Dirk Hübner
Existentielle Kritik kontra "negatorische"
Kritik
Entgegnungen zu Robert Kurz' "radikaler
Kritik"
[28.03.2005; vollständige Korrektur 01.07.2005; eine inhaltliche Korrektur 12.01.2006.]
Ich beziehe mich auf Robert Kurz'
Essays "Subjektlose Herrschaft - Zur Aufhebung einer verkürzten Gesellschaftskritik"
und "Tabula rasa - Wie weit soll, muss oder darf die Kritik der Aufklärung
gehen?"
Verwendete Abkürzungen:
SH: Robert Kurz, Blutige Vernunft (Subjektlose
Herrschaft...), Horlemann Verlag, 2004. - Ich verwendete die inhaltlich
identische Internetversion (alte Rechtschreibung).
Tr: Robert Kurz, Blutige Vernunft (Tabula rasa...),
Horlemann Verlag, 2004.
[Die Seitenzahlen der Zitate aus den Essays sind in
Klammern z.B. folgendermaßen angegeben: (221 SH), (129 Tr).]
Im Gedenken an meine Mutter
Ruth Hübner
›Der Mensch ist unrettbar
religiös. ‹
Nikolai Berdjajew
1
[Ich beziehe mich im 1. Teil vorwiegend auf Robert
Kurz' Essay "Subjektlose Herrschaft - Zur Aufhebung einer verkürzten
Gesellschaftskritik". (2. Teil) ]
Eines der Grundprobleme des Menschen besteht darin,
daß er dazu neigt, das Geheimnis des Lebens in den ›Dingen‹ außerhalb seiner
selbst zu vermuten, es in ihnen zu suchen und sich von ihnen abhängig zu
machen. Dieses Problem findet seinen Ausdruck in der Naturvergötterung, setzt
sich fort mit der Menschenvergötterung bis hin zum anthropomorph und soziomorph
objektivierten Gott als allmächtiger, absoluter Herrscher - Gott als ein
himmlisch-personales Abbild der niederen hierarchischen Herrschaftsverhältnisse
in unserer Welt - und gipfelt heute, in der Moderne, in einem gigantischen
Maschinenpark, im ›Mythos der Maschine‹ (Mumford), dem sich der Mensch mit
selbstverleugnender Schaffenskraft unterwirft. Aus diesem Grunde konnten bisher
die Menschen einer schöpferischen Verantwortung im wahrhaft-authentischen Sinne
nicht durchgreifend gerecht werden. Sie haben ständig versucht, Verantwortung
auf ein hierarchisch höherrangiges Fetisch-Wesen, Fetisch-Ding oder einen
höherrangigen Fetisch-Prozeß abzuwälzen - Menschen, Götter, Maschinenordnung,
Kapitalsystem. Die Überwindung des modernen Kapital- und Waren-Fetisch stellt
sich unter der Bedingung der Verantwortungsübertragung als äußerst schwierig
dar, zumal sich die Menschen in den Kernländern des Kapitals an diesen Zustand
gewöhnt haben, d.h., dieser Zustand ist in ihnen emotional verankert,
suggeriert ihnen Sicherheit und wird deshalb gegebenenfalls leidenschaftlich
verteidigt und wiederhergestellt - auch durch sogenannte Reformen, die
gleichfalls einer Festigung des scheinbar gottgegebenen Zustandes dienen.
Innerhalb der Kapitalakkumulation existiert auf allen Ebenen eine große
Unverantwortung, auch wenn Politiker indoktrinativ an die ›Verantwortung‹ eines
jeden einzelnen im Sinne der modernen Demokratie appellieren. Doch die
binnenkapitalistische ›Verantwortung‹ steht in jedem Fall in einem
verbrecherischen Gesamtzusammenhang, unter der Fuchtel der kapitalistischen
Rationalität und Irrationalität, und ist immer schon im hohen Maße
Verantwortungslosigkeit. Denn Verantwortung ist ganz allein vom Menschen
abhängig, von seiner Fähigkeit, schöpferisch handeln, schaffen, verändern zu
können auf der Grundlage einer ganzheitlich-authentischen Menschlichkeit, aus
der heraus das Verhältnis zur Welt überhaupt gemeinschaftlich-liebend
hergestellt werden kann. Doch wenn man heutzutage auch nur ansatzweise an die
Bedeutung der Liebe für ein besseres, gerechteres Leben erinnert, erntet man
dafür in der Regel nur ein geringschätziges Lächeln bis hin zum Spott, wodurch
auf die religiös-sentimentale Abwegigkeit des Gedankens, daß die Liebe die
grundlegende Kraft einer gemeinschaftlichen Gesellschaft zu sein hätte,
verwiesen werden soll, ein Gedanke, der demnach gerade mal für eine
Kirchenpredigt zur Seelenmassage der Glaubens-›gemeinschaft‹ taugt. Für mich
ist das ein sehr trauriger Umstand, der einer unerträglichen Profanierung der
Liebe durch eine veräußerlichte Lebensweise geschuldet ist, wodurch auch die
philosophische Auseinandersetzung mit der existentiellen Realität des Menschen
erschwert und verhindert wird.
Ausgehend vom Gedanken einer ursprünglichen
existentiellen Realität als eines subjektiven Prozesses, zu dem unter anderem
die Liebe wesentlich gehört, gerate ich jedoch auch in Konflikt mit Robert
Kurz' "radikaler Kritik", für die erst
"mit der emanzipatorischen Aufhebung des
Subjekts" eine "Revolution gegen die Fetisch-Konstitution" (221
SH)
möglich wird. Obwohl ich ansonsten die Schärfe der
Kritik von Kurz gegen die Warengesellschaft sehr schätze, sehr anregend finde
und überhaupt für sehr wichtig halte, kann ich mich mit einer "Aufhebung
des Subjekts" nicht einverstanden erklären.
"... die... subjektiv-soziologistische
Vorstellung von Herrschaft... ist tief im westlichen Aufklärungsdenken
überhaupt verankert, das 'Subjektivität' prinzipiell als abstrakte und
apriorische setzt. Alle gesellschaftlichen Verhältnisse sollen und müssen in
irgendeiner Weise aus diesem nachgerade chimärischen Subjekt abgeleitet werden,
das Ausgangs- und Endpunkt aller Analysen bleibt." (168 SH)
"... in den modernsten Versuchen des
Strukturalismus, des Strukturfunktionalismus und der Systemtheorie... Die
systematische Subjektlosigkeit wurde hier endlich offen thematisiert...
Ausgehend von strukturalen Sprachanalysen der Linguistik setzte sich der Gedanke
durch: Nicht das Subjekt und nicht die Praxis von Subjekten sind konstitutiv,
sondern subjektlose 'Strukturen', in denen und anhand derer sich das jeweilige
Handeln konstituiert. Nicht der Mensch (das menschliche Subjekt) spricht,
sondern 'die Sprache spricht'. Oder, sarkastisch ausgedrückt: der Mensch 'wird
gesprochen'." (169 SH)
"Wenn der Mensch nicht spricht, sondern
'gesprochen wird', dann denkt er auch nicht, sondern 'wird gedacht'; dann
handelt er nicht sozial, politisch oder ökonomisch, sondern 'wird gehandelt'
usw. Es wurde also nichts geringes als der Tod des Subjekts verkündet."
(170 SH)
"Tatsächlich läßt sich der tiefe
Wahrheitsgehalt der Begriffe von 'Systemen', 'Strukturen' und 'Prozessen' ohne
Subjekt angesichts der beobachtbaren Empirie spätmoderner oder 'postmoderner'
bürgerlicher Verhältnisse kaum noch bestreiten. Strukturalismus und
Systemtheorie sagen nur, was wirklich der Fall ist, d.h. was real erscheint.
Die humanistischen und aufklärerischen Subjektideologen, den Marxismus eingeschlossen,
bestreiten den 'Fall' zwar oberflächlich nicht, wollen ihn aber kritisieren.
Ihr Standpunkt dabei ist jedoch ein prekärer. Denn sie müssen ein apriorisches
Subjekt annehmen, das 'vergessen' hat, daß es ein solches ist und was es getan
hat. Die Leier dieses Subjektbegriffs spielt ewig dasselbe Lied: Es müsse ein
verloren gegangenes Bewußtsein von der subjektiven Gemachtheit der
Gesellschaftsprozesse wiederhergestellt werden. Das ist eigentlich plattester
Rousseauismus, pures 18. Jahrhundert, und mit den Ergebnissen
moderner Einzelwissenschaften und den terms der Marxschen Ökonomiekritik nur
äußerlich und notdürftig angereichert. Das Aufklärungsdenken kann sich die
'Gemachtheit' von 'Etwas' grundsätzlich nicht ohne ein präexistentes Subjekt
dieses Machens vorstellen; ein subjektloses Machen ist ihm nicht nur Greuel,
sondern auch logische Unmöglichkeit. Daß hier in der bestehenden Gesellschaft
etwas nicht stimmt, ist ihm (zumal in seiner marxistischen Variante) zwar
irgendwie bewußt; aber es muß sich dann eben um einen 'Fehler' handeln, der
seinerseits wieder subjektiv verursacht worden ist, nämlich durch den 'Willen
zur Ausbeutung' oder den 'Willen zur Macht' der Herrschenden. Die starken
Argumente von Strukturalismus und Systemtheorie laufen demgegenüber darauf
hinaus, daß die Annahme dieses vergeßlichen apriorischen Subjekts haltlose
'Metaphysik' ist, daß dieses Subjekt nie existiert hat und logisch gar nicht
existieren kann." (178/179 SH)
Gerade die personalistische bzw. existentielle Philosophie
von Nikolai Berdjajew hat überzeugend aufzeigen können, daß das Subjekt als
kultur- und geistesschaffendes immer primär ist, ohne dabei das damit in
Verbindung stehende sekundäre Wechselspiel von Freiheit und Notwendigkeit, von
relativer Subjektivität und korrelativer Objektivität, von Herrschaft und
Knechtschaft aus dem Blickfeld zu verlieren und so eine auch im logischen
Gesamtzusammenhang überzeugende Antwort zu geben.
Systemtheorie bedeutet den Verzicht auf eine
tiefgründige Auseinandersetzung sowohl mit den existentiellen Phänomenen der
Liebe, Wahrheit, Freiheit, des Gewissen, dem Leiden und Mitleiden, der Freude,
der Hoffnung, dem Mut, der Angst, dem Zorn, der Wut, der Sympathie und
Antipathie als auch mit dem Groll, dem Haß, dem Neid, der Gier, der Rache, der
Sucht usw. - Wesenseigenschaften/-kräfte des Menschen, die quasi als
untergeordnete Funktionen im System mehr oder weniger verschwinden. Sogesehen
ist Systemtheorie durchaus in sich stimmig und der Mensch letztlich nicht die
entscheidende Frage. Alles findet seine funktionale Erklärung. Nur, der Mensch
lebt fortlaufend aus seinen existentiellen Wesenseigenschaften/-kräften heraus
und kann Fragen aufwerfen, die grundsätzlich anders, außersystematisch
motiviert sind und entsprechend fortlaufend existenzrückbezüglich beantwortet
werden müssen. Systematisch-analytisches Denken spielt hierbei immer eine
wichtige, aber dennoch nur sekundär-praktische Rolle, z.B. in
philosophischen/theoretischen Erörterungen oder für die Organisation entsprechend
subsistenzschaffender Vorgänge etc., die wiederum auf die existentiellen
Motivationen zurückwirken und deren schöpferisches Potential herausfordern.
Existenzrückbezüglich meint, daß die existentielle Erkenntnis des subjektiv
wahrgenommenen Ichs, welche mit den Wesenskräften des Menschen einhergeht, eine
ursprüngliche ist. Existentielle Erkenntnis des Ichs, die wesentlich die
Existenz des anderen als personal-subjektive, zugleich aber auch eine
objektiviert-gegenständliche Welt voraussetzt, ergibt sich spontan-schöpferisch,
plötzlich, aus dem Nichts heraus - da konkret einzigartig und deshalb absolut
neuartig -, baut eine ursprünglich-geistige Beziehung zu sich selbst und
gleichzeitig zur Welt auf, wertet sich selbst und die Welt primär intuitiv im
Verbund mit den eingebundenen Verstandeskräften im Akt des ursprünglichen
Transzendierens. Der Mensch lebt aus der existentiellen Erkenntnis heraus, um
die Welt und sich selbst letztlich mehr oder weniger im Sinne eines ebenfalls
existentiell erlebten und zu verwirklichenden Wahrheitsverlangen verändern zu
können. Dies alles ist vor allem auch ein geschichtlicher Prozeß. Der Mensch
trägt seit seinem Erscheinen den Funken der Wahrheit als ein ganzheitliches
Erleben seiner freiheitlichen, gemeinschaftsbezogenen Persönlichkeit in sich,
auch wenn die Persönlichkeit anfänglich noch sehr schwach ausgebildet war; er
muß sie jedoch fortlaufend realisierend erweitern und verteidigen gegen eine
zum Chaos neigende Welt der Trägheit, Starre und Notwendigkeit, aber auch der Illusionen
und Verführungen, thronender und verschlingender Göttergestalten
unterschiedlichster Art, wozu auch in subtiler Weise die Ware etc. zählt, um
existentiell überhaupt existieren bzw. weiterexistieren zu können. Es sei hier
aber relativierend bemerkt, daß die Welt sowohl einen tendenziell erstarrenden,
chaotischen, entwürdigenden als auch einen in ihrer Dynamik beständigen,
verläßlichen, schutzgewährenden, würdevollen Charakter annehmen kann. Letzteres
stellt für den Menschen ein hohes und schöpferisch zu bewahrendes Gut dar, auf
deren Grundlage nur er sich wahrhaft verwirklichen kann.
Mit der Systemtheorie entscheiden wir uns für eine
Auseinandersetzung im Sinne eines nichtmenschlichen Anpassungs- und
Funktionsverhalten. Mit einer auf die authentische, aber auch widersprüchliche
und immer wieder zur Entfremdung neigende menschlich-subjektive Existenz
ausgerichtete Philosophie/Theorie entscheiden wir uns für die im weitesten
Sinne zu erringende existentielle Liebe, Wahrheit und Freiheit der Persönlichkeit
und der aus ihr entspringenden echten Gemeinschaft zugleich. R. Kurz jedoch
beschreitet einen Weg, der sowohl Systemtheorie als auch Subjektphilosophie
jeglicher Art kritisch negierend hinter sich lassen will - Systemtheorie als
eine rein affirmative Beschreibung der "subjektlosen Konstitution"
der Moderne durch das autopoietische System, Subjektphilosophie als ein
generell affirmatives Festhalten an einem wie auch immer gearteten
"aufklärerischen Subjekt".
"Die Leier dieses Subjektbegriffs spielt ewig
dasselbe Lied: Es müsse ein verloren gegangenes Bewußtsein von der subjektiven
Gemachtheit der Gesellschaftsprozesse wiederhergestellt werden. Das ist
eigentlich plattester Rousseauismus, pures 18. Jahrhundert...". (178 SH)
Nein, es muß ein wahrhaft menschliches,
fetischfreies Selbstbewußtsein errungen werden, das in der Geschichte bisher
immer nur vereinzelt und in Momenten von Menschen erlangt wurde. Dieses
Selbstbewußtsein ist an eine intuitiv-schöpferische Überwindung der niederen
menschlichen Wesenseigenschaften/-kräfte gebunden wie des ambivalenten Hasses,
der Gier, der mitleidlosen Rache, der Sucht nach allen möglichen
Kompensationen, des Egozentrismus u.a.m. Und die Überwindung verlangt im Leben
eine ständige Vertiefung und Vervollkommnung der Persönlichkeit. Mit
Rousseauismus hat dies nichts zu tun, obwohl vom Subjekt als Träger der
gemeinschaftlichen Persönlichkeit ausgegangen wird. Dabei wird der Mensch im
Prozeß gesehen und nicht als ein von vornherein schon vollkommen befreites,
gütiges Wesen. Die existentielle Subjektkritik richtet sich vor allem gegen ein
starres und deshalb zum Chaos neigendes, fetischorientiertes Subjekt und stellt
diesem ein ganzheitlich-dynamisch-authentisches, fetischfreies
Persönlichkeitssubjekt gegenüber, das sich seit urgeschichtlichen Zeiten
herauszuschälen begann, um das die Menschen mehr oder/und weniger bis heute
ringen. Aber auf den urchristlichen Ruf nach Freiheit, Liebe und Wahrheit im
Leben, der - wenn auch schwach - dem Menschen seit seinem Erscheinen schon
immer wesentlich war, fand weder das historische Christentum noch die Moderne
noch irgendeine andere Vormoderne eine annähernd adäquate Antwort, die eng mit
der Lösung der Frage nach einer schöpferisch zu gestaltenden sozialen
Gerechtigkeit verbunden ist. Bis heute hat die Menschheit im großen und ganzen
versagt, weil sie es nicht vermochte, die personal-existentielle Problematik
mit einer sozial-gemeinschaftlichen schöpferisch zu verknüpfen. Gerade in der
sogenannten Moderne gerät die Persönlichkeit in Gefahr. Die Menschen erstarren
ehrfürchtig vor ihren gewaltigen kulturellen und technischen Erschaffungen, die
vergötzt den einzelnen verschwinden lassen. Die gemeinschaftliche
Persönlichkeit findet sich in einer auf die Dinge (sekundäre
Subjekt-Objekt-Spaltung) gerichteten Welt nicht wieder und verliert sich in
einem Zersetzungsprozeß. Die Gesellschaft fordert systematische,
allgemeinverbindliche Anpassung im Sinne des Mammons, wonach sich der Mensch
der Moderne ebenbildlich ausrichtet. Dieser System-Mammon-Mensch handelt im
höchsten Maße unethisch. Und er ist sich dessen in Momenten auch immer wieder
bewußt, geschuldet einem ethischen Grundempfinden, einer ethischen
Grundintuition. Doch er verdrängt diese Momente sofort wieder, damit er nicht
zu sehr über die Zweifel an den allgemeinen Verhältnissen vor allem in
Selbstzweifel stürzt, die er angesichts des sich auftuenden Abgrundes - Chaos,
Angst, Mutlosigkeit - nicht ertragen will. Das Selbst kann sich im starken Maße
als eine zurechtgelegte, objektivierte, angepaßte Lüge entpuppen, das sich im
Dienste am Götzen von seinem authentischen Ursprung, seinen authentischen
Intuitionen, seinem originären Gewissen abwendet und entfernt. Mit der Zeit
vermischt sich das authentische Selbst mit einem Rollen-Selbst, wird dabei systematisch
im wahrsten Sinne des Wortes bis zur satanisch anmutenden Unkenntlichkeit
gespalten und zersetzt (siehe dazu auch R. Kurz in: Tr, Hannibal Lecter oder
die "Potenz" der Distanzfähigkeit, S. 129 ff). Das authentische
Selbst kann jedoch nicht restlos zerstört werden, denn das würde bedeuten, daß
das Entstehen von absolut bösartigen ›Menschen‹ möglich wäre, was sich jedoch
nicht bestätigen und in keiner Weise rechtfertigen läßt. Ein Funken wahre
Authentizität bleibt jedem Menschen immer erhalten, solange er lebt. In der
Tiefe, dort, wo es kein Rollen-Selbst geben kann, bleibt der Mensch stets
authentische Persönlichkeit, und wenn sie auch noch so schwach ist. Jeder
Mensch ist zur Wahrheit berufen, auch wenn er sie im Leben verfehlt oder gar
verrät. (Ein diesbezüglich kritisches Denken wurde von Berdjajew in
einzigartiger Weise eröffnet.)
