahre alt bin. Und wenn ich nach
Onkel Camlans Willen Gelehrte werde, bald ganz von der Welt abgeschlossen
bin. Und...“ Drohend
sengten sich die buschigen Brauen. „Willst du damit sagen, dass du keine Lust
zum Studieren hast?“ „Doch, Sir. Ich studiere für mein Leben gern. Aber aus
Büchern lässt sich viel mehr gewinnen, wenn man ein bisschen von der Welt
gesehen hat, wirklich, Sir. Und wenn Ihr mir erlauben würdet, mit Euch zu...“
„Weißt du denn auch, dass es nach Segontium geht? Das ist kein fröhliches
Jagdtreiben, sondern ein langer und harter Ritt, bei dem schlechte Reiter
nichts zu suchen haben.“ Nur mit Mühe hielt ich dem durchdringenden Funkeln
seiner Augen stand. „Ich habe viel geübt Sir. Und ich habe jetzt auch ein
besseres Pony.“ „Ja, Dinias’ abgelegter Schinder. Ha! Das zeigt doch, wie du
einzuschätzen bist. Nein, ich nehme keine Kinder mit!“ „Dann bleibt also auch
Dinias hier?“ Meine Mutter schien zusammen zu zucken. Der Kopf meiner
Großvaters fuhr zu mir herüber, seine Faust ballte sich um die Armlehne des
Sessels doch er schlug nicht zu. „Dinias kann ich dort gebrauchen. Er wird
das Lagerleben kennenlernen.“ „Und Briga? Darf sie Euch begleiten?“ Atemlos
begann meine Mutter auf mich einzureden, doch eine Handbewegung meines
Großvaters brachte sie zum Schweigen. Er musterte mich mit wachem,
aufmerksamem Blick. „Briga ist mir als Braut von großem Nutzen, und der
Gemahl auch, den ich für sie dort finden werde. Und du?“ Ich sah ihn an. Einen Trumpf hatte ich noch und den musste
ich nun ausspielen. „Bis jetzt war ich Euch wohl nie sehr nützlich, Sir.“,
begann ich langsam, „Aber hat man Euch
nicht gesagt, dass ich Angelsächsisch genau so spreche wie Walisisch, und
dass ich Griechisch lesen kann und dass mein Latein besser ist, als das
Eure?“ „Myrlin...“, hob meine Mutter an, doch ich achtete nicht auf sie. „Ich
hätte auch noch Bretonisch und Cornisch hinzufügen können, doch dafür werdet
Ihr in Segontium wohl kaum Verwendung haben.“ „Nun“, sagte mein Großvater
sarkastisch, „dann nenne mir doch einmal einen Grund, warum ich mich mit
König Vortigern in einer anderen Sprache als Walisisch unterhalten soll?
Schließlich kommt er doch aus Guent.“ Aber
der Klang seiner Stimme verriet mir, dass ich gewonnen hatte. Ich senkte den
Blick vor den erbarmungslosen blauen Augen und fühle mich wie nach einer
siegreichen Schlacht. Dann holte ich tief Luft und sagte sehr ergeben, sehr
bescheiden: „Ich wüsste keinen, Sir.“ Er lachte schallend auf und stieß mit
dem Fuß spielerisch gegen einen der beiden Jagdhunde zu seinen Füßen. „Nun,
vielleicht rollt trotz deines Aussehen noch etwas von unserem Blut in deinen
Adern. Immerhin hast du den Mut, dem alten Löwen sogar in seiner Höhle die
Stirn zu bieten. Also gut, du darfst mitkommen. Wer ist dein Knecht?“ „Cynric.“
„Der Angelsachse? Befiehl ihm, alles zum Abritt vorzubereiten. Wir brechen
beim ersten Morgengrauen aus. Nun, worauf wartest du noch?“ „Ich
möchte meiner Mutter nur gute Nacht sagen.“ Rasch erhob ich mich von meinem
Schemel und trat zu ihr. Als ich sie küsste, schaute sie überrascht auf. Es
geschah selten genug. Hinter
mir sagte mein Großvater schroff: „Du ziehst nicht in den Krieg. In drei
Wochen bist du wieder zurück. Und nun mach, dass du fort kommst.“ „Ja, Sir,
Vielen Dank. Und gute Nacht.“ Draußen
stand ich, gegen die Wand gelehnt, fast eine volle Minute, wahrend mein wild
hämmerndes Herz sich allmählich beruhigte und der Knoten von Übelkeit nach
und nach aus meiner Kehle wich. Ich werde nur Antworten finden, wenn ich
meinen Stern dort finde, wohin er mir folgt... und dazu gehört Mut und
Verstand. Ich schluckte hart, wischte mir den Schweiß von den Händen und
lief davon, um Cynric zu suchen. |
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