"Tatsächlich läßt sich der tiefe
Wahrheitsgehalt der Begriffe von 'Systemen', 'Strukturen' und 'Prozessen' ohne
Subjekt angesichts der beobachtbaren Empirie spätmoderner oder 'postmoderner'
bürgerlicher Verhältnisse kaum noch bestreiten. Strukturalismus und
Systemtheorie sagen nur, was wirklich der Fall ist, d.h. was real
erscheint." (178 SH)
Aber ohne Subjekt, welches aktiv das
gesellschaftlich-soziale oder unsoziale System verinnerlicht, funktioniert auch
kein gesellschaftlich-soziales oder unsoziales System. Schöpferische Kräfte
dienen der Systemerhaltung und -erweiterung, werden zum unterstützenden Teil
dieses Systems. Es gibt somit ein fremdbestimmtes Systemsubjekt - der Mensch
als mehr oder weniger fetischorientiertes Wesen. Der Mensch kann den
mechanischen, funktionsbestimmten Fluß der Dinge liebgewinnen, verehren und mit
seiner Schöpferkraft befördern, wobei auch heute noch die entsprechenden
hierarchisch-autoritären Herrschafts- und Machtverhältnisse eher als ein
verhängtes Schicksal hingenommen werden, an denen man nicht rühren darf, da sie
ja für die Funktion des Systems scheinbar unabdingbar sind und mit ihrer
Infragestellung die Gefahr droht, daß die ›Ordnung‹ den Bach runtergeht. Der
ursprünglich-existentielle Glaube an die göttlich-menschliche
Wahrheitsintuition kann zugunsten eines Systemglaubens fast vollständig
verleugnet werden. Begünstigt wird dieser Prozeß der Verleugnung durch die
systemkonforme Stärkung niederer menschlicher Wesenseigenschaften/-kräfte (Haß,
Rache, Sucht, Neid etc.), d.h. vor allem durch die partielle Zersetzung des
Persönlichkeitssubjekts. Die Zersetzung des Persönlichkeitssubjekts führt
insbesondere dazu, daß z.B. das rationale Vermögen des Menschen - teilweise
losgebunden - in den Dienst des
Systemdenkens und des korrelierenden Machtdenkens gestellt werden kann,
zuweilen angereichert durch bindungsstarke götzendienerische Emotionen im Einklang
mit den besagten niederen menschlichen Wesenskräften. Durch das Schwinden des
ganzheitlichen Persönlichkeitszusammenhalts entwickeln die Instinkte und Triebe
ein zentrifugales chaotisches Eigenleben, das zuweilen in Exzessen ausgelebt
wird. Doch in Anlehnung an das System und in tiefer Angst vor Unordnung und
Chaos neigt der Mensch dazu, seine Gefühle, Triebe, Instinkte zu verdrängen, zu
verstecken, um in einer Art mehr oder weniger arroganten rationalen
Abgeklärtheit das alltäglich-abstrakte Leben meistern zu können. Mehr und mehr
entsteht so ein im Kern unsicherer, von Minderwertigkeitskomplexen geplagter
Mensch, welche aus seinem Verlust an ganzheitlicher Integrität resultieren. Er
gerät schnell in den Sog entsprechend aufgestauter Ressentiments, die dann
gegebenenfalls an irgendwelchen beliebigen Opfern ausgelassen werden. In der
Masse von Gleichgesinnten dagegen, die ihm ein Gefühl von allgemeiner
angepaßter ›Integrität‹ vermittelt, fühlt er sich sicher, strotzt mitunter vor
›Selbstbewußtsein‹. Der gespaltene, mit sich selbst im unreinen befindliche
Mensch neigt ständig zu Extremen. So kann er vor allem auch an einer ebenfalls
losgebundenen kompensatorischen Sucht nach Sexualität leiden, mittels der er
nur momentane Ersatzbefriedigung erheischen kann, da sie nicht zur Fülle des
Lebens führt. Es gibt eine destruktive, auf niedere bis perverse
Teilbedürfnisse fixierte, und eine sublimierte, auf den ganzen, auf den
geistigen Menschen gerichtete Sexualität. Auf Genuß orientierte Sexualität ist
eher ein selbstsüchtiger Akt, der sich stark auf die physisch-sinnliche
Befriedigung reduziert. Im ganzheitlichen Akt der Liebe zweier Menschen
dagegen, wird der sexuelle Akt zu einem tiefen geistigen Erleben intimer
Vereinigung, höchster Nähe und Zärtlichkeit in den sich begegnenden
Persönlichkeiten erhoben. Das setzt aber voraus, daß der Mensch seine
persönlich-schöpferische Integrität nicht verliert, daß er
existentiell-ganzheitliches Persönlichkeitssubjekt ist und bleibt.
Integrales, selbstbestimmtes oder destruktives,
fremdbestimmtes Subjekt sind sowohl für die eine als auch andere Gestaltung des
Lebens immer notwendig vorhanden. Die Behauptung "eines subjektlosen
Machens" bringt zwar eine spezifische Tendenz der destruktiven
kapitalistischen Verhältnisse zum Ausdruck, ist aber bezogen auf die Ursachen
des sich dynamisch entwickelnden Kapitalismus irreführend. Real ist jedes
Machen an schöpferische Kräfte des Menschen gebunden, sind sie auch noch so
gering bzw. nur beiläufig. Des Menschen schöpferische Kräfte sind
subjektiv-geistiger ›Natur‹ und jedem Subjekt-Objekt-Dualismus vorgelagert.
Jede auszuführende rein mechanisch-abstrakte, systemfetischbedingte bzw.
systemfetischerhaltende Arbeit ist zumindest davon abhängig, daß ein Minimum an
schöpferischen Kräfte im arbeitenden Menschen vorhanden sind, die ihn zunächst
zum Leben oder wenigstens zum Überleben und schließlich zum Funktionieren
motivieren, so daß er auf dieser Grundlage für den unschöpferischen
Verwertungsprozeß brauchbar ist und bleibt. Selbst wenn ein Mensch völlig
entleert vom fetischorientierten Arbeiten lebensmüde wird, der Akt des
Handanlegens an sich selbst bleibt wesentlich auch dann ein Drama der
Überwindung der letzten inneren Hoffnung, des letzten inneren Lebensfunken,
welcher vom existentiellen Sinnbedürfnis des Menschen zeugt. Natürlich kann der
Mensch den Sinn fortlaufend entäußern. Das hat er durch Schaffung von Fetischen
auch getan. Und dennoch bleibt das existentielle Sinnbedürfnis primär
vorhanden. Dies gilt auch für den nahezu sinnentleert agierenden
Selbstmord-Attentäter. Für alle gesellschaftlich-sozialen Verhältnisse, die vom
Menschen geschaffen wurden, ist der Mensch als ein mehr oder weniger
selbstbewußtes, existentiell-schöpferisches Subjekt vonnöten (welches auch
massiv destruktiv orientiert sein kann und sein emotionales und schöpferisches
Potential entsprechend einbindet). Wer dies abschreitet, der behauptet die
Existenz einer allgemeinen, absoluten Unfreiheit in der Welt und in der
Persönlichkeit zugleich, ein Zustand, der in keiner Weise durch das Leben im
weitesten Sinne bestätigt wird. Das Theoretisieren über von Menschen subjektlos
geschaffene Gesellschaftssysteme (Oder haben sie sich absurder Weise etwa
›listig‹ [Hegel] selbst geschaffen?) ist ein Unding und führt zu Illusionen,
selbst wenn R. Kurz davon ausgeht, daß der Grund für das "subjektlose
Machen" keine anonyme Systemherrschaft, sondern im sogenannten
"Dritten", im Unbewußten zu suchen ist als
"blinde Form-Konstitution des
Bewußtseins", die "Subjektivität, Objektivität und Herrschaft
konstituiert". (193 SH)
Diese Art "Konstitution" stellt eine die
Freiheit des Menschen im Schaffen absolut ausschließende Tatsache dar. Deshalb
auch Kurz' Forderung, zusammen mit der "blinden Form-Konstitution des
Bewußtseins" das Subjekt abzuschaffen, eine Forderung, die immer nur das
relative fetischverhaftete Subjekt im Verhältnis zum korrelativen Objekt
voraussetzt und nicht die Möglichkeit der Existenz des Subjekts als
ganzheitliche Persönlichkeit anerkennt. Das Schaffen ist ein
emotional-schöpferischer Prozeß, auch dann, wenn dabei ein Moloch entsteht. Das
menschliche Schaffen ist primär ein subjektives Schaffen.
"Das Aufklärungsdenken kann sich die
'Gemachtheit' von 'Etwas' grundsätzlich nicht ohne ein präexistentes Subjekt
dieses Machens vorstellen; ein subjektloses Machen ist ihm nicht nur Greuel,
sondern auch logische Unmöglichkeit." (178 SH)
Es sei hier dahingestellt, was sich ein
"Aufklärungsdenken" unter einem "präexistenten Subjekt"
vorstellt. Aber ein "subjektloses Machen" z.B. ökonomisch-kultureller
bzw. gesellschaftlich-sozialer Verhältnisse impliziert eine völlige
Abhängigkeit von einer nicht chronologisch, sondern hierarchisch höherstehenden
präexistenten "Form-Konstitution" als eine Art Göttlichkeit. Diese
Aussage wird quasi von Kurz selber unterstützt:
"... 'Zweite Natur' meint, daß sich die
Gesellschaftlichkeit der Menschen, die ihr Wesen ausmacht, analog zur ersten
Natur als ein ihnen selber äußerliches, fremdes, nicht subjektiv integriertes
(und der immanenten Reflexion nicht zugängliches) Wesen konstituiert und darstellt.
Es handelt sich in der Tat um eine subjektlose Konstitution, zwar durch das
Handeln und Machen der Menschen hindurch, das aber dabei lediglich als Funktion
eines subjektlosen Prozesses wirkt - ganz wie es die Diktion der Systemtheorie
verlangt." (182 SH)
Kurz' Forderung nach "Aufhebung des
Subjekts" resultiert aus einer monistisch eingeengten Mißdeutung der
existentiellen Realität des Subjekts. Nach der "Aufhebung des
Subjekts" soll alles von den "Inhalten" selber ausgehen - wie
auch immer-, die dann nicht mehr über den Umweg einer "Fetisch-Form"
(204/205 SH) verfälscht werden. Das, was Kurz als
"sinnlichen Inhalt des Reichtums" (155
SH), "sinnlichen Bedürfnisinhalt" (155 SH), "Inhalte des
Bewußtseins" (218 SH) etc.
bezeichnet, stellt jedoch laut Kurz dabei
"keinen apriorischen positiven Maßstab"
(129 Tr)
dar. Wenn man den Begriff ›apriorisch‹
grundsätzlicher in der Bedeutung ›vom Früheren her‹ begreift und ihn nicht im
kantischen Sinne auf abstrakte Kategorien, auf die Bedeutung ›allein durch
Denken gewonnen‹ reduziert, so dürfte es gemäß Kurz' auch keinen ursprünglichen
Wesensinhalt des Bewußtseins geben - Liebe, Freiheit, Gewissen etc. können dann
entweder nur Epiphänomene oder Ergebnisse und keine existentiellen Bedingungen
historisch-gesellschaftlicher Entwicklung sein. Wenn ich sage, daß das
gesellschaftlich-soziale Handeln immer an einen existentiell-subjektiven
Handlungsträger gebunden ist, setze ich nicht automatisch voraus, daß dann alle
Motive und Anregungen des Handelns einseitig monistisch im Subjekt gründen,
sondern ich behaupte lediglich, daß dieses Subjekt die Freiheit hat, die Welt
entgegen der vorgezeichneten Bahnen zu verändern. Die Überwindung der
Subjekt-Objekt-Spaltung kann nur subjektiv-geistig-gemeinschaftlich gelingen
und hat zur Voraussetzung, daß jeder Mensch als subjektives Wesen einen
existenzdialektisch-verbindenden Geist des Göttlichen und Menschlichen in sich
lebendig hält und diesen liebend, transzendierend in die Welt hineinträgt
(weiterführend verweise ich in diesem Zusammenhang insbesondere auf das Buch
"Existentielle Dialektik des Göttlichen und Menschlichen" von N.
Berdjajew). Und dennoch wird ein Teil unseres Lebens ständig, real-praktisch,
immer wieder auch von einer Welt der Objekte in Anspruch genommen. Das heißt,
nicht alles ist "subjektiv verursacht". Wir Menschen schaffen auch
neuartige Dinge, aber wir müssen in diesem Schaffensprozeß auf schon
Vorhandenes zurückgreifen, das eine bestimmte Realitätsstufe der Freiheit
ausdrückt, die wir Menschen als solche immer schon vorfinden, z.B. die Natur,
aber auch gesellschaftlich-materielle Verhältnisse, in die wir hineingeboren
werden etc. Aber das, was wir vorfinden, können wir verändern, und das, was wir
in und an den Dingen noch nicht vorfinden, können wir schöpferisch in sie
hineintragen unter Berücksichtigung der vorgefundenen Strukturen, die dabei
verändert werden. Hinsichtlich radikaler Gesellschaftskritik kann man daher
sagen, daß der
"Wille zur Ausbeutung" oder der
"Wille zur Macht" (179 SH)
keinen absoluten subjektiv-selbstherrlichen
Ambitionen entspringt, sondern auch einer fetischkonstituierten Welt zugeordnet
ist und dieser dient. Die eigentliche Schwäche des Menschen liegt in seiner
Anpassung z.B. an eine am mehr oder weniger subtilen Macht- und Gewaltstreben
ausgerichtete Welt, die wirkliche Stärke im subjektiv-geistigen, aber zugleich
auch praktischen Widerstehen gegenüber fetischkonstituierten
Umständen/Strukturen und Prozessen äußerlicher und geistig-verinnerlichter Art.
Eine radikal "negatorische" Kritik, die
die Überwindung des Fetisch-System und des Subjekts zugleich anstrebt, ist
nicht möglich. Der Mensch als außer- bzw. übersystematischer
schöpferisch-ethischer Ausgangspunkt bleibt immer unverzichtbar, wenn es im
Sinne einer wahrhaft freien Gemeinschaft um Veränderungen geht. Was hätte die
Welt für einen Sinn, wenn dieser sich nicht subjektiv im Menschen offenbaren
würde? Natürlich kann der Mensch auch einen ›Sinn‹ anbeten, der niederen
Motiven und Ängsten, z.B. einem kleinbürgerlichen funktionsorientierten
Kontroll- und Sicherheitsbedürfnis entspringt, welches dann in einem
Fetischobjekt oder -system seinen Halt findet und dieses befördert. Damit das
Fetisch-System in Gang bleibt und weiterläuft, muß der Mensch ihm schöpferische
Kräfte zukommen lassen. Und der Mensch bindet sich emotional an den Fetisch und
kämpft für seinen Glauben auch auf die Gefahr hin, mitsamt des Fetischs dabei
unterzugehen. Es kommt also darauf an, daß der Mensch seine authentischen,
ethischen Kräfte stärkt, daß er seine gemeinschaftliche Persönlichkeit
verwirklicht, um die anerzogene, angenommene "Fetisch-Konstitution"
überwinden zu können, die ich - genauer betrachtet - innerhalb des subjektiven
Bereichs primär für eine Fetisch-Orientierung halte und mit einem Bewußtsein
hergestellt wird, das sekundär eine entsprechende "Form-Konstitution"
annimmt. Die sogenannte "Form-Konstitution" ist die Folge einer
fetischorientierten Schwächung der Persönlichkeit. Die Fetisch-Orientierung ist
eine relative und kann durch Stärkung der gemeinschaftlichen Persönlichkeit
überwunden werden. Die Fetisch-Orientierung an sich entsteht durch die
Einengung des Bewußtseins auf eine alles korrumpierende Verabsolutierung einer
dafür besonders geeigneten innermenschlichen Fähigkeit/Eigenschaft/Kraft (z.B.
die Rationalität, die Sexualität etc.) oder eines äußeren Prozesses
(Kapitalismus) oder Gegenstands, wonach sich partiell die
Bewußtseinskräfte/-inhalte relativ abhängig, formkonstitutiv ausrichten; dabei
treten besonders die destruktiven Wesenskräfte hervor. Real stellt sich die
Fetisch-Orientierung als eine Verbindung der dafür prädestinierten
innermenschlichen Eigenschaften/Kräfte mit äußeren Prozessen oder Objekten dar
- entsprechend der obigen Beispiele erg&änzen sich insbesondere verengte
Rationalität und Kapitalismus, verengte Sexualität und Sexobjekt. Die
formkonstitutive Ausrichtung ist nicht absolut, denn die
persönlichkeitsbezogenen inneren Wesenskräfte, und zwar die
schöpferisch-ethischen, bleiben im subjektiven Kern des Menschen in ihrer
Ursprünglichkeit immer erhalten, wenn auch zuweilen nur äußerst schwach. Zu
diesen Kräften zählen grundsätzlich vor allem die Liebe und die in ihr wirkende
schöpferische Freiheit, das originäre Gewissen, die Leidensfähigkeit, echtes
Mitgefühl und Mitleid, die Hoffnung - transzendierende Kräfte, die in ihrer
Gesamtheit den Persönlichkeitskern, die authentische Wahrheit des Ich-Subjekts
in seiner Tiefe ausmachen. Deshalb trägt wesentlich jeder Mensch das echte
Potential zur Überwindung der Fetisch-Orientierung in sich, so daß er jederzeit
den Ausstieg beginnen, wagen kann, primär geistig, erkenntnismäßig, was auch
praktische Folgen hätte - wenn auch noch so gering. Und je mehr Menschen den
Ausstieg wagen, desto wahrscheinlicher die Möglichkeit eines Gesellschaftswandels.
Doch leider scheint das authentische Potential in den sicherheitsbedürftigen
kleinbürgerlichen ›Westmenschen‹ derzeit sehr schwach entwickelt zu sein. Hier
hat die kapitalistische Normalität, das kapitalistische Kompensationssystem
ganze abstrakte Arbeit geleistet. Und was soll erst ein stark
fetischorientierter Mensch in einer zusammengebrochenen Warengesellschaft
anfangen? Versucht er nicht alles zu tun, um das gewohnte ›Leben‹ wieder
herzustellen: abstrakt Handel treiben, Waren produzieren, verkaufen und
konsumieren? Warum sollte es nach einem Zusammenbruch und einer längeren
chaotischen Zwischenzeit prinzipiell nicht wieder so werden, wie bisher -
zunächst halt auf einem primitiveren und noch rigideren Niveau? Das war nach
den großen Kriegen im letzten Jahrhundert prinzipiell doch ähnlich, und in der
sogenannten Dritten Welt vollzieht es sich täglich in mörderisch-erschreckender
Weise. Wie sich die Menschen in entsprechenden Grenzsituationen verhalten
werden, das ist vor allem auch eine Frage der Höhe ihres Bewußtseins, welches
von der Realisierung des schöpferisch-ethischen Persönlichkeitssubjekts
abhängt, von dem wiederum das Bewußtsein ganzheitlich erfüllt wird. Und
manchmal staunt man, was in Grenzsituationen an echten umwandelnden Kräften im
Menschen freigesetzt werden kann. Da werden Waren schon mal schnell zur
absoluten Nebensächlichkeit. Die Hoffnung bleibt.
"Der Mensch tritt aus der ersten Natur heraus
(und damit ihr gegenüber, obwohl er Teil von ihr bleibt), indem er vom Instinkt
der Tiere entkoppelt wird. Er ist das instinktlose Tier (hier liegt jedenfalls
das Wahrheitsmoment der Theorie von Arnold Gehlen). Damit aber ist die
Notwendigkeit von Bewußtheit gesetzt, als Subjektivität gegenüber der ersten
Natur. Was den schlechtesten Baumeister von der besten Biene unterscheidet,
sagt bekanntlich Marx, ist die Tatsache, daß seine Konstruktion vorher durch
seinen Kopf hindurchgehen muß. Der Mensch tritt so der ersten Natur als
Subjekt gegenüber, aber er kann dies nur als Mensch, d.h. als gesellschaftliches
Wesen. Als dieses gesellschaftliche Wesen jedoch wird er seinerseits subjektlos
konstituiert, eben als subjektlose Konstitution zweiter Ordnung. Damit ist
nichts weiter gesagt, als daß der Mensch sich weder unmittelbar als
gesellschaftliches Subjekt selbst geschaffen hat noch von einem Gott-Subjekt
geschaffen wurde, sondern als entkoppeltes Tier nur subjektlos entstehen
konnte. Er entsteht als Subjekt gegenüber der ersten Natur, weiß aber
notwendigerweise selber nicht, wer er ist, weiß und hat sich nicht bewußt als
das, was er geworden ist, nämlich gesellschaftliches Wesen oder Naturwesen
zweiter Ordnung." (183 SH)
Also zwischen Biene und hochentwickelten, bereits
ansatzweise personalen Tieren bestehen gewaltige Unterschiede. Z.B. bei Affen
oder Elefanten läßt sich sehr wohl ein mehr oder weniger schwaches
Selbstbewußtsein und eine subjektive Wahrnehmung vermuten. Daß der Mensch
"vom Instinkt der Tiere entkoppelt wird" heißt somit, daß das
schwache Subjekt zu einem relativ viel stärkerem fortgeschritten sein muß. Und
ohne dieses personale Subjekt würde gesellschaftliche Subjektivität in der Luft
hängen. Der Begriff "gesellschaftliches Subjekt" ist völlig unklar.
Man könnte interpretieren, daß das personalbewußte Subjekt auch einen
gesellschaftlichen Bezug in sich integriert. Doch Kurz spricht hier von einem
"subjektlos konstituierten" "gesellschaftlichen Subjekt".
Was soll das sein? Völlig irre gegangene, irgendwie menschenartige (was den
Körperbau angeht) Wesen? Wonach richten diese Wesen ihr gesellschaftliches
Subjekt aus, wenn - streng genommen - zunächst nicht einmal die Natur als
Maßstab dienen kann? Denn dann wären sie wieder gänzlich naturbestimmte Wesen
wie rein triebgesteuerte Tiere. Da spielt es auch keine Rolle, "daß seine
[des Menschen - D.H.] Konstruktion vorher durch seinen Kopf hindurchgehen
muß". Lernen ist hier nur ein unschöpferisches Abkupfern und kann nichts
Entscheidendes zur Befreiung des Menschen von der in diesem Fall
naturbestimmten Abhängigkeit beitragen.
"Er entsteht als Subjekt gegenüber der ersten
Natur, weiß aber notwendigerweise selber nicht, wer er ist, weiß und hat sich
nicht bewußt als das, was er geworden ist, nämlich gesellschaftliches Wesen
oder Naturwesen zweiter Ordnung." (183 SH)
Wenn der Mensch auch nicht die geringste Ahnung hat,
"wer er ist", wird er auch zu keiner Zeit die Frage stellen können:
Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Man kann doch nicht ernsthaft
davon ausgehen, daß der Mensch zu Beginn einer absolut zwangssolidarischen
Bewußtlosigkeit oder gar Selbstvernichtung aufgesessen ist, weil er nicht
vermochte, ein - wenn auch äußerst schwaches - subjektiv-existentielles Ich
auszusprechen oder zumindest zu fühlen. Wenn auch das Selbstgefühl zu Beginn
der Menschheit ein sehr diffuses gewesen sein mag, so ist es dennoch eine der
entscheidenden Voraussetzungen der Menschwerdung an sich, bis heute und in alle
Zeiten, solange der Mensch überhaupt existieren wird. Denn erst das sich
herausschälende Selbst als Persönlichkeitssubjekt befähigt den Menschen zu authentischen,
selbstbestimmten Handlungen. Somit sage ich auch, daß ein selbstbestimmtes
Handeln des Menschen zu allen Zeiten zumindest im embryonalen Ansatz vorhanden
war. Eine "blinde Form-Konstitution des Bewußtseins" ist eine
relative, sekundäre Erscheinung, auch wenn sie - z.B. in der Moderne - massiv
an Einfluß gewinnt und man den Eindruck bekommt, daß sie uns gänzlich
beherrscht. Diese relative "Konstitution" ist jedoch nur so lange
"blind", wie das authentische Gewissen erfolgreich zurückgedrängt bzw.
minimiert werden kann. In unserer heutigen Zeit können jedoch die Zumutungen
dermaßen grausam werden - sowohl gegen die Physis als auch gegen die Seele des
Menschen -, daß sich selbst ein schwaches Gewissen, ein schwacher Geist zu Wort
zu melden beginnt und protestiert. Ob das jemals zu einer echten
gesellschaftlichen Umbruchsstimmung führen wird, ist eine andere Frage.
"Das gesellschaftliche Wesen, da 'entstanden'
und nicht geschaffen, kann nur als subjektloses System zweiter Ordnung
auftreten. Diese Subjektlosigkeit zweiter Ordnung ist der unvermeidliche Preis
für das Subjektwerden gegenüber der unmittelbar natürlichen, biologischen
Subjektlosigkeit erster Ordnung." (183 SH)
Damit erübrigt sich nach Kurz auch die Frage: Woher
komme ich? Denn mit dieser Frage maße ich mir quasi ein scheinbar authentisches
Ich an, das immer nur eine Illusion, ein Fetisch gewesen ist. Das Ich ist
demnach real gänzlich fremdbestimmt oder aber, da es Illusion ist, geht es der
"radikalen Kritik" darum, darauf hinzuwirken, dem subjektiven Wesen
das subjektive Ich zumindest soweit auszutreiben, daß dieses Wesen den
"Inhalten" der Gegenstände gemäß handeln kann. Doch damit wird
eigentlich nichts gewonnen. Die Fremdbestimmung des Ich-Subjekts seitens eines
Fetischs geht in eine Fremdbestimmung des gesellschaftlichen Wesens seitens der
"sinnlichen Inhalte" über.
Kurz blendet aus, daß das Ich-Subjekt nur
sekundär-praktisch an ein Objekt gebunden ist, was nicht ausschließt, daß das
Subjekt dazu übergehen kann, sein Verhältnis zu sich und seiner Umgebung in
vorwiegend objektivierender, entfremdender Weise herzustellen. Primär geht das
Ich jedoch aus der Tiefe seiner potentiell freiheitlichen Existenz hervor, das
innerhalb eines hochkomplexen und vor allem auch tragischen geschichtlichen
Prozesses um Liebe und somit um Verwirklichung seiner gemeinschaftsstiftenden
Persönlichkeit als realexistierende Wahrheit ringt. Jede Beziehung von Person
zu Person ist primär keine Subjekt-Objekt-Beziehung, sondern vollzieht sich von
Subjekt zu Subjekt. Es ist eine existentielle Beziehung, die geistig-bewußt
grundsätzlich durch transzendierende Liebe innerhalb der mehr oder weniger
einander Liebenden realisiert wird. Die liebende Person erfährt die Liebe zum
anderen ganzheitlich, d.h., sie realisiert die Liebe in sich
persönlich-subjektiv-geistig als eine dreigliedrige freie Gemeinschaft von Ich
und Du im Wir. Das tiefe Ich-Subjekt bildet somit die unabdingbare
Voraussetzung für die Verwirklichung der Gemeinschaft überhaupt, die wiederum wesentlich
nur liebevoll, in Liebe realisiert werden kann. Selbst in unserer heutigen, zur
Entpersönlichung tendierenden modernen Zeit kann der Mensch nicht ohne ein
Mindestmaß an liebevoller Bindung zu jemand anderem auskommen, auch wenn er
diese letztlich zu einem Tier herstellt. Anderweitig wird der Mensch sukzessive
vollkommen verrückt, wahnsinnig. Sinngemäß sagt Berdjajew, daß die
Persönlichkeit niemals Teil von etwas, sondern ein ganzheitlicher Mikrokosmos
und Mikrotheos ist und die Fähigkeit besitzt, die Welt in sich
schöpferisch-geistig zu vereinen. Dies geschieht immer konkret
individuell-einzigartig. Insbesondere der Mensch, der als Person die
mikrokosmische Ganzheitlichkeit in sich umfassend verwirklichen kann, ist für
das Gelingen von Gemeinschaft von allerhöchster Bedeutung. Kein anderes Wesen
auf Erden, geschweige denn ein sich fortlaufend verlierendes
"gesellschaftliches Wesen", ist in der Lage, so umfassend
Gemeinschaft realisieren zu können wie der Mensch, weil der Mensch im entscheidenden
Maß nicht mehr durch natürliche Zwänge gebunden ist und somit die existentielle
Freiheit des Geistes in Wahrheit realisieren und leben kann. Immer spielen
hierbei die verstandesmäßigen Kräfte für das Gelingen des integralen
Zusammenhalts von Persönlichkeit und Gemeinschaft eine unabdingbar ordnende und
praktische Rolle. Der Verstand als vorherrschendes Prinzip dagegen wirkt
chaotisierend, weil die Welt eben nicht durch und durch logisch ist. Der
Verstand braucht also immer einen Ausgangs- bzw. Bezugspunkt.
Das Leben zeigt, daß die Liebe eines Menschen zu
einem anderen Menschen alles andere in der Welt an Bedeutung überragen kann.
Deshalb ist Liebe auch gefährlich, weil sie die Welt im geistigen Sinne
sprengt, was auch immer praktische Folgen nach sich zieht. Liebe ist tragisch,
weil sie die Welt nicht hinnimmt, sondern sich ihr widersetzt und nach
Veränderungen drängt, die die Liebe erweitern helfen. Doch Veränderungen
gelingen oft nicht im Sinne der Liebe, lassen die Liebe erkalten und erlöschen.
Auch wird Liebe erdrückend und zerstörend, will der Mensch mit aller Macht,
diktatorisch, die Liebe in die Welt hineintragen, Liebe, die auf diese Weise
augenblicklich von mitleidlosem Haß und Fanatismus abgelöst werden kann.
Deshalb verlangt die Liebe auch schöpferische Demut, Bescheidenheit und
Rücksichtnahme gegenüber den Menschen, die sich vor der Liebe und den damit
verbundenen Veränderungen, dem Verlust ihrer partiellen Integrität oder
gewohnten Schein-Integrität fürchten. Ohne schöpferische Demut endet die Liebe
abrupt. Schöpferische Demut ist aber dennoch nicht eine passiv duldende,
mutlose, anpassende Hinnahme dunkler destruktiver Seiten des Menschen und
seiner destruktiven Verhältnisse, sondern der Sinn dieser Demut besteht in der
Vermeidung einer unerbittlichen Verdammung des sündigen Menschen, zumal
ausnahmslos und immer wieder jeder Mensch im Leben mit der Sünde (= Schuld)
konfrontiert wird und sich ihr stellen muß, um sie jeweils konkret und
letztlich persönlichkeitsstärkend überwinden zu können. Der in Liebe und nicht
aus Gehorsam demütige Mensch weiß um die Hartnäckigkeit schlechter und
destruktiver Gewohnheiten und Traditionen, weiß, daß der Weg authentischer
Selbsterkenntnis zunächst und oft mit bitteren Wahrheiten einhergeht, daß die
existentielle Auseinandersetzung mit diesen Wahrheiten mit nahezu
unerträglichen Seelenqualen verbunden sein kann und zuweilen, angesichts des
jeweils konkreten Ausmaßes innerer und äußerer Destruktivität, kaum noch
erbracht werden kann oder auch nicht mehr erbracht werden will. Vor allem die
Unfähigkeit zur Selbsterkenntnis bzw. die Abneigung gegenüber authentischer,
der Wahrheit ins Auge blickender Selbsterkenntnis bescherte den Menschen unter
anderem das sogenannte ›Dritte Reich‹ deutscher Prägung und setzt sich partiell
und subtil in der Moderne fort, die versucht, ihre prinzipielle Nähe zum
›Dritten Reich‹ distanzierend von sich zu weisen. Schöpferische Demut der Liebe
beinhaltet weiterhin die Einsicht, daß ein Mindestmaß an Zeit und umfassender
Besinnung für eine echte Selbsterkenntnis erforderlich ist. Der Mensch der
Moderne dagegen flüchtet vor sich selbst, er flüchtet in eine Zukunft, die eine
unbewältigte bittere Vergangenheit mit sich herumschleppt und diese prinzipiell
unverändert fortsetzt. Die schöpferische Demut der Liebe eröffnet den Menschen
die freie Chance, im Sinne einer zu erringenden geistigen Freiheit und Wahrheit
zu handeln, ohne von außen dazu genötigt zu werden. Nötigung würde jede
Möglichkeit einer zu erringenden Freiheit untergraben. Um im Sinne der zu erringenden
geistigen Freiheit und Wahrheit handeln zu können, muß jedem Menschen schon von
vornherein schöpferische Freiheit im Denken und Handeln eingeräumt werden,
damit auch der Weg zu Veränderungen in der Lebensgestaltung gemeinschaftlich
beschritten werden kann. Schöpferische Demut meint, daß sehr wohl kompromißlos
und mit aller Schärfe Kritik an den destruktiven Verhältnissen sowohl
individuell geistiger als auch gesellschaftlich-sozialer Art geübt wird, jedoch
ohne den Menschen an sich dabei zu verdammen und sich selbst dabei über die
anderen zu erheben. Hinsichtlich kompromißloser Kritik hat meines Erachtens
auch die sogenannte "radikale Kritik" schon sehr wertvolle (geistige
und nicht warenwertmäßige) und anregende Arbeit geleistet. Unschöpferisch beharrendes
Denken, das unter anderem die krassen sozialen Mißstände in der Welt als etwas
Schicksalhaftes, Gottgegebenes oder gar Erhaltenswertes und zu Erweiterndes
hinnimmt, gilt es loszuwerden.
Da der Mensch als Persönlichkeit seine Beziehung zu
anderen Persönlichkeiten und zur Welt überhaupt aus sich heraus
primär-existentiell-schöpferisch vollzieht, ist er primär ein freies Wesen.
Diese immanente Freiheit ist sein schöpferischer Impuls, mit dem er sich sowohl
in Verbindung mit transzendierenden existentiellen Intuitionen der Wahrheit und
Liebe, des Gewissens, des Leidens und Mitleids als auch über Ängste, niedere
Triebe und Wünsche, Süchte im weitesten Sinne etc. zur Welt überhaupt in
Beziehung setzen kann. Das objektivierte Verhältnis zu einer Welt der Objekte
ist immer nur ein sekundäres. Wir können auch Gegenstände unseres täglichen
Gebrauchs liebgewinnen. Doch dieses Liebgewinnen ist keine Objektivierung,
sondern eine emotionale, aktiv-schöpferisch-existentielle Zuwendung, die die
äußerlich-objektivierende Handhabung des Gegenstandes primär begleitet. Die
Gefahr besteht hier darin, das der liebgewonnene Gegenstand vom Mensch
verabsolutiert bzw. vergötzt wird. Deshalb gilt es, mit "Bewußtheit",
die ihrerseits ebenfalls von geistig-schöpferisch-wertenden Intuitionen
getragen wird, dieser Gefahr zu widerstehen. Der einzelne Mensch hat
ursprünglich ein Gespür für selbstgemachte und nichtselbstgemachte Gefahren,
die gegen seine grundsätzliche Integrität gerichtet sind. Doch sobald ich einen
anderen Menschen vorrangig als ein Objekt betrachte, gerate ich in den Sog des
Narzißmus bzw. in eine autistische Sackgasse. Liebe ist so unmöglich. Der
kleinbürgerliche Narzißt ist ein die Liebe entbehrendes, an die Oberfläche
geworfenes Wesen, das permanent dazu neigt, im Zuge seines vorrangig
objektivierenden Inbeziehungtretens sich der Welt und insbesondere den Menschen
gegenüber abzusichern, zu behaupten und durchzusetzen. Narzißmus tritt zwar
insbesondere unter den Bedingungen kapitalistischer Verhältnisse auf, aber ohne
narzißtische Tendenz im Menschen gäbe es auch keinen Kapitalismus. Die Gründe
für die Entstehung kapitalistischer Verhältnisse liegen somit ebenfalls in
einer existentiellen Verirrung des Menschen. Damit wird nicht ausgeschlossen,
daß der Kapitalismus vor allem auch Systemzwang ist und in seiner historischen
Entstehung und Entwicklung von einer zwangsmäßigen Unterwerfung des Menschen in
geistiger und praktischer Hinsicht abhängig war, eine Unterwerfung, die der
Mensch verinnerlichend auch aktiv-affirmativ vorantrieb. Andererseits haben
sich Menschen schon bereits zu Beginn der kapitalistischen Moderne gegen die
entsprechende abstrakte Arbeit zur Wehr gesetzt. Der Kapitalismus hat nicht nur
eine, sondern komplexe Ursachen.
Kurz behauptet mit der Feststellung: der
"Mensch, d.h. als gesellschaftliches
Wesen" (183 SH),
eine Liebe, die aus dem
Gesellschafts-Beziehungs-Zwang evolviert. Der Mensch an und für sich wäre
demnach zunächst tabula rasa. Ich jedoch glaube an den Menschen, der frei aus
sich heraus in ein liebendes Verhältnis zu anderen Menschen treten kann, weil
auch ich persönlich zur Welt im weitesten Sinne auf diese Weise Zugang fand.
Nun beweise mir jemand, daß mein existentiell freies Leben keines war und ist.
Mit anderen Worten: Entweder ich glaube (Glaube als schöpferischer Prozeß, als
primäre Wahrheitsintuition) an mich, genauer, ich weiß mich zunehmend als eine
gemeinschaftsorientierte Persönlichkeit, die ich auch gegen widrige Umstände
behauptend realisieren konnte, oder ich verleugne mich im Glauben (weil Beweis
hier nicht möglich) an eine theoretisch daherkommende Behauptung, die mir das
Subjektempfinden, die subjektive Selbstwahrnehmung als Lüge ausredet. Was ist
wichtiger: meine authentische Selbstwahrnehmung, die auch kritische Selbstwahrnehmung
beinhaltet, oder die Theorie, die von meiner Selbstwahrnehmung generell das
Gegenteil behauptet? Jeder entscheide letztlich selbst.
"Die Abdifferenzierung von der ersten Natur,
die Herausbildung des Menschen als Subjekt dieser gegenüber, ist also notwendig
selber wieder subjektlos. Das gesellschaftliche Wesen, da 'entstanden' und
nicht geschaffen, kann nur als subjektloses System zweiter Ordnung auftreten.
Diese Subjektlosigkeit zweiter Ordnung ist der unvermeidliche Preis für das
Subjektwerden gegenüber der unmittelbar natürlichen, biologischen
Subjektlosigkeit erster Ordnung. Es 'entstehen' also subjektlos Systeme zweiter
Ordnung, symbolische Systeme (Codes) des entstehenden und entstandenen
Menschenwesens." (183 SH)
Der Mensch erschafft sich fortlaufend selbst, nicht
physisch, sondern geistig. Ansonsten wäre er nur biologischer Prozeß. Denn das
Geistige im Menschen macht ihn zum Menschen im eigentlichen Sinne. Ich sage
auch, daß es sich schon bei hochentwickelten Tieren um personenhafte Wesen
handelt. Damit widerspreche ich dem doch eher arroganten Vorurteil, Tiere seien
quasi generell instinktgesteuerte Wesen. Der Übergang vom Tier zum Mensch war
sowohl sprunghaft als auch fließend. Das Gegenteil kann mir keiner beweisen.
Hochentwickelte Tiere bringen menschliche Züge zum Ausdruck. Die
abstrakt-wissenschaftlich festgelegte Kluft zwischen Tier und Mensch ist für
mich als liebendes, mitleidendes und mitfühlendes Wesen nicht von
ausschlaggebender Bedeutung. Ich kann die Beziehung zu einem Haustier wie Hund
und Katze als personales empfinden. Dem können bestimmt viele Menschen aus
Erfahrung zustimmen.
Selbsterkenntnis des Menschen ist also ein Prozeß
des beständigen Erschaffens, der Stärkung seiner jeweils konkreten
Persönlichkeit, die wiederum das konkrete Geistige in seiner Vielschichtigkeit
beinhaltet. Der Mensch ist nicht einfach blind "entstanden", sondern
trägt aktiv schaffend zu seiner Selbstwerdung bei. Die hochentwickelten Tiere
haben ein im Vergleich zum Menschen schwach ausgebildetes Selbstbewußtsein,
sind im hohen Maße instinktiv gebunden. Deshalb bleibt ihnen eine umfassendere
Selbsterkenntnis verwehrt. Als vom Instinkt "entkoppeltes Tier" fällt
nun der Mensch keinesfalls in eine subjektlose Konstitution, sondern die
elementaren subjektiven geistigen Kräfte erlangen durch die Entkoppelung des
Menschen vom Instinkt einen entschieden höheren Grad an Freiheit ihrer
Wirkmöglichkeiten. Aber mehr Freiheit bedeutet auch mehr Gefahren. Die nun mehr
und mehr selbstverantwortlichen geistigen Geschöpfe unterliegen ständig der
Gefahr, einer Selbst- und Fremdvergötzung zu verfallen, die zu einer Schwächung
der Persönlichkeit führt. Doch die Vergötzung ist kein endgültiges Schicksal,
sondern findet seine entgegnende Entzauberung durch die Rückgewinnung wahrer existentieller
Selbsterkenntnis, beruhend auf den authentisch-geistigen Wesenskräften des
Menschen. Doch die erforderliche Selbsterkenntnis, die eine echte Überwindung
des Kapitalismus primär begleiten muß, muß eine im Vergleich zu allen
vormodernen Zeiten erweiterte sein. Sie beruht nicht auf ein einseitiges
existentielles Versenken, sie ist an eine ganzheitlich-schöpferische
Verarbeitung der geschichtlichen Prozesse und Erfahrungen gebunden, welche die
Menschheit bis heute durchlebt hat. D.h., die Selbsterkenntnis muß heute in
einer Weise vollzogen werden, die eine romantische Idealisierung vormoderner
Zeiten oder gar einer ehemals angeblich funktionierenden ›Marktwirtschaft‹
nicht zuläßt. Selbsterkenntnis ist vor allem auch ein gemeinschaftlicher
Prozeß, und deshalb gilt es, entsprechende soziale Verhältnisse zu schaffen,
die diesen Prozeß begünstigen. Und Selbsterkenntnis bedeutet auch nicht, daß es
nur um uns Menschen geht. In der Selbsterkenntnis erfährt sich der Mensch als
ein nach Erkenntnis seiner selbst und der ganzen Welt zugleich strebendes
Wesen. Wissenschaft (eingeschlossen die Geschichtswissenschaft als ein Teil der
Selbsterkenntnis) bleibt somit eines seiner wichtigsten
geistig-leidenschaftlichen Bemühungen von innen, aus dem Subjektiven heraus,
auch wenn Wissenschaft letztlich immer eine dienende Funktion im Leben und
Erkennen der Menschen einnehmen muß. Genauso wie alles andere kann auch die
Wissenschaft zu einem Götzen werden, wie es heute im starken Maße der Fall ist.
Wissenschaft schlägt in Szientismus um, der sich in allwissender Manier zum
Ebenbild eines "absoluten Geistes" (Hegel) erhebt.
Die Untersuchung der Geschichte
"als 'Geschichte von
Fetischverhältnissen'..." (184 SH)
bringt uns tatsächlich der Wahrheit ein Stück näher.
Aber der Mensch war immer weitaus mehr als ein bloßes Fetisch-Wesen. Und es ist
wahr, daß erst auf der Stufe des
"Warenfetisch als Kapitalfetisch" die
"Fetisch-Konstitution" (185 SH)
deutlich zum Ausdruck kommt. Doch die
"Fetisch-Konstitution" als Götzenkonstitution wurde schon früher
angeprangert - ob in der Kunst oder der Philosophie oder selbst im Evangelium.
Das die
"Fetisch-Konstitution überhaupt nur aus ihrer
höchsten Entwicklungsstufe, dem Warenfetisch als Kapitalfetisch, hergeleitet
werden" (185 SH)
kann, ist eine Behauptung, die von der absoluten
Abhängigkeit des Menschen von den jeweiligen Verhältnissen bzw. der
sekundär-äußerlichen gesellschaftlich-kulturellen Entwicklung ausgeht.
(Übrigens nähert sich Kurz damit Hegels ›evolutionärem Geist-Denken‹ durchaus
an.) Dem Menschen wird auf diese Weise die konkrete geistige Freiheit, d.h.
sein zu allen Zeiten in ihm existierendes eigentliches Menschsein aberkannt.
"Auf den ersten Blick könnte es so erscheinen,
als würde mit dem Begriff der Fetisch-Konstitution nicht nur der alte
subjektiv-aufklärerische Herrschaftsbegriff, sondern der Herrschaftsbegriff
überhaupt obsolet. Die Destruktion des Subjekts müßte dann im Begriff der
bloßen Marionette gefaßt werden. Eine solche unvermittelte Preisgabe des
Herrschaftsbegriffs wäre sozusagen schon taktisch inakzeptabel. Sie würde
erstens den Menschen die real erfahrenen (und als durchaus leidvoll erlebten)
Zwänge auszureden scheinen, die den Alltag auch der säkularisierten
Fetischgesellschaft von totalem Markt und demokratischem Rechtsstaat bis in die
Poren bestimmt. Daß diese Repression nicht mehr auf ein bestimmtes Subjekt
zurückgeführt werden kann, daß sie 'strukturell' ist, ändert nichts an ihrem
Charakter und nichts daran, daß sie hassenswert ist." (185 SH)
Und doch hängt die Repression von einem bestimmten
Subjekt ab, und zwar von dem aktiv Handelnden. Das Subjekt repressiert sich
auch selbst, indem es den gesellschaftlichen Kapitalfetisch verinnerlicht.
Teilweise motiviert aus Angst vor dem Verlust des Lebensunterhalts für sich
selbst und seine nächsten, aber auch in dem Glauben, daß die
kapitalkonstituierte Verausgabung der Arbeitskraft überhaupt im Sinne einer
Verbesserung der sozialen Lebensumstände geschieht und uns vor dem Rückfall in
ein abergläubisches Mittelalter bewahrt, bringt das Subjekt den Kapitalfetisch
in eine unheilvolle Liaison mit den inneren Momenten der Liebe, Freiheit und
des Gewissens, aber auch des Leidens und der entsprechenden Opferbereitschaft,
Momente, die sofort beginnen, ihre ursprünglich gemeinschaftliche Kraft
einzubüßen und die fanatisierend und pervertierend zu Mitteln für einen
unsichtbaren Götzen verengt werden. Der Mensch nimmt mit der Dauer seines
abstrakten Arbeitens mehr und mehr die Entfremdung hin, bringt sich aktiv für
eine Optimierung der kapitalistischen Akkumulation ein, affirmiert die im
Kapital-Zusammenhang sich etablierenden niederen menschlichen Eigenschaften wie
Erfolgssucht, Selbstherrlichkeit, egozentrische Selbstbehauptung, Geldgier,
Gier nach materiellem Reichtum, Mitleidlosigkeit etc., akzeptiert beschönigend
menschenverachtende Ausbrüche von Haß und Rache, sofern diese der Erhaltung der
Finanz-Waren-Demokratien dienen. Authentisches Gewissen kann nahezu gänzlich in
der Versenkung verschwinden und durch. ein persönlichkeitsminimierendes
fetischorientiertes Anpassungsgewissen ersetzt werden, welches, gespickt mit
Ängsten verschiedenster Art, gegen Zuwiderhandlung gerichtet ist und
funktionsstörende Kräfte authentischer, aber auch chaotisch-pervertierter
triebhafter Art abwehren soll. Die Institutionen der allgemeinen
Disziplinierung, Schule etc., leisten ihr Übriges. Und dennoch, der unsichtbare
Götze ist so unsichtbar eben nicht, er steht permanent im Widerspruch zur
authentisch-schöpferischen Menschlichkeit. Dies spüren die Menschen immer
wieder intuitiv, aber verdrängen es zugleich resignierend und abwehrend, um
sich selbst und das lieblose, unfreie alltägliche Leben nicht in Frage stellen
zu müssen, ein Leben, woran sie sich messen, woran sie doch immer wieder ihr
Herz hängen, weil es sie so schön um- und versorgt (noch) - dies gilt
insbesondere für die Menschen des modernen Westens. Doch leider scheint es
gegenwärtig im Leben der meisten Menschen auf der Erde mittlerweile aus purer
Not keinen Ausweg mehr zu geben, die diese Menschen auch schicksalhaft in der
Kapitalverwertung gefangenhält.
"Hassenswert" ist die anonyme Repression.
In diesem Punkt ist Robert Kurz absolut Recht zu geben. Dieser Haß gilt eben
nicht irgendeinem Menschen, sondern eben einem menschenverachtenden Prozeß.
Aber ich kann die anonyme Repression nur deshalb hassen, weil sie mir
persönlich-subjektiv zuwider ist und ich mich geistig als Subjekt von ihr
distanziere. Ansonsten würde ich sehr wohl zur "Marionette", zum
willenlosen Geschöpf werden, und etliche Menschen sind in der Tat nicht weit
davon entfernt. Der "Herrschaftsbegriff" bleibt vor allem deshalb
bestehen, weil die Menschen die repressive anonyme Herrschaft trotz aller
Entfremdung immer wieder bewußt
"(... als durchaus leidvoll erlebte)
Zwänge" (185 SH)
erfahren. Bewußt erfahren heißt,
subjektiv-persönlich erfahren. Man leidet nicht unbewußt, sofern man leidet.
Abgesehen davon, daß einerseits viele Menschen entweder schon nicht mehr wissen
und wissen wollen, woran sie eigentlich wirklich leiden - geschuldet einem
starken Persönlichkeitsverlust - oder überhaupt alles auf eine Funktionsstörung
des an sich guten Systems schieben, so leiden andererseits viele Menschen auch
deshalb, weil sie sich nicht gänzlich an die Zwänge gewöhnen, ihnen gerecht werden
können. Und sie machen sich dafür selbst verantwortlich, lasten es
selbstzweifelnd (zumindest heimlich) ihrer Unfähigkeit an, die
Systemverinnerlichung und -forderung effektiv umsetzen zu können, um gegenüber
der Konkurrenz zu bestehen. Aber auch in diesem Zusammenhang liegt eine
Schwächung der Persönlichkeit vor. Grundsätzlich jedoch begreift sich die
Persönlichkeit nicht als Konkurrent und kann sich nicht mit äußeren Zwängen
abfinden und versucht immer, widrige, leidensverursachende Umstände zu beseitigen.
Das Leiden tritt hervor, weil sich der Mensch nicht in seiner Fülle erleben und
entfalten kann, weil man sein Leben einengt und es ihm manchmal sogar nimmt.
Leider hat es sich sehr tief in den modernen Menschen eingebrannt, das
vermeintliche Glück im Leben vom erfolgreichen Bestehen und der entsprechenden
Anerkennung innerhalb der Fetischverhältnisse abhängig zu machen, unabhängig
davon, ob es den Menschen gelingt oder nicht. Aber die Annahme, wir wären
gänzlich von dieser Anerkennung abhängig, würde jedes Bestreben, die
Fetischverhältnisse zu beseitigen, unmöglich machen, selbst wenn diese immer
wieder in sich zusammenbrechen. Der Mensch würde sich immer wieder neue
Fetische suchen. So gesehen muß es also einen existentiellen Gradmesser in mir
geben, der mich grundsätzlich in die Lage versetzt, die Umstände auch
analytisch-verstandesmäßig-theoretisch zu ergründen und entsprechende
Veränderungen anzustreben, die nicht im Sinne eines Fetischs sind. Wenn ich
entgegen Kurz sage, daß die Repression sehr wohl auf ein bestimmtes Subjekt
zurückgeführt werden kann, so schließe ich damit nicht den teilweisen
Selbstlauf der Fetischmaschine und die damit einhergehenden Zwänge aus, die dem
Menschen als ein in dieser Hinsicht auch partiell automatisches Subjekt nicht immer
bewußt sind. Ich sage damit nur, daß es letztlich und primär in der Hand des
Subjekts liegt, die Dinge zu verändern, auch wenn der Kapitalismus ohne
subjektives Wollen an seinen inneren Widersprüchen zerbricht. Aber wie oben
schon gesagt: Die fetischverhaftete Schose kann immer wieder in Gang gesetzt
werden (auch über die Verwirklichung eines materialistisch ausgerichteten
Sozialismus), auch nachdem der Fetisch-Prozeß eine gesellschaftliche
Katastrophe hervorgerufen hat. Zusammenbrüche gab es schon eine ganze Menge,
aber an der Herrschaft des Fetisch-Prinzips wurde nicht entscheidend gerüttelt.
Hieran kann nur ein selbstbewußtes Subjekt rütteln, das der Entfremdung vor
allem geistig in der Einheit von Freiheit, Liebe, Gewissen und Verstand zu
widerstehen weiß. Das ist auch ein schöpferischer Lernprozeß, der zuweilen mit
viel Leid verbunden sein kann. Mit der "radikalen Kritik" unter
anderem von R. Kurz wird genau diese Möglichkeit eröffnet, aber meines
Erachtens leider unter der verhängnisvollen Prämisse, daß das Subjekt
aufzugeben sei. Denn gerade so wird einem subjektlosen Fetisch, z.B. in Gestalt
der sogenannten "sinnlichen Inhalte", über die sich der angeblich
subjektbefreite Mensch wiederfinden kann, abermals Tür und Tor geöffnet.
Jede gesellschaftliche Handlung wird von einem
Subjekt ausgeführt, von einem primär selbstbestimmten oder fremdbestimmten
Subjekt. Die im Subjekt verinnerlichte Fremdbestimmtheit ist jedoch sekundärer,
unauthentischer Natur. Sie stellt eine geistig-subjektive Überantwortung des
Menschen an eine z.B. automatische, anonyme Herrschaftsmacht/-konstitution dar.
"Auf den ersten Blick könnte es so erscheinen,
als würde mit dem Begriff der Fetisch-Konstitution nicht nur der alte
subjektiv-aufklärerische Herrschaftsbegriff, sondern der Herrschaftsbegriff
überhaupt obsolet. Die Destruktion des Subjekts müßte dann im Begriff der
bloßen Marionette gefaßt werden. Eine solche unvermittelte Preisgabe des
Herrschaftsbegriffs wäre sozusagen schon taktisch inakzeptabel." (185 SH)
"Gerade um seinen zunehmend uneingestandenen
'drübersteherischen' Herrschaftsstandpunkt nicht real aufgeben und die Kritik
nicht bis an die eigene Zwangs-'Identität' und gar bis an den eigenen Körper
heranlassen zu müssen, läßt das Mann-Wesen sich sozusagen erleichtert in die
Subjektlosigkeit und deren Begriff zurückfallen. Nicht ich bin es, die Struktur
ist es. Das ist fast schon die Bewußtseinsverfassung des geisteskranken
Triebtäters, der sich selber Schuldlosigkeit einredet, weil er ja 'nichts
dafür' kann, obwohl er ein Wissen über sich und seine Taten hat... Um
bleiben zu können, was er ist, und um Herrschaft weiterhin ausüben zu können,
ist der zwangsheterosexuelle, zwangssouveräne und zwangsidentitäre Mann bereit,
sich selbst für unzurechnungsfähig zu erklären und den Subjektanspruch an die
'Struktur' bzw. an das 'System' abzugeben: an die ungeheure Macht der
Subjektlosigkeit, die ihm nicht konkret weh tut..." (186/187 SH)
Zunächst einmal, "um seinen zunehmend
uneingestandenen 'drübersteherischen' Herrschaftsstandpunkt... aufgeben und die
Kritik bis an die eigene Zwangs-'Identität'... heranlassen" zu können, muß
der Mensch ein ursprüngliches Verhältnis zu sich und den anderen Menschen
haben, von dem aus er das "Wissen über sich und seine Taten" überhaupt
ins kritische Licht rücken kann. "Sich selbst für unzurechnungsfähig zu
erklären", das geht nur, wenn man "den Subjektanspruch an die
'Struktur' bzw. an das 'System'..." abgeben kann, d.h. indem das Ich nicht
selbstbestimmt sondern fremdbestimmt handelt. "Sich selbst für
unzurechnungsfähig zu erklären" sagt eigentlich aus, daß man die
persönliche Verantwortung für das Handeln bewußt an eine anonyme Herrschaft
weiterdelegiert, daß man sich für unschuldig erklärt mit dem (geheimen) Wissen,
daß man anderweitig auch persönlich für die weiterreichenderen Konsequenzen
seines Handeln verantwortlich ist. Aber letzteres offen zuzugeben und sich
einzugestehen, würde das selbstgerechte Bild, daß man persönlich keine (Mit-)
Schuld an den menschenverachtenden Verhältnissen trägt, zerstören, zumal dieses
Bild allgemeine Anerkennung genießt, weil man halt
"...'nur' seinen Job tut". (186 SH)
Der "Herrschaftsbegriff" kann vom
ursprünglichen Verhältnis des Menschen zu sich und den anderen Menschen her
nicht "obsolet" werden. Eine Kritik an der Herrschaft wäre ohne
dieses Verhältnis auch "taktisch" nicht möglich, wäre völlig aus der
Luft gegriffen. Auch Kurz weiß, daß ein
"Herrschaftsbegriffs und die
Marionetten-Metapher nicht bloß aus quasi-taktischen Gründen abgewehrt werden
(dürfen), um eine negatorische Position gegenüber hassenswerten und als
unerträglich empfundenen Verhältnissen behaupten zu können." (187 SH)
Doch eine Kritik an einer verengten
"Subjektivität", die als eine im Verhältnis zum korrelativen Objekt
völlig autonom handelnde verstanden wird, kann das Problem der
"Marionetten-Metapher" nicht lösen,
"denn 'Automatismus' und Subjektivität
schließen sich ja gegenseitig aus." (188 SH)
Deshalb sagt Kurz:
"Das fetisch-konstituierte Bewußtsein kommt
spontan zu dem Schluß, das codierende und gesetzstiftende 'Wesen' zu
veräußerlichen, um dann beim Subjekt als der Marionette zu landen. Aber da
'draußen' ist 'nichts' ('Nichts'). Das Subjekt ist, eine Marionette, die selber
die Fäden zieht. Das aber ist unmöglich, bzw. es ist die Metapher für etwas in
den vorausgesetzten Denkformen undenkbares. Für das Subjekt gibt es als
Bezugsgrößen entweder bewußtlose Objekte (Natur) oder andere Subjekte. Dann
kann der Fetisch nur noch entweder Objekt, Natur und somit unausweichlich oder
eben ein anderes und äußeres Subjekt sein. Die Begriffe von Fetisch und zweiter
Natur verweisen aber darauf (und das ist eben der Unterschied zur
Systemtheorie, die keinen Unterschied von erster und zweiter Natur kennt), daß
es ein 'etwas' gibt, das im Subjekt-Objekt-Dualismus nicht aufgeht, das selber
weder Subjekt noch Objekt ist, sondern dieses Verhältnis erst
konstitutiert." (188 SH)
"Die einseitige Destruktion des Subjekts kann
nicht bei sich stehenbleiben, das Subjekt kann nicht als bloßer Irrtum und als
Marionette belassen werden, weil in der vorausgesetzten Denkform die Frage nach
dem 'Subjekt des Subjekts' nicht abgewiesen werden kann." (189 SH)
"Der entscheidende Punkt ist, daß es eine Ebene
innerhalb der menschlich-gesellschaftlichen Konstitution und somit auch
innerhalb jedes einzelnen Menschen geben muß, die jenseits des Subjekt-Objekt
Dualismus liegt. Für das Aufklärungsbewußtsein gibt es entweder Subjekt
(Bewußtsein) oder Objekt, jedoch kein Drittes. Der Schlüsselbegriff für das
Verständnis des 'Dritten' und eigentlich Konstitutiven kann nur der Begriff des
Unbewußten sein." (189/190 SH)
Entsprechend einer erweiterten Auffassung von
Subjektivität läßt sich jedoch sagen, daß sich "...'Automatismus' und
Subjektivität" ergänzen. Subjektivität fügt sich in den Automatismus ein,
ohne darin gänzlich aufgehen zu können, denn die Subjektivität ist im Subjekt
ursprünglich eben nicht automatisch, sondern frei - partiell, potentiell immer
schon. Der Kapitalismus läuft nicht absolut automatisch. Sobald der Mensch als
aktiver, mit schöpferischen Kräften (mit Freiheit) ausgestatteter Handelnder
entfällt, löst sich auch jede Kapital-Waren-Geld-Akkumulation in Luft auf,
kommt zum Erliegen. "Das Subjekt ist" sehr wohl "eine
Marionette, die" letztlich "selber die" entscheidenden
"Fäden zieht", aber nicht total. Sobald das Subjekt freiwillig oder
genötigt dem System dient, wirkt dieses anonym auf das Subjekt zwingend zurück,
versucht, es in die eigenen Systemgrenzen zu pressen. Die ursprüngliche
Freiheit im Schaffen verwandelt sich so permanent in Unfreiheit, und das
geschieht gegenwärtig jeden Tag. Mit der Zeit kann des Menschen Abneigung gegen
die fremdbestimmende Herrschaft nahezu gänzlich nachlassen, wenn genügend
kompensatorischer Entschädigungsausgleich vorhanden ist. Der Mensch gewöhnt
sich an die Fremdbestimmung und wird sogar süchtig nach ihr, aus purer Angst,
vor dem Anblick der eigenen Freiheit, die nun im starken Maße in
pervertiert-chaotischer Weise aus dem Unbewußten an die Oberfläche drängt und sich
mit entsprechend destruktiven und niederen triebhaft-instinktiven Wesenskräften
des Menschen vermischt. Das Vermögen gegensteuernder schöpferischer Kräfte wird
nicht im erforderlichen Maße aufgebracht, um das Destruktive primär in sich und
zugleich sekundär in den Verhältnissen bewältigen zu können; d.h.,
primär-individuelle und sekundär-gesellschaftliche menschliche Destruktivität
können nicht getrennt voneinander überwunden werden. Der primär personale
Mensch ist immer auch ein sekundär gesellschaftlich-sozialer. Jedoch bei der
Verwirklichung der Persönlichkeit, da grundsätzlich geistig, fällt die
gemeinschaftliche Seite mit der persönlichen primär zusammen; beide Seiten
werden aber niemals identisch, bleiben immer existenzdialektisches,
schöpferisches Moment im Menschen. Ansonsten wäre der Mensch nicht existent, da
völlig bewegungs- und somit leblos, aufgelöst in einem absoluten Nichts.
Daß die gegensteuernden Kräfte nicht aufgebracht
werden, kann nicht einfach nur mit herrschender Bewußtlosigkeit, mit einer
autarken "subjektlosen Herrschaft" erklärt werden, die es an und für
sich nicht gibt. "Subjektlose Herrschaft" ist immer nur ein
hinnehmendes Zugeständnis an den Götzen, das aus der Schwäche der
Persönlichkeit, des geistigen Menschen folgt. Der Mensch hat in Anpassung vor
allem an die modernen kapitalistischen Verhältnisse von sich ein Selbstbild
eines taffen, konkurrenzfähigen, perfekt agierenden Wesens entworfen, das sich
über Mitleid zu erheben weiß, ein narzißtisches Selbstbild, mit dem sich der Mensch
emotional zu identifizieren weiß. Über die emotionale Verankerung erhält das
narzißtische Selbstbild eine trügerische Fülle. Zerbricht dieses Selbstbild,
bleibt oft nichts als Leere, die der Mensch nicht zu füllen vermag. Für den
narzißtisch verfaßten Menschen muß deshalb jeder Selbstzweifel zu einer Qual
werden, da die Alternative sich zunächst oft nur noch als ein kümmerliches,
entleertes Dasein entpuppt, worauf dem Menschen nichts einfällt, worauf er
scheinbar keine Antwort zu geben vermag und er somit diesem kümmerlichen Dasein
als endlose Höllenqual stetig aus dem Wege zu gehen versucht, was ihm immer
schlechter gelingt, je unperfekter und widersprüchlicher das eigene Leben und
die entsprechenden Verhältnisse werden. Der Mensch wäre bewußtlose Marionette,
würde man den Kern dieser Marionette entsprechend der "radikalen
Theorie" als eine dem Subjekt bewußtlos anhaftende Eigenschaft begreifen.
("Der Schlüsselbegriff für das Verständnis des
'Dritten' und eigentlich Konstitutiven kann nur der Begriff des Unbewußten
sein.") (190 SH)
Doch die scheinbare Bewußtlosigkeit ist sekundärer
Natur. Grundsätzlich fürchtet sich der Mensch vor den Konsequenzen seiner zu
Selbstzweifel führenden, sich ethisch offenbarenden Intuitionen. Der Mensch
redet oft vom schlechten ›Gewissen‹, das innerlich bewußt hier
und da in Ansätzen aufflackert. Es handelt sich tatsächlich um ein schlechtes ›Gewissen‹ ("Über-Ich"),
wenn es einem Götzen, z.B. der kapitalistischen abstrakten Arbeit dient, aber
es handelt sich wiederum um kein ›schlechtes Gewissen‹, wenn es im kritischen
Verhältnis zu den mitleidlosen, egozentrischen, süchtigen Taten eines in diesem
Fall tendenziell destruktiven Bewußtseins wahrgenommen wird. In Wahrheit ist es
dann das authentische, reine Gewissen, das nur mit Mühe unter Verschluß
gehalten werden kann. (Im Kapitalismus scheint dies am besten zu gelingen.)
Dieses originäre Gewissen spricht eine völlig andere, eine die entwürdigenden
Verhältnisse sprengende Sprache. Aber dieses Gewissen ist kein fertiges
Konzept, welches in praktische Anwendung gebracht werden könnte, sondern
lediglich eine unmittelbar religiös-authentische Aufforderung in einem
lebendigen Menschen, seine Verhältnisse mit allen Kräften seines Wesens
(Verstandeskräfte eingeschlossen) im Sinne der Liebe, der Fülle des Lebens, der
Persönlichkeit und der mit ihr eng verwobenen echten Gemeinschaft schöpferisch
zu verändern. Aber wie gesagt, der Mensch gerät schnell in den Sog widriger,
verführerischer Umstände und kann sein Gewissen in Überantwortung an einen
Götzen verraten und dabei seinen Ursprung aus den Augen verlieren, ihn
verdrängen. Das Problem des Menschen angesichts seiner desolat-destruktiven
subjektiv-inneren und sozialen Verhältnisse besteht darin, daß die Anzeichen
seines reinen Gewissens nicht automatisch zu einer inneren Befreiung, die sich
jeder Mensch primär sehnlichst wünscht, führt. Das reine Gewissen, und wenn
auch nur ein Rest davon, erscheint eher als ein Störfaktor, der das Leben
beunruhigt, aus den Bahnen wirft und Konsequenzen fordert, die einem stark
egozentrisch ausgerichteten Menschen als Zumutungen erscheinen, die für ihn
scheinbar immer nur in die endlose Hölle der eigenen Leere und Fragwürdigkeit
führen können, einer Leere, die der zunehmenden Schwäche der innerlich-authentischen
Kräfte angesichts eines entsprechend unerfüllten Lebens an der Oberfläche einer
objektivierten Warenwelt geschuldet ist. Solange Ware und Geld noch genügend
vorhanden sind, sich der individualistische Erfolg noch einstellt, die
Kompensationen im weitesten Sinne noch funktionieren, wird sich der Mensch wohl
kaum dazu aufraffen können, auf die innere Stimme zu hören, sofern sie sich
noch meldet. Aber auch wenn ein allgemeiner Zusammenbruch der Warenwelt bis in
die westlichen Kernländer hinein massiv durchschlagen, überhaupt das Leben auch
physisch unerträglich werden sollte, hängt ein völliger Neuanfang von der
Bereitschaft der Menschen ab, einen zunächst unvergleichlich leidensvolleren
Weg authentischer Selbsterkenntnis zu beschreiten. Genau genommen befindet sich
der Mensch seit seinem Erscheinen mehr oder weniger schon immer auf dem Weg der
Selbsterkenntnis, doch die Lage spitzt sich heute im unerhörten Maße zu, und
nicht immer führt dies zu schöpferischen Einsichten, sondern auch in den
blanken Wahnsinn eigener Befindlichkeiten.
Jedem äußerlichen "Subjekt-Objekt
Dualismus" geht ein ursprüngliches, ganzheitliches, existenzdialektisches
Subjekt voraus. Dies könnte man als das "Dritte" bezeichnen. Das
"Unbewußte" ist lediglich ein Teil des ganzheitlichen Subjekts. Das
Überragende und Wesentliche des "Unbewußten" wird von Kurz in
Erweiterung Freuds als "gesellschaftliche Konstitution" aufgefaßt. So
gesehen wären wir in unserem Handeln prädestiniert und dies gänzlich, da laut
Kurz das Subjekt gewissermaßen nur im Verhältnis zu einem korrelativen Objekt
existieren kann und das "Unbewußte"
"als blinde Form-Konstitution des
Bewußtseins" (193 SH)
das Subjekt quasi leitet. So gesehen werden wir
absolut von einem Dogma geleitet. Diese Feststellung zeugt von einer starren
Vorstellung vom Unbewußten. Das hat mit der realen Dynamik des menschlichen
Innenlebens jedoch nichts tun. Über das Unbewußte als ein Teil der menschlichen
Persönlichkeit können wir nur sprechen, weil es sich zumindest partiell, in
spontanen Schüben, fortlaufend im Bewußtsein bemerkbar macht und dort
realisiert wird. Das Unbewußte ist sowohl die primäre Quelle, beinhaltet aber
auch verdrängte sekundäre Momente des Bewußtseins und bildet mit dem Bewußtsein
eine dynamische Wechselbeziehung. Quellen des Bewußtseins sind die
ursprüngliche, unergründliche bzw. potentielle Freiheit als Ausgangspunkt
jeglichen Prozesses und primär authentische schöpferisch-ethische, aber auch
sekundär authentische destruktive Kräfte im weitesten Sinne. Destruktive Kräfte
bedürfen ebenfalls eines schöpferisch-leidenschaftlichen Impulses, um wirksam
werden zu können. Zu den schöpferisch-ethischen Kräften zählen vornehmlich die
Liebe und die in ihr wirkende schöpferisch-geistige Freiheit, die
Wahrheitsintuition als originäres Gewissen, das Leiden und Mitleiden, die
Freude, die Hoffnung, der Mut; zu den destruktiven Kräften, in denen sich eine
destruktiv ausgerichtete Freiheit ereignet, zählen besonders der Groll, der
Haß, das Rachegefühl, die Gier, der Neid, die Sucht, die Furcht, die Angst.
(Mir geht es hinsichtlich der Aufzählung von Wesenskräften nicht um
Vollständigkeit.) Der Charakter und die Wirkung der Wesenskräfte des Menschen
sind jedoch auch vom Kontext abhängig, in dem sie stehen. Dies trifft
beispielsweise auch auf die Angst und den Mut zu:
So gibt es die existentiell-natürliche Angst vor der
physischen Vernichtung und den Schmerzen, die mit dieser Vernichtung verbunden
sind. Diese Angst ist Teil des natürlichen Selbsterhaltungstriebes und muß -
genauer betrachtet - als Furcht bezeichnet werden: "Furcht hat bestimmte
Ursachen; sie ist mit Gefahr verbunden, mit der alltäglichen empirischen Welt.
Angst hingegen wird nicht vor der empirischen Gefahr empfunden, sondern
angesichts des Mysteriums des Seins und Nichtseins, vor dem Transzendenten
Abgrund, vor dem Unbekannten. Der Tod ruft nicht nur Furcht vor dem Ereignis,
das sich noch in der empirischen alltäglichen Welt abspielt, hervor, sondern
auch Angst vor dem Transzendenten. Furcht ist mit Sorge, Angst vor Schlägen und
Leiden verbunden. Furcht hat keine Erinnerung an die höhere Welt, sie ist nach
unten hin gerichtet, ans Empirische geschmiedet. Angst hingegen ist ein
Grenzzustand, dem Transzendenten benachbart; Angst empfindet man vor der
Ewigkeit, vor dem Schicksal." (Berdjajew, N.: Von des Menschen
Knechtschaft und Freiheit. Versuch einer personalistischen Philosophie, Holle
Verlag, Darmstadt und Genf, 1954, S. 66 - 67)
Die existentiell-natürliche Angst (Furcht) tritt in
den Hintergrund, sobald dem personalen Wesen die existentiell-geistige Angst
vor dem Tod zu Bewußtsein kommt. Die Angst vor dem Tod ist die grundlegende für
all die Ängste, die das Leben begleiten können. Die Überwindung von Ängsten im
Leben beinhaltet zugleich immer eine partielle Überwindung des Todes, was
gerade für die Verwirklichung der Persönlichkeit von ausschlaggebender
Bedeutung ist, für die es wesentlich um die Überwindung des Todes im geistigen
Leben geht. Ängste im Leben können vor allem auch erniedrigend sein: so die
Angst vor einer fremden, höheren Macht, der man gehorcht – damit hängt das im
wahrsten Sinne des Wortes schlechte ›Gewissen‹ zusammen. Oder die Angst,
ins Loch der Bedeutungslosigkeit zu fallen. Von dem Gefühl der
Bedeutungslosigkeit wird der Egozentriker geplagt, wogegen er massiv, egozentrisch
immer nur sich selbst behauptend, anzugehen versucht und auf diese Weise in
einen Teufelskreis gerät. Mit der egozentrischen Angst geht die erniedrigende
Angst vor dunkler Einsamkeit und Leere, gehen niedere Verlustängste im
weitesten Sinne einher. Etc. Mit der Realisierung der Persönlichkeit kann die
Angst entstehen, grundsätzlich die Realisierung der Wahrheit und Fülle des
Lebens zu verfehlen, weil man sich z.B. dem Drang und dem Anspruch der Liebe
nicht gewachsen fühlt. Der liebende Mensch kann von Angst erfüllt werden, weil
die Liebe mit einer Welt der Widrigkeiten tragisch verquickt ist. Noch
tragischer ist, daß die Liebe sich wahrhaft nur konkret ereignet und zu einer
gläsernen und allgemeinen, allem gleichermaßen zugewandten ›Liebe‹ im Widerspruch
steht; hier spreche ich von dem Konflikt des Menschen, sich für die Liebe zu
einer ››geistigen Lebenssphären‹‹ (Berdjajew) mehr oder weniger entscheiden zu
müssen:
››So sieht sich der Mensch manchmal verpflichtet und
innerlich gezwungen, einer Liebe zu entsagen, die er als höchsten Wert und
höchstes Gut auffaßt, im Namen eines Wertes, der zu einer anderen geistigen
Lebenssphäre gehört, im Namen etwa der zutiefst erlebten geistigen Freiheit
oder der familiären Beziehungen, oder endlich aus Mitleid zu anderen Menschen,
denen seine anders gerichtete Liebe Leiden bringt. Oder aber umgekehrt: der
Mensch kann den zweifellosen Wert seiner geistigen Freiheit und seiner Berufung
in dieser Welt, der Familie und Mitleides zu seinen Mitmenschen zugunsten des unendlichen
Wertes der Liebe zum Opfer bringen. Entscheidend ist dabei, daß kein
Gesetz und keine Norm den auf diese Weise entstandenen Wertkonflikt des sittlichen
Willens zu lösen verhelfen können. Der tragische Wertkonflikt appelliert an die
menschliche Freiheit; seine Lösung vollzieht sich
durch die schöpferische sittliche Tat.‹‹ (Berdjajew,
N.: Von der Bestimmung des Menschen, Gotthelf-Verlag, 1935, Bern-Leipzig, S.
212)
Der Mensch kann eine große Angst vor der notwendig
zu treffenden schöpferisch-ethischen Entscheidung haben, vor allem dann, wenn
die Liebe sowohl zu der einen als auch anderen ››geistigen Lebenssphären‹‹ von
vornherein schon weitreichend
und tief ist. Auf der einen Seite können also Ängste einen zunächst
verhindernden, tendenziell unschöpferischen oder gar destruktiven Charakter
annehmen, insbesondere auch dann, wenn die Liebe aus Angst bewußt verraten
wird. Auf der anderen Seite jedoch knüpft sich gerade an die Ängste die wahre
Erkenntnis, daß die Fülle des Lebens bzw. die Liebe nicht untragisch und
gefahrlos zu haben ist, sondern schöpferisch-ethischen Mut erfordert. Aber auch
der Mut kann schnell zum Übermut werden, wenn man in Überschätzung seiner
selbst die Zerbrechlichkeit und Tragik und den komplexen schöpferischen Anspruch
der Liebe unterschätzt, wovor uns wiederum eine momentane und nun
schöpferisch-ethisch orientierte, aber überwindbare Angst bewahren kann, indem
sie den ungestümen Drang und Anspruch der Liebe in ein schöpferisches
Verhältnis zu den der Liebe entgegenstehenden Widrigkeiten in dieser Welt
setzt, indem sie eine leichtfertige Entscheidung hin zu einer der verschiedenen
››Lebenssphären‹‹ bremst und uns zur schöpferischen Demut anhält, die wiederum
die Erkenntnis mit sich führt, daß Liebe letztlich keine erlernbare Fähigkeit
oder zielsicher zu organisierende Sache, sondern eine Gnade ist, die ethisch
orientierte Freiheit verlangt, um sich ereignen zu können und nicht schon im
Keim erstickt zu werden. Die Bedingungen des Lebens sind nicht von vornherein
in eine Atmosphäre der Liebe und Harmonie getaucht, sondern müssen erst
entsprechend umgewandelt werden, was immer ein offener, mit Schwierigkeiten
verbundener Prozeß ist und bleibt - darin liegt Tragik, aber auch Chance und
Hoffnung. Und niemals wird die konkrete Liebe den verschiedenen
››Lebenssphären‹‹ und deren Ansprüchen gleichermaßen umfassend
gerecht werden können. Ängste sind unvermeidlich, sind Bestandteil des Lebens,
müssen aber letztlich fortlaufend schöpferisch überwunden werden, sollen sie
das Leben nicht verhindern.
Der Mut zur Liebe ist die eine Seite, die andere,
die destruktive Seite, kann unter anderem darin zum Ausdruck kommen, daß die
Menschen gerade im Krieg sogenannten ›Heldenmut‹ beweisen. Es ist nicht primär
die "blinde Form-Konstitution des Bewußtseins", die den Menschen zu
solchen Handlungen motiviert, sondern die trügerische Hoffnung, dafür geliebt,
verehrt, von der ›Gemeinschaft‹ anerkannt zu werden etc., eine Hoffnung, die,
ohne das sie es eingestehen wollen, für die Menschen im Vordergrund steht. Die
Motivation des menschlichen Handelns überhaupt kann niemals von einer
sogenannten "Form-Konstitution" ausgehen, sondern höchstens in ihren
Bahnen verlaufen.
Genauso können auch Wut und Zorn entweder
schöpferisch-ethisch orientierte oder destruktive Wesenkräfte sein; dies ist
vom Kontext abhängig, in dem diese Kräfte stehen. Diese Kräfte können sowohl
der Verteidigung der Persönlichkeit, der Freiheit, der Liebe und der Wahrheit,
aber auch niederen oder bösartigen Beweggründen und Ressentiments dienen.
Aber auch wenn man davon spricht, daß jemand Freude
an der Qual des anderen haben kann, handelt es sich dabei eben nicht um die
echte Freude der Liebe. Dunkles, gefangenes, vernichtendes Leiden aus Haß
entspricht in keiner Weise dem transzendierenden, zugewandten Leiden um die,
für die, aus Liebe. Die Hoffnung an sich entzieht sich dem Niedergang, der
Apathie, dem Tod. Im Grunde gibt es keine Hoffnung auf den Tod, sondern nur
eine Hoffnung auf die Befreiung von ihm. Auch der sich quälende Mensch, der auf
den Tod hofft, hofft in Wirklichkeit, endlich von der Qual hin zum Tode befreit
zu werden, den Tod überwinden zu können. Es gibt keinen Tod nach dem Leben,
obwohl es ein Leben nach dem Tod gibt - d.h., diese letztere Beziehung drückt eine
rein existentielle Wahrheit aus. Leben und Tod sind unabdingbar aufeinander
bezogene Realitäten der geistigen Existenz eines Menschen. In einer Welt ohne
geistiges Leben existiert kein Tod. Wahre Hoffnung bezieht sich auf die Liebe,
trügerische Hoffnung auf niedere, kurzfristige Ziele. Das originäre Gewissen
ist eine schöpferische Gabe des Menschen, das schlechte ›Gewissen‹ ein Erziehungsprodukt. Das
Mitleid ist eine der wesentlichsten Grundbedingungen des wahrhaft menschlichen
Zusammenlebens. Jedoch kann das Mitleiden den Menschen auch überfordern,
zerreißen, zerstören, lebensunfähig machen. Im Mitleid kann der Mensch sich
selbst gefallen. Aus übertriebenem, letztlich auf sich selbst bezogenem Mitleid
kann man anderen Menschen die Luft zum Atmen nehmen - etc. Die existentiell
erlebte authentische Wahrheit der ganzheitlichen Persönlichkeit ist Fülle des
Lebens; die existentielle Erfahrung innerer Zerrissenheit, egozentrischer
Einsamkeit etc. ist dagegen die bittere Wahrheit des Verlustes des
personal-ganzheitlichen Zusammenhalts, der Fülle des Lebens. Die authentische
Liebe ist ein Prozeß der Selbstwahrung, der Realisierung der
gemeinschaftsstiftenden Persönlichkeit; die Liebe zum Fetischobjekt ist
Verleugnung, Verrat, Verdrängung der Persönlichkeit und verbunden mit der
Schaffung eines hörigen, verlogenen ›Selbst‹. Wahre Liebe ist geistige
Freiheit, destruktive Freiheit verhindert diese Liebe. Und im Leben, in der
Beziehung zur Welt im weitesten Sinne, können die authentische Wahrheit und
Liebe unter Umständen auch vernichtend sein und bedürfen deshalb der
schöpferischen Zurückhaltung, Demut. Etc.
Weiterhin haben diejenigen Kräfte, welche sich im
transzendierenden Schaffen und Wirken des Menschen bemerkbar machen wie die
Einbildungskraft und die mit ihr verwobene Erfindungsgabe, die Phantasie, ihren
schöpferischen Ursprung im Unbewußten, vorzugsweise in der Freiheit. Die
Richtung dieser Schaffenskräfte kann gemäß der schöpferisch-ethischen, aber
auch der destruktiven Kräfte bestimmt sein. So können beispielsweise das
Gewaltstreben, die Bösartigkeit, der Zerstörungswahn, die sexuelle Perversion
u.a.m. durch die Einbindung von Einbildungskraft, Erfindungsgabe und Phantasie
exzessiv ausgeweitet und gesteigert werden. Der
"Kannibale von Rotenburg" (Tr 134)
läßt grüßen.
Das Unbewußte beinhaltet primär keine Form, sondern
ist zunächst Entstehungsprozeß von Instinkten, Intuitionen, überhaupt von
schöpferisch-ethischen und destruktiven Kräften, die inhaltlich bestimmt sind.
Nur sekundär werden Automatismen angelernt-gewohnheitsmäßiger Art hergestellt,
die eine bestimmte Form annehmen, aber in ihrer Funktion grundlegend von der
schöpferischen Quelle abhängig sind, dieser bedürfen und primär über die Quelle
verändert und gar beseitigt werden können; dies gilt grundlegend auch für die
sogenannte "blinde Form-Konstitution des Bewußtseins". Ob letztlich
der Mensch die schöpferisch-ethische oder destruktive Richtung einschlägt, das
ist eine Frage der Stärke der Persönlichkeit, die sich ursprünglich-intuitiv
immer nur von ihrem authentischen schöpferisch-ethischen Wesenskern her
begreift. Auf die Persönlichkeit als ganzheitlich-integraler Zusammenhalt kommt
es an, und wenn dieser durch widrige Umstände geschwächt wird, gewinnt die
Destruktivität an Raum. Doch im Grunde besitzt der Mensch einen unaufhörlichen
Drang, seinem Persönlichkeitsverlangen nachzukommen, sich selbst vom
authentisch-wahren Wesen her treu zu bleiben.
Der Mensch findet mehr oder weniger einen bewußt
verbindenden Zugang zum Strom des Unbewußten, aus dem heraus er seine eigene
Persönlichkeit schafft in der dafür unabdingbaren Auseinandersetzung mit der
Welt überhaupt. Die Persönlichkeitsentwicklung ist davon abhängig, inwieweit
die Momente des ständig zum Bewußtsein kommenden Unbewußten von der
Persönlichkeit integrierend und sublimierend zusammengeführt werden können.
Destruktiv hervortretende Momente, einschließlich verdrängte Emotionen der
persönlichen Entwürdigung, die sich nun über einen wie auch immer gearteten
Ersatz, z.B. über Sadismus oder Masochismus etc., den Weg ins Bewußtsein bahnen
und zum Teil auf diese Weise abreagiert werden können, zeugen davon, daß eine
ganzheitlich integrierende und überwindende Kraft nicht in dem Maße aufgebracht
werden konnte, die sich schöpferisch direkt gegen die Ursache der Destruktivität
wendet. So verlangt die Fetischorientierung, die einem Menschen durchaus
affirmativ bewußt sein kann (Geld ist das Wichtigste. Alles andere sind
Träumereien.), sich dem entsprechenden Fetisch-System unterzuordnen. Dazu
müssen jedoch intuitive Emotionen, die dem Menschen zu Bewußtsein kommen und
sich gegen eine allgemeinverbindliche Funktionalisierung und Anpassung
auflehnen, ständig bekämpft, unterdrückt bzw. verdrängt werden. Aus diesem
Kampf gegen den eigenen Widerwillen, d.h. gegen die persönlichkeitsmotivierten
authentischen Kräfte, erwachsen Ressentiments wie destruktive Wut bis hin zum
Haß, der sich häufig innerhalb des Fetisch-Systems rachevoll und aggressiv
gegen schwächere ›Glieder‹ bzw. ›Objekte‹ richtet, zu welchen Menschen
herabgewürdigt werden. Ein Beispiel dafür ist Mobbing. Dennoch, eine ganze
Menge Menschen scheinen ihre Funktionalisierung und den damit verbundenen
Stumpfsinn gelassen und diszipliniert hinzunehmen. Jedoch der Schein trügt. In
Wahrheit finden sie für ihren unterschwellig anwachsenden Irrsinn in der
heutigen Zeit einfach noch genug exzessive Kompensationsmöglichkeiten und
Ventile.
Der Kampf gegen die authentischen
schöpferisch-ethischen Kräfte ist ein Kampf gegen die eigene Persönlichkeit,
schwächt diese und erniedrigt sie mehr oder weniger gegenüber einem
fetischorientierten Inhalt, der, einmal im Prozeß (auch über die
Inanspruchnahme existentiell-schöpferischer Kräfte), stark automatische Züge
annehmen kann. Der fetischorientierte Mensch kann schöpferisch bezüglich der
Erweiterung des Fetisch sein, er ist relativ starr bzw. unschöpferisch
insbesondere im Umgang mit sich selbst und anderen Menschen, die er häufig aus
Gewohnheit zu Objekten herabwürdigt.
"Die gesellschaftlich-historische Form des
Bewußtseins ist das zutiefst Eigene, das zutiefst fremd und unbekannt ist, und
das deswegen, sobald es thematisiert wird, als fremde und äußerliche 'Macht'
verstanden und erlebt werden muß." (193 SH)
Aber nach welchen Grundannahmen wird diese
"Form des Bewußtseins" "als fremde und äußerliche 'Macht'
verstanden und erlebt"? Mir kann nur etwas fremd sein, wenn mir etwas
anderes vertraut und eigen ist, wonach ich das Fremde bewerte, wenn ich es
thematisiere. Ansonsten ließe sich diese "Form" gar nicht
thematisieren. Auch eine sogenannte "radikale Kritik" setzt in dieser
Hinsicht eine - sagen wir - emotional-leidenschaftlich gefärbte ethische
Grundeinsicht, d.h. eine intuitive Menschlichkeit, voraus, so z.B. wahrnehmbar
als bewußt-persönliches Leiden an den unmenschlichen Verhältnissen, ansonsten
wäre diese Kritik nur ein völlig belanglos-kühles Beschreiben von
Widersprüchen, wüßte aber im Grunde nicht, worum es geht und weshalb eine
"Form des Bewußtseins" zu kritisieren sei. Keine auch noch so
verkürzte Kritik der gesellschaftlich-sozialen Verhältnisse könnte nur anhand
eines völlig losgelösten logischen Widerspruchs herbeigeführt werden. Das ist
nicht möglich. Das wäre quasi nur reine Rechnerei - sinnlos. Doch auch für Kurz
ist das Leiden Ausgangspunkt und Anstoß zur Kritik. Aber er verwehrt sich
zugleich gegen eine apriorisch-ethische Grundannahme bzw. Grundeinsicht, als
welche das Leiden einzig Sinn machen würde. An dieser Stelle offenbart sich ein
unlösbarer Widerspruch in Kurz' "radikaler Kritik": Das Leiden wird
als existent wahrgenommen, aber damit ist angeblich noch keine Erkenntnis
verbunden. Die kommt dann erst von einer sogenannten höheren
"Bewußtheit" (zur "Bewußtheit" siehe auch weiter unten),
die dann feststellt,
"woran gelitten wird" (128 Tr);
als wenn Leiden und "Bewußtheit" sich
nicht zugleich im Menschen als ganzheitliches Wesen vollziehen, als wenn Leiden
ein losgelöstes autarkes Geschehen wäre.
"Die allgemeine Bewußtseinsform und ihre
Kategorien sind nicht ontologisch, sondern historisch-genetisch zu fassen. Für
jede Formationsstufe gilt eine eigene bewußtlose Bewußtseinsform mit eigenen
Codierungen und 'Gesetzmäßigkeiten'. Diese (jeweilige) Form des Bewußtseins
konstituiert ein allgemeines Raster der Wahrnehmung ebenso wie der sozialen und
geschlechtlichen Beziehung; Weltwahrnehmung bzw. Naturwahrnehmung und
mitmenschlich-gesellschaftliche Beziehungswahrnehmung sind also in die Matrix
ein und derselben unbewußten Form gefaßt, die immer gleichzeitig
allgemeine Subjektform und allgemeine Reproduktionsform des menschlichen Lebens
ist. Diese Form entsteht bewußtlos im historischen Prozeß aus der Akkumulation
von unbeabsichtigten Nebenwirkungen und deren Verdichtung, und zwar vom
Übergang der Menschwerdung aus dem Tierreich an." (195/196 SH)
Wenn die Quelle der "allgemeinen
Bewußtseinsform" "historisch genetisch zu fassen" ist, so ist
der Mensch zunächst quasi schicksalhaft dem Geschichtsprozeß ausgeliefert. Die
Frage nach einer schöpferischen Verantwortung für die eigene Geschichte
erübrigt sich, sie ist nicht möglich. Selbst das Desaster einer
"fetisch-konstituierten" Gesellschaft, das immer schon
vorprogrammiert ist, kann vom Menschen nicht verhindert werden, wird letztlich
zu einem endlosen Problem, solange das Desaster während des entsprechenden
Zusammenbruchsszenarios der Warengesellschaft nicht gleichzeitig in allen
Köpfen tabula rasa mit jeglichen "Formen" gemacht hat. So droht uns
Menschen immer die Verdammung in eine
"sekundäre Barbarei"(212 SH),
die wir grundsätzlich nicht verhindern, sondern
höchstens auf einen milden, historisch-günstigen Verlauf des Zusammenbruchs
hoffen können, aus dem heraus wir dann irgendwie in eine
"Bewußtheit gegenüber... (unserer) eigenen
Gesellschaftlichkeit" (210 SH)
fallen, die aus heiterem Himmel halt über uns kommt.
Eine schöpferisch-freie Erringung einer fetischfreien Gesellschaft ist nicht
möglich. Und der Gradmesser der "Bewußtheit" findet sich nun
plötzlich in den ebenfalls historisch entstandenen bzw. entwickelten
Versatzstücken eigener und gegenständlicher Inhaltlichkeit, die sich dann wohl
doch so nebenbei, trotz aller Form-Blindheit, entwickeln konnte oder doch immer
schon da war(?) - wie auch immer.
"Die Bewußtseinsform der jeweiligen
Fetisch-Konstitution umfaßt alle menschlichen Lebensaspekte." (196 SH)
Nur, der Dualismus von subjekttragender
"allgemeiner Bewußtseinsform" und subjektlosem "Inhalt"
kann nicht überbrückt werden. Somit sind wir entweder der
"Bewußtseinsform" unterworfen oder wir handeln gemäß den
"Inhalten". Entsprechend historischer Fetisch-Formationen sind wir
blind, mit Beginn einer selbstgemachten(?) Geschichte sind wir sehend. Zuerst
sind wir gänzlich gefangen, unfrei; nach dem entscheidenden historischen
Zusammenbruchssprung sind wir inhaltsbestimmt, frei(?) auf der Grundlage einer
"gesellschaftlichen Selbst-Bewußtheit"
(210 SH).
Vor dem Zusammenbruch, also bis heute, konnten wir
somit niemals Menschen im eigentlichen Sinne sein. Diese Möglichkeit wird uns
erst in der Zukunft zuteil, wenn wir im gesellschaftlichen, mit
"Bewußtheit" gestalteten Zusammenleben unser eigentliches Menschsein
eventuell voller Erstaunen oder Entsetzen(?) erfahren. Oder unser Menschsein
verwirklicht sich gar in einem Zustand völliger Gelassenheit, denn die Inhalte
führen möglicherweise schon vom Potential her, richtig angewendet, in die
Harmonie, d.h. in ein gänzlich untragisches ›Leben‹ - vergleichbar mit der
Leere buddhistischer Ausrichtung. Es kommt also jeweils auch auf den
"sinnlichen Inhalt des Reichtums" (155
SH), den "sinnlichen Bedürfnisinhalt" (155 SH), den "Inhalte(n)
des Bewußtseins" (218 SH) etc.
an, "Inhalte", die Kurz widersprüchlich ja
schon von vornherein als positiven Wertmaßstab ansetzt. Allerdings, eine
entsprechend eingehende Auseinandersetzung mit dem Inhaltsbegriff wird von Kurz
nicht wirklich geleistet. Dies gilt vor allem für die "Inhalte des
Bewußtseins"; eine entsprechend tiefergehende Erörterung würde geradewegs
in den existentiellen Bereich führen, der Basis für eine
existentialistisch-ethisch orientierte Philosophie, die Kurz in den negativ bestimmten
Bereich der Aufklärungsideologie stellt:
"Die Strukturalisten waren zuvor allesamt durch
die Schule der westlichen Subjekttheorien gegangen (Marxismus,
Existentialismus, Phänomenologie, Kritische Theorie)." (171 SH)
"Und deswegen gelingt es den bienenfleißigen
akademischen Sekundärliteraten, Paarhufern und Wiederkäuern mittlerweile auch,
sämtliche westlichen Herrschafts- und Subjekttheorien seit der Jahrhundertwende
als einen einzigen großen Denkfladen wieder auszuscheiden und auf dem
geduldigen Papier abzulegen." (172 SH)
Eine Differenzierung existentialistischer Ansätze
wird erst gar nicht in Erwägung gezogen, vielleicht aus Unkenntnis(?). Was man
landläufig als Existentialismus bezeichnet, wird pauschal abgetan.
Aber Kurz weiß Folgendes zu sagen:
"Was bisher einem blinden Regelmechanismus
folgte, muß in das 'bewußte Bewußtsein' der Menschen, in die Selbst-Bewußtheit
überführt werden. Am ehesten ist diese Transformation vielleicht vorstellbar im
Hinblick auf diejenigen Momente der gesellschaftlichen Reproduktion, die bisher
als 'Ökonomie' firmierten. Die sozialökologische Krise im Negativen und der
Vernetzungsgedanke im Positiven legen es nahe, die Eingriffe in Natur und
Gesellschaft nicht mehr nach einem für alles und jedes gültigen Prinzip
(Geldform, 'Rentabilität') ablaufen zu lassen, sondern sie nach sozialen und
ökologischen Gesichtspunkten zu sortieren, je nach dem sinnlichen Inhalt des
Eingriffs und seiner Reichweite etc. Eine solche Diversifizierung, die bei
Strafe wachsender Katastrophenträchtigkeit unausweichlich geworden ist, kann
aber nur dadurch praktisch gemacht werden, daß sich die gesellschaftlichen
Entscheidungsprozesse direkt auf den sinnlichen Inhalt der Reproduktion
beziehen und nicht mehr von einer bewußtlosen Form codiert und gefiltert werden."
(216 SH)
Was meint hier "sinnlicher Inhalt", worauf
bezieht sich dieser? Gemäß Kurz' "negatorischer" Subjektkritik muß
man davon ausgehen, daß es sich in diesem Fall beim "sinnlichen
Inhalt" nicht um einen vom Subjekt ausgehenden, aus subjektiv-apriorischen
Motiven gespeisten Sinn-Inhalt der "Reproduktion" handelt, sondern um
die Eigenqualität des Inhalts
("Eigenqualität der Inhalte" - 122 Tr)
der "Reproduktion", auf die dann
schließlich tatsächlich die "gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse
direkt" bezogen werden. Mit anderen Worten: Die Reproduktion wäre so
gesehen Ausgangspunkt und Ziel. Aber was ist das für eine Reproduktion? Wird
hier still und heimlich vorausgesetzt und angenommen, daß diese Reproduktion,
damit sie nicht zum Fetisch wird, nach den "Bedürfnisinhalten" des
Menschen ausgerichtet werden muß? Und wenn ja, was sind das für
"Bedürfnisinhalte"? Es kann sich doch hierbei nicht nur um
physisch-sinnliche Bedürfnisse handeln, sondern muß auch die geistigen
Bedürfnisse des Menschen mitumfassen. Und wenn von geistigen Bedürfnissen die
Rede ist, dann geht es um den Menschen als existentiell-schöpferisch-geistiges,
als wesentlich liebendes und in dieser Hinsicht religiöses Wesen. Ein
sogenannter "sinnlicher Inhalt der Reproduktion", unabhängig von der
apriorischen Intention des Menschen, kann nicht gedacht werden, ist ein Unding.
Weiter:
"An die Stelle der für alles und jedes gültigen
allgemeinen Bewußtseins- und Reproduktionsform, von der die Menschen erst
gesellschaftlich 'gemacht werden', die jedoch außerhalb ihrer Bewußtheit und
damit ihres Zugriffs liegt, muß eine bewußte 'Beratung' und organisierte
Handlung treten, von der Reiseverkehr, Apfelproduktion, Krankenpflege usw. nach
ihren jeweils eigenen stofflich-sinnlichen Notwendigkeiten behandelt werden. Es
gibt dann kein allgemeines 'Prinzip' mehr (Rentabilität,
'Darstellungsfähigkeit' in der Fetischform Geld), das den gesellschaftlichen
Ressourcen-Einsatz bewußtseins-unabhängig steuert." (217 SH)
Bedingt kann man dem zustimmen, daß "die
Menschen erst gesellschaftlich 'gemacht werden'..." konnten von "der
für alles und jedes gültigen allgemeinen Bewußtseins- und
Reproduktionsform", wenn man den Menschen nicht als ein von der
Reproduktionsform absolut abhängiges Wesen versteht, sondern ihn als jeglicher
Reproduktionsform ursächlich ansieht, die selbst in ihrem ausgeprägten
Selbstlauf nur unter Zugabe primär subjektiv-schöpferischer Kräfte
kontinuierlich fortschreiten kann. Entscheidend für die neuartige Erweiterung
von gesellschaftlichen Reproduktionsformen ist die
spontan-geistig-schöpferische Eingebung des Menschen und deren praktische
Umsetzung. Aber in der Wechselbeziehung zu einer relativ beständigen
Reproduktionsform, Krisen eingeschlossen, gewöhnt sich der Mensch durch
Anpassung und Erziehung, werden seine Bewußtseinskräfte mehr und mehr
vergesellschaftet und damit eingeengt. Die Behauptung jedoch, daß es jemals ein
"allgemeines 'Prinzip'..." gegeben haben soll, "das den
gesellschaftlichen Ressourcen-Einsatz" völlig "bewußtseins-unabhängig"
gesteuert haben soll, kann nicht aufrechterhalten werden. Damit
"Rentabilität, 'Darstellungsfähigkeit' in der Fetischform Geld"
wirksam werden, bedarf es einer emotional-schöpferischen Zugabe des Menschen,
muß er willentlich die Kräfte in den Dienst der Fetische stellen. Der Fetisch
funktioniert nur so lange, wie die Menschen sich emotional-aufschauend an die
Illusion und Vorstellung klammern bzw. binden, daß vom entsprechenden Fetisch
zumindest für einen persönlich das Wohl und Wehe, das Glück des Lebens abhängig
sei - so z.B. von der abstrakten Arbeit. Sobald der Mensch vom Fetisch abhängig
ist, kann der Fetisch ihm zur Gewohnheit, zur Heimat im unschöpferischen Sinne
werden. Nur so kann ein Automatismus entstehen, der als "allgemeines
'Prinzip' den gesellschaftlichen Ressourcen-Einsatz" scheinbar
"bewußtseins-unabhängig steuert". Aber nicht absolut, denn dann wären
wir zum Untergang verdammt, könnten niemals dem verantwortungslosen Mechanismus
widerstehen, könnten ihn nicht in wahrhaft authentisch-schöpferischer
Verantwortlichkeit überwinden. Der Mensch kann sich immer wieder aus seinem
wesentlich unbesiegbaren Persönlichkeitsstreben heraus gegen die Vereinnahmung
durch einen Gehorsamkeit verlangenden Fetisch, welcher Art auch immer, zur Wehr
setzen. Er kann sich bereits gegen die Zumutungen des Automatismus zur Wehr
setzen, ohne dabei den Automatismus durchschauen, ohne ihn beseitigen zu
können. Und dieses Zur-Wehr-Setzen geschah schon immer innerlich-geistig
(bewußter Widerwillen) wie auch äußerlich-praktisch und geschieht ebenfalls bei
den Menschen in der westlichen Welt, wenn auch nicht im relevanten, die
Gesellschaft umwandelnden Maße, sondern zumeist noch individuell sporadisch,
ängstlich zögernd oder auch fanatisch und dabei einem Ersatz-Fetisch aufsitzend,
aber mitunter auch tiefgründig und wahrhaft unbestechlich authentisch. Wie sich
allerdings die heranwachsenden Computer-Generationen in Zukunft verhalten
werden, da in ihrer geistig-ethischen Entwicklung geschwächt, läßt sich wohl
nur schwer prophezeien. Dies hängt auch davon ab, inwieweit und wie schnell der
innere ökonomische Widerspruch des Kapitalismus kulminiert und ob diese
Menschen im Falle eines ökologisch-ökonomischen Desasters dazu in der Lage
sind, sich nach Jahren systematischer Entleerung erneut auf ihre
authentisch-geistigen Kräfte zu besinnen. Die endgültige Überwindung eines
allgemein-destruktiven Automatismus wird letztlich nur gemeinschaftlich möglich
sein und muß alle Menschen erfassen - egal wie utopisch dies angesichts des
grassierenden Kapitalismus klingt. Die Überwindung ist zugleich an die
Realisierung der Persönlichkeit eines jeden Menschen gebunden. Weiter:
"Allgemein könnte gesagt werden, daß das, was
bisher bewußtlose Form von Gesellschaftlichkeit war, aufgelöst und durch direkte
menschliche Kommunikation in vielfältig organisierter und vernetzter Form
ersetzt werden muß. An die Stelle der bewußtlos codierenden 'Form' tritt
'kommunikatives Handeln' (Habermas) der Menschen, die ihre eigene
Gesellschaftlichkeit und ihre gesellschaftlichen Handlungsketten bewußt
reflektieren und dementsprechend organisieren." (217 SH)
Es bleibt völlig unverständlich, wie die Ebene einer
"bewußtlosen Form von Gesellschaftlichkeit" durch eine darauf
aufbauende, ausführende Ebene der Kommunikation ersetzt werden kann.
"Codierende Form" und "... 'kommunikatives Handeln'... "
sind zwei einander bedingende, aber dennoch unterschiedliche Seiten innerhalb
eines Handlungsvollzugs, aus dem heraus dann "Gesellschaftlichkeit"
entsteht. Die sogenannte "Form", die eine Erstarrung darstellt und
nur auf der Grundlage eines benutzten und formverengten schöpferischen Inhalts
wirken kann, bestimmt mehr oder weniger, aber niemals absolut, die
Kommunikation. Des weiteren stellt auch die Kommunikation an sich überhaupt keine
ethische Grundeinsicht dar, sondern ist von dieser inhaltlich abhängig, kann
also überhaupt keinen Ersatz für eine "bewußtlos codierenden
'Form'..." abgeben. Deshalb sage ich, "daß das, was bisher bewußtlose
Form von Gesellschaftlichkeit" gewesen ist, von einer entsprechend
inhaltlich beschränkten Kommunikationsform begleitet wurde und durch eine
wahrhaft authentisch-schöpferische Verantwortung ersetzt werden kann, die durch
eine inhaltlich befreite, einfühlsam und rücksichtsvoll geführte Kommunikation
auf der Basis von primär geistigen Gemeinschaftsbeziehungen verwirklicht wird,
Gemeinschaftsbeziehungen, auf die parallel die vorgefundenen und ethisch zu
verändernden und ethisch neu zu schaffenden gesellschaftlich-kulturellen und
wirtschaftlichen Strukturen und deren Organisation abgestimmt werden. Weiter:
"Längst sind die Konzepte, Einsichten, Ideen
und Verfahrensweisen vorhanden, vom Verkehrssystem bis zur Müllentsorgung, die
in den einzelnen gesellschaftlichen Reproduktionszweigen den stofflich-sinnlichen
Erfordernissen auf der heutigen Höhe von Vergesellschaftung und
Produktivkraftentwicklung Rechnung tragen. Aber auf scheinbar unbegreifliche
Weise können die von nahezu jedermann geteilten Einsichten nicht in die Tat
umgesetzt werden, weil die nach wie vor bewußtlose allgemeine Form, indem sie
die 'Autopoiesis' des Systems setzt, ihr gespenstisch gewordenes Eigenleben
weiterführt und die Menschen daran hindert, ihren Einsichten gemäß zu
handeln." (218 SH)
Robert Kurz sagt es selbst, daß "auf scheinbar
[Hervorhebung D. H.] unbegreifliche Weise... die von nahezu jedermann geteilten
Einsichten nicht in die Tat umgesetzt werden (können)". Insgeheim
begreifen heute schon sehr viele Menschen sehr gut, weshalb vernünftige
Einsichten nicht umgesetzt werden. Man weiß um die allgemeine Akzeptanz der
starren Kapitalstrukturen und daß sinnvolle Veränderungen fast immer davon
abhängig sind, inwieweit sie Kapital- und Finanzinteressen nicht zuwiderlaufen
bzw. von diesen gestützt werden. Allenthalben ist von den Leuten zu hören: Geld
regiert die Welt. Dies wird eben als eine scheinbar unveränderliche
Übereinkunft der Menschen meist noch gleichgültig, aber auch resignierend
hingenommen. Und man weiß heute auch, daß die unübersehbaren, unberechenbaren,
aufgestauten destruktiven Kräfte des auf das Geld und die abstrakte Arbeit
geeichten Menschen der Moderne durch diese (noch funktionierenden) Strukturen
im Zaum gehalten werden, weshalb man sich scheinbar genötigt sieht, sie wohl
oder übel affirmativ anzuerkennen. ›Der Mensch wird doch verrückt, wenn er
nicht (abstrakt) arbeitet.‹ Das will man nicht. Und man weiß auch, daß
derjenige Mensch, der sich konsequent und bewußt diesen Strukturen widersetzt,
einem Martyrium ausgesetzt ist. Gerade die Menschen der westlichen Hemisphäre scheuen
sich vor den unbequemen Konsequenzen, die ein kritisches, nichtverdrängendes
Bewußtsein hervorrufen kann und klammern sich deshalb lieber an den Glauben,
daß der Kapitalismus das geringste aller Übel sei, d.h. solange sie selbst noch
relativ ›gut‹ dabei wegkommen. Geht es z.B. darum, entsprechend der von sehr
vielen Menschen geteilten Einsicht, daß die Ressourcen knapp werden und die
Natur aus ihrem ökologischen Gleichgewicht katapultiert wird, zumindest den
Autoverkehr drastisch zu verringern, eventuell sogar auf das private Auto zu
verzichten, verschließen sich die Menschen willentlich vor dieser Einsicht,
trennen diese Einsicht willentlich von dem erforderlichen Handlungsbedarf ab
und begründen zum Teil scheinheilig die Unmöglichkeit einer Veränderung mit in
der Tat auftretenden realen Zwängen, die sich aus der kapitalorientierten
Struktur ergeben, welche wiederum mit unterwürfiger Ehrfurcht hingenommen wird.
Darüber hinaus will man nun wirklich nicht auf das so liebgewonnene und für so
viele Entbehrungen entschädigende Auto verzichten. Es ist auch in diesem Fall
nicht primär eine sogenannte "... 'Autopoiesis' des Systems", die
verhindert, entsprechend der gewonnenen Einsichten Konsequenzen zu ziehen und
zu handeln, sondern aus den vielschichtigen primären existentiellen Inhalten
können sich sekundäre existentiell-emotionale Ängste erheben, die sich
überhaupt Einsichten, nötigen Veränderungen entgegenstellen bzw. dazu
beitragen, daß Einsichten verdrängt oder scheinbar argumentativ wieder
widerlegt werden. Verlustängste, die sich an einen Fetisch gebunden haben,
spielen hierbei eine wesentliche Rolle, so das Gefühl, Sicherheit zu verlieren,
liebgewonnene Dinge, gewohnte Heimatempfindungen (Auto), Geborgenheit aufgeben
zu müssen etc., darüber hinaus aber auch die Angst vor drohender Einsamkeit, in
die man geraten könnte, wenn man gemäß den Einsichten unangepaßt handelt,-
Einsamkeit, in der meist ganz deutlich ein chaotisches, entleertes bzw.
unerfülltes Leben zum Vorschein kommt, das sich, bisher vehement, willentlich
kompensatorisch verdrängt, mit den Jahren aus einem veräußerlichten,
fetischorientierten Leben ergibt. Dennoch, kein Mensch kann endgültig daran
gehindert werden, gemäß seinen Einsichten zu handeln. Aber dieses Handeln,
konsequent zu Ende geführt, wird in einer Gesellschaft angepaßter und sich
fortlaufend anpassender Menschen zum Martyrium, das seitens der sich selbst
rechtfertigenden, anpassungsgewöhnten Menschen gerne und oft wütend,
mißbilligend als moralisches Versagen verunglimpft und entsprechend
sanktioniert wird. Eine durchgreifende echte gesellschaftliche Transformation
kann also nur geschehen, wenn möglichst viele Menschen - sich
zusammenschließend - gemäß ihren ethisch motivierten und zugleich durch
kritisches Beobachten gewonnenen Einsichten und Erkenntnissen handeln.
Erforderlich ist letztlich eine schrittweise Erhöhung des
existenzrückbezüglichen Bewußtseins aller Menschen. Aber schon der eigene
Rückzug aus den gewohnten, angepaßten Bahnen erfordert persönlichen Mut und
authentisches Selbstbewußtsein und vor allem geistige Kompromißlosigkeit
gegenüber einem verbrecherischen System, und man kann nicht erwarten, daß sich
in der Folge unmittelbar echte Gemeinschaft mit den anderen Menschen
realisieren läßt, Gemeinschaft, für deren Gelingen es keine Garantie gibt und
deren Realisierung einer fortwährenden, vor allem geistigen Anstrengung bedarf
auf der Grundlage der existentiellen Wesenkräfte der Persönlichkeiten.
Die Menschen werden natürlich auch massiv daran
gehindert, "ihren Einsichten gemäß zu handeln", und in der
sogenannten Dritten Welt geht es auch weit weniger um die Bewältigung eines
ethisch-moralischen Konflikts in bezug auf das Fetisch-System, sondern nur noch
um das pure Überleben. Dennoch, dieses massiv "gespenstisch gewordene
Eigenleben" des System ist immer auf den götzendienerischen Beitrag des
aktiven und dabei auch Neues schaffenden Menschen angewiesen. Die sogenannte
"... 'Autopoiesis' des Systems" ist so lange von Dauer, wie gerade
die von diesem System profitierenden Menschen vor sich selbst und den
unmenschlichen Folgen solch eines Systems bereitwillig die Augen verschließen,
wie sie noch wütend oder zumindest pauschal abwertend eine unangenehme,
›unzeitgemäße‹ Infragestellung dieser Verhältnisse von sich weisen, was darauf
hinweist, daß sie sich der Infragestellung schon bewußt sind. Weiter:
"Die eigene Bewußtseinsform gerät in
Widerspruch zu den Inhalten des Bewußtseins.
Aber die Geschlossenheit der Fetisch-Konstitution
ist keineswegs eine absolute. Zu dicht sind Einsichten und Inhalte auf allen
Gebieten des Denkens und Handelns schon an die Grenzen der Form-Unbewußtheit
herangerückt, als daß der Widerspruch zwischen Form und Inhalt des Bewußtseins
selbst aus dem Bewußtsein ausgeblendet bleiben könnte." (218 SH)
Kurz' Feststellung:
"Die Bewußtseinsform der jeweiligen
Fetisch-Konstitution umfaßt alle menschlichen Lebensaspekte." (196 SH),
impliziert zunächst, daß die "eigene
Bewußtseinsform" auch die "Inhalte des Bewußtseins" bestimmen;
"Inhalte" wären demnach der "Form" permanent unterworfen.
Dies kann von Kurz jedoch nicht zugelassen werden, da ansonsten keine Kritik
möglich wäre, die "eigene Bewußtseinsform" nicht wirklich "in
Widerspruch zu den Inhalten des Bewußtseins" geraten kann. Deshalb
widerspricht er kurzer Hand einer "absoluten Geschlossenheit" der
"Fetisch-Konstitution", damit letztlich die "Einsichten und
Inhalte" des Bewußtseins nun doch wirksam werden können, was schließlich,
den notwendigen Systemkollaps begleitend, zumindest zur schrittweisen
Überwindung der "Bewußtseinsform der... Fetisch-Konstitution" führen
soll. Aber Kurz behauptet fest und steif, daß es
"kein apriorisches Subjekt mehr sein kann, das
'an sich' schon präexistent und hinsichtlich seiner Aufgabe präpotent
wäre" (220 SH),
welches somit als fetischüberwindender Träger der
"Einsichten und Inhalte" in Frage käme. D.h., auch ein inhaltliches
Bewußtsein darf und kann nicht als apriorisches Subjekt auftreten, welches
"... 'an sich' schon präexistent und hinsichtlich seiner Aufgabe präpotent
wäre". Doch wer soll für die "Einsichten und Inhalte" einstehen?
Der Mensch? Aber da es kein Subjekt der Erkenntnis mehr geben wird, selbst
"Einsichten und Inhalte" im Bewußtsein
"keinen apriorischen positiven Maßstab"
(129 Tr)
abliefern können, erübrigt sich auch die Frage nach
des Menschen authentischer Selbsterkenntnis, Selbstbestimmung und
Verantwortlichkeit, nach dem originären Gewissen, der Freiheit überhaupt. Der
Mensch wird unbestimmbar - eine farblose, unklare Gestalt. Ein von allen apriorischen,
im Sinne von grundlegend-schöpferischen Kräften absolut befreites Bewußtsein
muß ein absolut unfreies Bewußtsein sein, das sich irgendwie von aufdrängenden
"Einsichten und Inhalten", wie auch immer entstanden und/oder
vorhanden, nährt, die man dann in diesem Fall wiederum auch als Fetische des
subjektbefreiten ›menschlichen‹ Bewußtseins bezeichnen könnte. Darüber hinaus
stellen "Einsichten und Inhalte" immer auch Wertungen dar, von der
die ›kritische‹ Bewußtseinsaktivität auf Gedeih und Verderb abhängig ist. Die
›kritische‹ Bewußtseinsaktivität wiederum liegt entsprechend des eigenen
Anspruchs maßstabfreien Agierens in endlosem Clinch mit einem sich
aufdrängenden Maßstab in der ›Form‹ von "Einsichten und Inhalten".
Kurz gerät mit seiner Forderung nach "Aufhebung des Subjekts"
deutlich in einen erkenntnistheoretischen Wirrwarr. Weiter:
"Dies zeigt sich nicht nur im
sozialökologischen Krisenbewußtsein. Auch hinsichtlich der Freudschen
'psychischen Provinzen' hat sich eine Veränderung vollzogen. Die Mechanismen
des Unbewußten und ihre Reflexion (etwa die Begriffe der 'Verdrängung' und der
'Projektion') sind aus der Wissenschaft in das allgemeine Bewußtsein gedrungen,
wenn auch oft in verwässerter und vulgarisierter Gestalt. So unmittelbar und
naiv wie noch vor wenigen Generationen können sich die Durchschnittsmenschen
heute nicht mehr zu sich selbst verhalten. Damit aber zeichnet sich eine
Perspektive ab, in der das 'Unbewußte' langsam (wenn auch widersprüchlich und
heute noch instrumentalistisch) abgeschmolzen wird und ein Prozeß beginnt, in
dem bisher verborgene psychische 'Provinzen' des Es ganz alltäglich ins Licht
des erscheinenden Bewußtseins geholt werden." (218/219 SH)
Kurz' beharrliches Ablehnen der Möglichkeit,
"daß, die Negation [als kritische Methode - D.
H.] ihrerseits schon auf einen positiven Zustand, einen ontologischen Grund,
eine Wesenbestimmung aufbauen könnte" (129 Tr),
führt zu einer Einebnung der komplexen Ursachen der
kapitalorientierten Destruktivität auf eine alles bestimmende "Fetisch-Konstitution".
Das sich die "Durchschnittsmenschen" "so unmittelbar und naiv
wie noch vor wenigen Generationen... heute nicht mehr zu sich selbst
verhalten" können, läßt sich plausibel auch auf ein nunmehr verstärkt
hervortretendes grundlegendes ethisches Vermögen des Menschen zurückführen,
welches Kurz offensichtlich ebenfalls kategorisch ablehnt. Das kommt auch
daher, weil Kurz Kants "kategorischen Imperativ" mit einem so
bezeichneten "ethischen Prinzip" identifiziert:
"... den 'kategorischen Imperativ' als die
'bloße Form eines allgemeinen Gesetzes', d.h. als ethisches Prinzip für alle
menschlichen Handlungen." (194 SH)
Doch ethische ›Prinzipien‹ können auch völlig
anders, personal-subjektiv-lebendig bzw. existenzrückbezüglich als ethische
Wesenskräfte, als ethisches Vermögen erfahren werden und nicht als starre
allgemeingültige moralische Vorschriften. Dieses ethische Vermögen ist generell
ein gemeinschaftsorientiertes und wird erst im transzendierenden Bezug zu den
anderen Menschen, zu den lebenden Wesen und zu den Dingen der Welt
ganzheitlich-integrierend wirksam. Dieses Vermögen wird getragen durch die den
Menschen wesentlich ausmachende und sich in ihm offenbarende
göttlich-menschliche Intuition. ›Göttlich-menschlich‹ meint, daß die
"Wesensbestimmung" das Menschliche als das Göttliche bzw. das
Göttliche als das wahrhaft Menschliche beinhaltet. In der tiefen Liebe zu einem
anderen Menschen dringe ich zu seinem wahrhaft menschlichen Wesen vor, welches
ich intuitiv als göttliches empfinde. Das sind nicht nur beschönigende oder
gefühlsduselnde Worte oder untergeordnete Randerfahrungen der Liebe, sondern
dahinter steht eine existentiell reale, äußerst starke Empfindung, für die der
Mensch im Extremfall seine ganze Person vom tiefsten Herzen her hingeben kann.
Wahre, d.h. authentische Liebe eines Menschen ist tragisch, weil sie als eine
außergesetzliche, auf geistiger Freiheit beruhende Realität sich stets im
Konflikt mit einer tendenziell zur Erstarrung, zur Gesetzlichkeit neigenden
Welt, Gesellschaft etc. befindet. Deshalb stellt der ganzheitlich liebende
Mensch eine Gefahr für eine scheinbar wohlgeordnete, für eine sich auf
bequem-anonyme Systemregulation verlassende bürgerliche Welt dar, weil er ihr
zuwiderläuft. Dennoch ist auch die Liebe selbst zwiespältig. Zum einen kann der
liebende Mensch über die Grenzen der Welt hinausgelangen, indem er zumindest
partiell ihre restriktiven Forderungen mißachtet und diese im Sinne seiner
Liebe beseitigt, zum anderen kann er über eine verzehrende Liebe die Welt vernachlässigen
und den ganzheitlichen Bezug zu ihr verlieren. Wenn ein Mensch durch seine
Liebe in der Welt schöpferisch-verändernd wirksam wird, kann dies von den
anpassungsorientierten Menschen als äußerst störend empfunden, als weltfremdes
Agieren abgetan oder gar entsprechend der jeweiligen Fetischorientierung
restriktiv bekämpft werden. Die Liebe ist tragisch, weil sie eine Ereignis ist,
das sich von dem gewöhnlichen, alltäglichen Leben, welches im starken Maße den
Erfordernissen einer manifesten und objektivierten Welt Rechnung trägt,
grundlegend unterscheidet und den Menschen dazu drängt, dieses
gewöhnlich-alltägliche Leben zu überwinden. Doch letzteres birgt in sich die
Gefahr, daß der Drang zur Überwindung in eine fanatische Abwendung von den
unvermeidlichen Erfordernissen des alltäglichen Lebens übergeht, was einer
ganzheitlichen Verantwortung des Menschen gegenüber dem Leben und der Liebe
nicht gerecht wird. D.h., der Mensch muß sein Leiden in der und um die konkret
erlebte Welt in jederlei Hinsicht schöpferisch austragen auf der Grundlage
seiner authentischen geistig-freiheitlichen Liebe. Die Liebe ist ihrem Wesen
nach eine antinomisch erlebte Wirklichkeit der gemeinschaftsorientierten
Persönlichkeit, sie ist ein Streben nach einer anderen, höheren Welt der
gemeinschaftlichen Fülle des Lebens, in der sich die Wahrheit und Freiheit zu
ereignen vermag und kann nur wirksam und erlebt werden durch ein fortwährendes
ganzheitlich-schöpferisches Einbeziehen und Integrieren einer auch niederen,
alltäglichen, manifest-objektivierten Welt. In diesem Zusammenhang weise ich
mit ›höhere‹ und ›niedere‹ Welt ausschließlich auf deren jeweilige Rangfolge
für die menschliche Bestimmung hin und nicht einerseits auf eine
herrschaftliche und anderseits auf eine zu verachtende und zu vergeudende,
scheinbar minderwertige manifeste Welt. Denn gerade die kapitalorientierte,
überhebliche Verachtung und Vergeudung unserer manifesten Lebensgrundlagen
stellt ja gegenwärtig eine große Bedrohung eben insbesondere für das menschliche
Leben dar und kann nicht im Sinne einer liebevoll-integrativen Einbindung der
manifesten Welt sein.
Wenn Kurz sagt:
"Der Schlüsselbegriff für das Verständnis des
'Dritten' und eigentlich Konstitutiven kann nur der Begriff des Unbewußten
sein" (190 SH),
so wird klar, daß die erlösende
"Perspektive" für ihn nur darin bestehen kann, das
"Unbewußte" "abzuschmelzen". Das Bestimmende des
›Fetisch-Menschen‹ wird auf eine "Fetisch-Konstitution" innerhalb des
"Unbewußten" reduziert. Die subjektiv-existentiell sehr realen
Erfahrungen des Menschen eines fortwährend schöpferischen Entstehens und
Hervorbrechens primär ganzheitlich-intuitiver und sekundär-destruktiver Kräfte,
die einen nichtbewußten, unerschöpflich potenzgeladenen Quellgrund, die
Freiheit, zur Grundlage haben, spielen in der Charakterisierung des
"Unbewußten" für Kurz keine Rolle, werden von ihm ignoriert, denn er
lehnt ja jeglichen "positiven Maßstab", eine grundlegende
"Wesensbestimmung" ab. Meines Erachtens kann jedoch eine wirkliche
Perspektive nur darin bestehen, eine zum Teil unter Verschluß gehaltene und zum
Teil verdrängte Gegensätzlichkeit des sogenannten ›Unbewußten‹ zum auch
anerzogenen (Rollen-) Bewußtsein abzubauen und letztlich zu beseitigen. Das
›Unbewußte‹ muß zum integrierten Bestandteil des innerlich freien,
selbstbewußten Menschen werden. Der Mensch muß sich, solange er lebt, seinen
fortwährend zu Bewußtsein kommenden unstillbaren existentiellen Kräften
stellen, destruktive Kräfte und Kräfte, die sich destruktiv wenden können,
schöpferisch überwinden bzw., wenn möglich, sublimierend, umwandelnd den
elementarsten geistig-ganzheitlich-intuitiven Wesenskräften, d.h. der geistigen
Freiheit, der Liebe, dem originären Gewissen, dem Mitgefühl und Mitleid etc.
und dem Gemeinschaftsstreben zugleich zuführen, damit die Kräfte von hier aus
ganzheitlich-ethisch in der konkreten Beziehung zum anderen und nun nicht mehr
fremden Menschen, zum Tier, zu den Pflanzen, zur Welt überhaupt, wirksam werden
können. Die existentielle Wahrheit wird individuell als Erwachen und
fortwährende Erweiterung der zu sich selbst kommenden,
gemeinschaftsorientierten Persönlichkeit erlebt. Diese Wahrheit ist zum einen
an ein durchlässiges personales Bewußtsein geknüpft, welches aus einem
unermeßlichen unbewußten Quellgrund integrierend schöpft und sich zugleich
transzendierend zur Welt im weitesten Sinne bezieht, zum anderen an Zeit, an
einen geschichtlichen Prozeß, geschuldet den Erfordernissen sowohl der
sekundär-manifesten Welt der Objekte als auch eines komplexen gemeinschaftlichen
Zusammenlebens. Dagegen führt die "Perspektive", "in der das
'Unbewußte' langsam... abgeschmolzen wird", zu einer Verlegung des
geistigen Menschen an die Oberfläche eines verflachenden Lebens, in welchem der
Mensch automatisch in eine Fetischabhängigkeit zu den Dingen und Prozessen
einer Welt der Objekte geraten muß, um irgendwo Halt zu finden.
"Damit aber zeichnet sich eine Perspektive ab,
in der das 'Unbewußte' langsam... abgeschmolzen wird und ein Prozeß beginnt, in
dem bisher verborgene psychische 'Provinzen' des Es ganz alltäglich ins Licht
des erscheinenden Bewußtseins geholt werden." (219 SH)
Demnach sind das "psychische
'Provinzen'...", was nicht zur "blinden Form-Konstitution des
Bewußtseins" gehört. Das Wort "Provinzen" verweist auf den untergeordneten
Charakter der dem "Unbewußten" anhaftenden geistigen Epiphänomene.
Sie werden "ganz alltäglich ins Licht des erscheinenden Bewußtseins
geholt". Nur, was fängt ein "erscheinendes Bewußtsein" mit den
"Provinzen" an? Nach welchem "Maßstab" findet ihre
Zuordnung statt, oder sind diese "Provinzen" etwa mit psychischen
"Inhalten" identisch, die an die Stelle der
"Form-Konstitution" rücken? Gemäß der Behauptung:
"Diese Negativität der Befreiung ist eine
Befreiung zum unbefangenen Umgang mit der Eigenqualität der Inhalte aller
Art." (122 Tr)
Gibt es also doch einen "Maßstab" als
"Eigenqualität der Inhalte"? Das Problem dabei ist nur: Welche
Inhalte sind die entscheidenden für unsere Selbsterkenntnis, die auf unser
Handeln zurückwirkt, wenn es einen Sinn haben soll, wenn es stattfinden soll
als nicht absolut entfremdetes? Denn ein Mensch ohne Selbsterkenntnis
(Selbstbestimmung) wäre ein absolut fremdbestimmter Mensch. Es muß also ganz
besondere Inhalte geben, die als wesentliche Eigenschaften des Menschen, den
Menschen als solchen erkennen lassen. Und mit diesen Inhalten läßt sich auch
nicht "unbefangen umgehen", denn sie sind selbst der ursprüngliche
Ausgangspunkts jeglichen transzendierenden und unbefangenen Umgangs, es sind
die wesentlichen Inhalte des Menschen als Persönlichkeit, Inhalte, aus denen
heraus sich primär die bewußte geistig-existentielle Beziehung zur Welt
überhaupt ereignet. In diesem Zusammenhang erhellt sich auch die Fähigkeit zur
Selbstbeobachtung, die keinen Meta-Standpunkt im Verhältnis zum
Persönlichkeitssubjekt verlangt (was von der abstrakten Logik des Denkens nicht
akzeptiert wird, da es ihren Prinzipien widerspricht und ausschließlich nur
durch existentielle Erfahrung verifiziert werden kann). Sondern authentische
Selbstbeobachtung erhebt sich unmittelbar aus dem Prozeß der ganzheitlichen
Persönlichkeitsrealisierung, ist ein Aspekt von ihr, befindet sich mit ihr auf
ein und derselben Tiefenebene. Authentische Selbstbeobachtung kann nur
unmittelbar im Akt des Transzendierens, der Bezogenheit der Persönlichkeit
existentiell vollzogen werden und würde augenblicklich erlöschen, sobald sich
die Persönlichkeit völlig aus aller Bezogenheit herausnehmen und in sich selbst
als egozentrisches Nichts vergraben würde. In der buddhistischen Leere-Meditation
z.B. wird dies versucht, indem man danach trachtet, das Ich-Bewußtsein zu
überwinden; absolut möglich ist dies jedoch nicht, zumindest solange der Mensch
noch lebt, und er lebt nur dann, wenn er auch ein ursprüngliches Ich-Bewußtsein
hat, welches die Beziehung zur Welt herstellt. Vertreter buddhistischer
Leere-Meditation behaupten dennoch, daß die Überwindung des personalen Ichs
möglich ist. Ich gebe ihnen recht, sofern damit ein nichtmenschlicher,
unlebendiger, geisttötender Zustand erreicht wird. Die Leere-Meditation hat in
meinen Augen jedoch dann eine Berechtigung, wenn sie einerseits als ein
schmerztherapeutisches Instrumentarium dazu dient, das Leiden kranker Menschen
mildern zu helfen, und wenn sie andererseits als ein begrenzter sekundärer
Moment des Heraustretens aus der Rastlosigkeit des Lebens hinübergleitend dazu
führt, eine schöpferisch kräftesammelnde, ganzheitlich orientierte
Kontemplation für ein gemeinschaftliches Leben zu eröffnen. (Siehe auch meinen
ersten umfangreicheren Versuch einer Kritik unter anderem gerichtet gegen einen
erfolgsorientierten westlichen Wohlstandsbuddhismus:
http://www.oocities.org/de/dirkhuebner66/wilberberdjajew.htm.)
Und wie sollte sich beispielsweise die
"Provinz" mit einem, sagen wir, durch Eifersucht ausgelösten
aggressiven Inhalt ganz "alltäglich" im "Licht des erscheinenden
Bewußtseins" darstellen? Diese Aggression ist einfach keine ganz
alltägliche psychisch-seelische Geistesverfassung, auch wenn sie häufiger
vorkommt. Müssen etwa Momente der Aggressivität entsprechend der
"Eigenqualität der Inhalte" ausgelebt werden? Das würde nicht
wirklich einen Sinn machen. Die Persönlichkeit begreift sich vor allem auch aus
einem ethisch-schöpferischen Gewissen heraus, mit dessen Hilfe sie sich einer
hervorbrechenden Aggression entgegenstellen und, unter Zuhilfenahme der
Verstandeskräfte, diese leidenschaftlich-schöpferisch relativieren bzw.
überwinden kann. Die Persönlichkeit kann sich im Vollzug des Lebens, durch
Bewältigung von Hindernissen und Widerständen, durch die konkrete
Auseinandersetzung mit existentiell gegenläufig-destruktiven Tendenzen bzw.
Erscheinungen, ihrer Wesenskräfte, insbesondere der schöpferisch-ethischen und
diese dabei gleichzeitig erweiternd und vervollkommnend, immer mehr bewußt
werden. Die Persönlichkeit wächst und erstarkt letztlich durch ihr
schöpferisches Wirken für die und in der Gemeinschaft, was ein schöpferische
Selbsterkenntnis umfaßt, welche wiederum auch die Auseinandersetzung mit
dunklen destruktiven Tendenzen nicht scheut. Weiter:
"Umgekehrt beginnt auch das Über-Ich seine
Autonomie einzubüßen. Auch für das Alltagsbewußtsein ist eine blinde
Orientierung an vorausgesetzten und von Kindheit an eingetrichterten Mustern
immer weniger akzeptabel. Moralische, politische und kulturelle Normen müssen
es sich gefallen lassen, auf ihre Tragfähigkeit und Plausibilität hin geprüft
und analysiert zu werden. Tendenziell verschwindet das alte automatische
Über-Ich. Sogar die Sprache ist nicht mehr als codierendes System gegen
Reflexivität immun." (219 SH)
Das Erstarken der Persönlichkeit schmelzt auch das
Über-Ich ab, aber eine Autonomie des Über-Ichs hat es so nie gegeben. Immer
spürte der Mensch einen Rest Freiheitsdrang in sich, der eine absolute
Autonomie der Fremdbestimmung unmöglich macht. Auch das Über-Ich muß durch
eingebundene schöpferische Kräfte genährt werden. Es bedient sich dieser
Kräfte, um bestehen zu können. Und was kennzeichnet ein "Alltagsbewußtsein"?
Wie soll dieses zur Bewertung einer "blinden Orientierung" fähig
sein? Kurz unterschiebt dem Alltagsbewußtsein, das seine Berechtigung hat,
sofern es das Leben nicht bestimmt, plötzlich eine Fähigkeit, die ihm nun
wirklich nicht zukommt, weil gerade das Alltagsbewußtsein voller Vorurteile
steckt und damit eine tendenziell automatische, geistig-gewohnheitsmäßige
Bewältigung des Lebens (-alltags) ermöglicht und vollzieht. Auch das
Alltagsbewußtsein spielt immer nur eine untergeordnete Rolle, deren Ausmaß und
Charakter abhängig ist entweder von der fremdbestimmten oder der
selbstbestimmten Verfassung des Menschen. Eine "blinde Orientierung"
ist einzig und allein eine bewußt erfahrene Zumutung für das
Persönlichkeits-Ich, das sich auf einer entschieden tieferen bzw. höheren Ebene
befindet und das tendenziell starre Alltagsbewußtsein schöpferisch-ethisch
durchbrechen kann. Aber auch eine destruktive Antwort auf die Zumutungen der
"blinden Orientierung" ist möglich, und zwar dann, wenn der Mensch
die Realisierung seiner Persönlichkeit als zu schwierig empfindet und ebenfalls
als Zumutung ansieht und ablehnt. D.h., die Persönlichkeit ist zwar der
ursprünglichste Ausgangspunkt des Widerstandes, aber auch deren Realisierung
ist mit Anstrengung verbunden, die authentische schöpferisch-ethische
Wesenskräfte verlangt. Die destruktive Antwort eines Menschen dagegen lehnt
sich gegen alles auf: Im Extremfall will er sich letztlich zu nichts und
niemandem und vor allem nicht zu sich selbst bekennen, ist absolut
"negatorisch" orientiert, sieht überall nur Fremdheit und
Feindschaft. Die Nazis haben dieser Destruktivität im starken Maße entsprochen,
aber auch sie mußten sich des Zuspruchs einer hochgradig illusionären
völkischen National-›gemeinschaft‹ versichern, um nicht das Gefühl zu bekommen,
absolut zu vereinsamen und verrückt zu werden.
Sollen nun etwa "moralische, politische und
kulturelle Normen" auf den Prüfstand der "Plausibilität" eines
gewohnheitsmäßigen "Alltagsbewußtseins" gehoben werden? Denn eine
unverbindliche "Plausibilität" kann es nicht geben. Und noch niemals
war Sprache gegen "Reflexivität immun". Schon immer hat sie sich
gewandelt, konnte von keinem starren Gerüst festgehalten werden. Wenn sich
heutzutage die Sprache im Sinne der kapitalorientierten Ökonomisierung wandelt,
so wandelt sie sich eben dennoch. Reflexivität kann sich genausogut einer
kapitalorientierten Ökonomie verschreiben und von dieser ausgehend ihre
Bewertung vornehmen. Dabei werden auch schöpferisch neue Sprachmuster
entwickelt. Weiter:
"Die feministische Sprachkritik und bewußte
Implementierung neuer Sprachregelungen, von denen die 'männliche' Codierung
außer Kraft gesetzt wird, ist keineswegs so albern, wie gewisse (männliche)
Sprach- und Theoriemonopolisten es gern hingestellt hätten. Vielmehr deutet
dieser Vorgang den Beginn eines Prozesses an, in dem nicht mehr 'der Mensch
gesprochen wird', sondern die Menschen auch auf ihre Sprachentwicklung bewußten
Einfluß nehmen (und nicht nur bestenfalls die bewußtlos vollzogenen
Veränderungen im nachhinein feststellen können). Ähnliches gilt für die Kritik
anderer (z. B. rassistischer) Sprachregelungen." (219 SH)
Eine "... 'männlich' (codierte)"
"Sprachregelung" wird also durch eine ›weiblich codierte‹
"feministische Sprachkritik" "außer Kraft gesetzt", die
ihrerseits "bewußte Implementierung neuer Sprachregelungen" einführt.
Was hat sich denn nun prinzipiell geändert? Nichts. Geändert hat sich der
Hintergrund der "Sprachregelung", und man kann Robert Kurz zustimmen,
daß dies "keineswegs so albern", sondern auch sehr wichtig ist und
Veränderungen im wahrhaft ethischen Sinne bewirken kann. Aber auch feministisch
orientierte Sprachregelungen können fanatisch zugespitzt, können zum Fetisch
werden wie alles. Entscheidend ist, daß der Mensch aus seinem Persönlichkeitssubjekt
heraus auf die Sprachregelung schöpferischen Einfluß ausübt und eine
fetischorientierte Erstarrung bzw. Fanatisierung der Sprache verhindert. Der
Mensch ist dazu jedoch erst wirklich in der Lage, wenn er überhaupt für sein
Leben ein Mindestmaß an ganzheitlicher, existenzrückbezüglicher, schöpferischer
Verantwortung übernommen hat. Eine nicht geringe Anzahl literarischer und
philosophischer Werke legt Zeugnis davon ab, daß dies schon früher mehr oder
weniger einigen Menschen gelang.
Und noch nie wurde "der Mensch gesprochen"
im absoluten Sinne. Aber kritisch ist zu konstatieren, daß unter den
Bedingungen der Moderne eine verarmte, technisierte und gefühlskalte Sprache um
sich greift, die ein Licht auf die Verfassung der Menschen und ihre
Lebensgestaltung wirft. D.h., das, was der Mensch nicht fremdbestimmt spricht,
hat zur Zeit an Kraft verloren. Und selbst wenn die Menschen nur noch
"bestenfalls bewußtlos vollzogene Veränderungen [der Sprache - D. H.] im
nachhinein feststellen können", so zeugt dies dennoch davon, daß in ihnen
wenigstens noch ein Rest eigenen Urteilsvermögen, eigener
"Reflexivität" vorhanden ist.
Neben der Forderung nach einem "unbefangenen
Umgang mit der Eigenqualität der Inhalte aller Art" bezieht sich Robert
Kurz immer wieder auf einen bewußten Akt, den die Menschen zu leisten hätten,
um die "Subjekt-Objekt-Dichotomie" quasi abwerfen zu können. In
diesem Zusammenhang fällt auch der Begriff "Bewußtheit", die er als
"gesellschaftliche Selbst-Bewußtheit" positiv anruft:
"Der zweite Mensch kann im Gegensatz zum ersten
nicht 'entstehen', sondern er muß sich selbst bewußt schaffen. Er muß
Bewußtheit gegenüber seiner eigenen Gesellschaftlichkeit gewinnen, wie er in
der ersten Konstitutionsgeschichte zunehmende Bewußtheit gegenüber der ersten
Natur gewonnen hatte. Bewußtheit anderer und höherer Ordnung freilich, denn
Bewußtheit als Selbst-Bewußtheit ist etwas grundsätzlich anderes als bloße
Kontrolle oder 'Herrschaft' gegenüber Naturdingen. Da die relative Bewußtheit
gegenüber der ersten Natur erkauft war durch die Fetisch-Konstitution der
zweiten Natur, wurde deren Bewußtlosigkeit als Rückkoppelung auch in der
bewußten Subjektbeziehung gegenüber der Objekt-Natur wirksam. Wenn jetzt auch
der gesellschaftliche Selbstbezug 'durch den Kopf hindurch muß', dann kann dies
keine mechanische Wiederholung der Subjektwerdung gegenüber der ersten Natur
sein. Die gesellschaftliche Selbst-Bewußtheit wird also auch den Naturbezug
grundsätzlich verändern, wobei 'Kopf' hier nicht als Gegensatz zu 'Bauch' bzw.
Gefühl zu verstehen wäre, sondern als Bewußtheit, von der die Gefühlsebene
eingeschlossen wird." (210/211 SH)
Gefühl ist aber nicht nur Bauch, sondern auch Herz.
Das Herz symbolisiert Mitleid, Mitgefühl, Liebe, Vertrauen, Zuwendung usw. Man
sagt, daß man mit Herz und Verstand handeln soll, was meint, daß das Herz
richtungsbestimmend an die erste Stelle gehört und Verstand dafür integrativ
einzubinden ist. Bei Kurz jedoch stellt es sich umgekehrt dar. Vom Kopf her als
"Bewußtheit" soll das Gefühl, welches er aufschlußreich nur dem
"Bauch" zuordnet, eingebunden werden und dadurch erst die genügende
Substanz erhalten. Also wieder ein Rest "männlich westlich-weißer"
Überhebung?!
"Bewußtheit", gespickt mit etwas
Bauchgefühl, wird zum höchsten (geistigen) Wert erhoben, um die Dinge und
Verhältnisse, die aus dem Ungewissen kommen und als völlig wertfreie und doch
irgendwie inhaltliche Prozesse die Menschen überfällt, wahrscheinlich nach zu
beseitigenden Widersprüchen zu regeln. Nur wie erkennt man die Widersprüche,
will man nicht einer lieblosen, rein "männlich westlich-weißen" Logik
das Wort reden? Dazu kommt man an einer befreienden Ethik, die
existenzrückbezüglich, wie oben schon erklärt, errungen werden kann, nicht
vorbei. Damit der Mensch "sich selbst bewußt schaffen" kann, was auch
ich für ein oberstes Gebot halte, reicht es nicht aus, wenn er sich dazu allein
auf eine völlig unkonkrete "Bewußtheit" beruft. Er muß in den
Wesensprozeß seines Menschseins eindringen, welchen ich grundsätzlich als eine
sich im Menschen vollziehende "Existentielle Dialektik des Göttlichen und
Menschlichen" (Berdjajew) begreife. Dazu benötigt der Mensch auch
Verstandeskräfte, aber diesen allein, für sich genommen, geht jegliche
Orientierung ab, sie existieren gar nicht außerhalb eines Bezugs. Das
Eindringen in das Wesen seines Menschseins ist primär ein Erkunden und Schaffen
existentieller Wahrheit, Liebe und Freiheit, es ist die Realisierung des
Persönlichkeitssubjekts in der Gemeinschaft von Menschen, es ist grundsätzlich
ein Bestreben, in allen persönlich-konkreten Beziehungen zu den lebenden Wesen
und den Dingen der Welt Gemeinschaft zu erringen unter ganzheitlicher
Einbindung unabdingbarer und dennoch sekundärer Verstandeskräfte. Doch es ist
ein Trugschluß, zu meinen, die Realisierung des Persönlichkeitssubjekts in der
Gemeinschaft führe letztlich zur absoluten Harmonie im Leben. Vollkommene
Harmonie wäre Stillstand, das Ende jeglicher Bewegung und somit jeglichen
Lebens. Der Mensch als Persönlichkeit, als ganzheitliche Konkretisierung
geistiger und natürlicher Beschaffenheit wird sich immer, solange er existiert,
mit Widersprüchen im Leben auseinandersetzen müssen. Es ist des Menschen
Bestimmung, im Sinne wahrer, fortwährend zu erweiternder Menschlichkeit, die
der Mensch schon seit seinem Erscheinen zumindest schwach in sich trägt, die
Widersprüche in der Welt zu überwinden. Aber der Akt des Überwindens von
Widersprüchen kann nur bedingt auf vergangenen Erfahrungen, auf schon
Errungenem aufbauen. Im Grunde verlangt jeder zu lösende Widerspruch eine
gänzlich neue, schöpferische Antwort, um der konkreten Einzigartigkeit eines
jeden Lebensmoments, der Bewältigung des Lebens als eines ganzheitlichen
gemeinschaftlichen Prozesses gerecht werden zu können. Und da das Leben, die existierende
Welt überhaupt, niemals in absoluter Bewegungslosigkeit verharren kann, werden
auch immer wieder neue Widersprüche entstehen, die neue Fragen aufwerfen, die
wiederum eine neue Antwort verlangen. Doch primär verlangt die Lösung von
Konflikten und Widersprüchen im Leben eine innerlich-bewußte Grundeinsicht
(Liebe, Gewissen, Leiden, Mitleid usw.), die sich geistig-existenzdialektisch
aus der Verwirklichung der ganzheitlichen Persönlichkeit ergibt, über die eine
schöpferisch-ethische Beziehung zur Welt hergestellt werden kann. Leider ist es
heute aber so, daß der vom persönlichkeitsgeschwächten Menschen miterschaffene
und geschaffene Kapitalismus dem Menschen einen Götzen, einen Fetisch mehr oder
weniger aufzwingt, der den Menschen in einem Zustand relativer Form-Erstarrung
seines Lebensvollzuges bzw. in einem formerstarrten, den Menschen
veräußerlichenden Prozeß gefangenhält, was insbesondere seinen Ausdruck sowohl
in der physischen als auch geistigen Arbeit, aber auch in der sogenannten
Freizeitgestaltung findet. Der persönlichkeitsgeschwächte Mensch will nichts
von einer schöpferisch-authentischen Bestimmung wissen, weil diese unbequem,
lästig, seinen liebgewonnenen Fetisch-Gewohnheiten und Fetisch-Ansprüchen
zuwiderläuft. Die warenfetischorientierten Menschen, sofern sie nicht aus dem
Konkurrenzsystem herausgefallen sind, haben einerseits zwar zunächst,
vordergründig den Eindruck, daß ihr Leben nur so vor Lebendigkeit strotzt, vor
allem ausgelöst durch die immer noch fortlaufend kapitalistisch sich
erweiternde äußerliche Arbeits-, Freizeit- und Konsumaktivität, die von einer
immer auch noch extensiv fortschreitenden Technisierung der Lebenswelt
begleitet wird; doch andererseits spüren die Menschen im existentiellen
Hintergrund, da wo das eigentliche Leben als geistig-personales und
gemeinschaftliches Leben primär gelebt wird, gleichzeitig eine innerliche
Entleerung, eine Zunahme inneren Chaos, innerer Leblosigkeit und Unerfülltheit.
Der Kapitalismus wirft den Menschen wesensbedingt an die Oberfläche seiner
Existenz, verbraucht mit den Jahren dessen Lebensenergie für den
kapitalorientierten Veräußerlichungsprozeß und führt somit in der Folge zu
einer Minimierung und Schwächung wahrer Menschlichkeit und der entsprechenden
existentiellen Wertefähigkeit, des authentischen Gewissens, das einer völlig
anderen Dimension, einer geistig-ursprünglichen Welt angehört im Gegensatz zum
fetischorientierten Wertedenken der Menschen in der Warengesellschaft. Die
Schwächung des authentischen Gewissens hat unweigerlich innermenschliches und
gesellschaftlich-soziales Chaos zur Folge. In der Atmosphäre des Kapitalismus
neigen die Menschen dazu, ihre gottgegebene Gabe ursprünglicher Menschlichkeit
zu verraten, zu verdrängen, zu verlieren. Statt dessen bricht aus den Tiefen ihres
Daseins oft eine wütende Unmenschlichkeit hervor. Sollte diese Tendenz
obsiegen, wäre die Menschheit verloren, nicht mehr existent, auch wenn sie
körperlich als eine Meute von Unwesen noch eine Weile dahinvegetierte. Ich
halte jedoch ein völliges Versiegen der gottgegebenen Gabe ursprünglicher
Menschlichkeit für nicht möglich. Ansonsten wären wir schon längst von der
Erdoberfläche verschwunden.
"Wenn jetzt auch der gesellschaftliche
Selbstbezug 'durch den Kopf hindurch muß', dann" kommt es darauf an, wie
das Gesellschaftliche im Kopf bewertet wird, entweder als etwas Höheres,
Allgemeines, dem man blind folgt oder knechtisch-bedingungslos Folge zu leisten
hat (z.B. als kollektives Bewußtsein), oder als ein Teil meiner Persönlichkeit,
in den hinein ich mich eben als Persönlichkeit transzendierend, liebend,
schaffend einbringe und verwirkliche, ohne diese preiszugeben, sondern mich auf
ihren universellen, nicht allgemeinen, Gehalt/Inhalt berufend, den jeder Mensch
frei in sich trägt und zur Fülle des (existentiellen) Lebens erheben kann,
sofern ihm die Gemeinschaft insbesondere mit anderen Menschen gelingt. (Zur
Vermischung des Universalen mit dem Allgemeinen siehe auch das Zitat ›Berdjajew
26‹ in: http://www.oocities.org/de/dirkhuebner66/wilberberdjajew.htm.)
Wenn man aber meint, daß der "gesellschaftliche Selbstbezug" einer
subjektiv-geistigen Bewertung nicht bedarf, überantwortet man den dann
subjektlosen Menschen automatisch einer absoluten gesellschaftlichen
Fremdbestimmung, die natürlich, genauer betrachtet, nur möglich ist, wenn eine
"gesellschaftliche Selbst-Bewußtheit" durch ein existierendes Subjekt
der Erkenntnis, auf das schon das Wort "Selbst" verräterisch
hinweist, verinnerlicht wird.
"Aber Aufklärung, Naturwissenschaft und
Industrialisierung sind nur Momente der allgemeinen Warenform und ihrer
Fetisch-Konstitution, die in sich die bisherige Menschheitsgeschichte und das
Problem der Fetisch-Konstitution überhaupt einschließt und erstmals global
verallgemeinert. Das Subjekt der Moderne, das alle bisherigen Subjektformen in
sich aufgehoben hat, ist sich ebensowenig wie alle früheren Gestalten des
Subjekts seiner eigenen Form bewußt; es repräsentiert sozusagen die höchste
Form der Form-Bewußtlosigkeit.
Damit läßt sich die allgemeine Bestimmung angeben:
Ein Subjekt ist ein bewußter Aktor, der sich seiner eigenen Form nicht bewußt
ist. Genau diese Form-Bewußtlosigkeit aber ist es, die den bewußten Handlungen
gegenüber der ersten Natur und gegenüber den anderen Subjekten einen
unsichtbaren objektiven Zwangscharakter auferlegt; die durch vergangene
Handlungsketten hindurchgegangene Objektivierung ist dem Subjekt bereits blind
vorausgesetzt. Die Bewußtheit beschränkt sich also auf die einzelne Handlung,
die im Unterschied zum Tier nicht blind gesteuert ist, sondern 'durch den Kopf
hindurch muß'. Vom Bewußtsein nicht erfaßt wird dagegen der allgemeine
gesellschaftliche Handlungsrahmen, der historisch 'entstanden' ist und blind
vorausgesetzt wird. Die Bewußtheit ist also eine bloße Binnenbewußtheit
innerhalb einer Fetisch-Konstitution, die aber, und das markiert den
entscheidenden Unterschied zu Strukturalismus/Systemtheorie bzw. zu verkürzten
Auffassungen des Fetisch-Problems, nichts Äußerliches, sondern die Form des
eigenen Bewußtseins selber ist." (197/198 SH)
Ich frage mich in diesem Zusammenhang immer wieder,
was passiert denn da im Kopf, um die "einzelne Handlung" ausführen zu
können, die "... 'durch den Kopf hindurch muß'...", die mit
"Bewußtheit" und "nicht blind gesteuert" wird? Wie steuert
die "Bewußtheit", wenn auch "Binnenbewußtheit", die
"einzelne Handlung"? Etwa ganz nach den Erfordernissen
("Inhalten") der vorgefundenen Gegenstände? Dann wäre die
"Bewußtheit" von diesen absolut abhängig und bestimmt. Oder
entsprechend der den "inhaltlichen" Erfordernissen gewonnenen
"Einsichten"? Aber auch diese "Bewußtheit" wäre dann ganz
den auf die "inhaltlichen" Erfordernisse reduzierten "Einsichten"
angepaßt, egal, ob den Erfordernissen noch ein "allgemeiner
gesellschaftlicher Handlungsrahmen", eine
"Fetisch-Konstitution", vorgeschaltet ist oder nicht; denn die
"Konstitution" ist eben nur der Rahmen, kann an und für sich keinen
eigenen, aktiven Handlungsimpuls motivieren, der einzig von einer tieferen
Ebene der "Bewußtheit" des jeweiligen Menschen geleistet wird und in
der konkreten Bezogenheit über den Rahmen der "Konstitution" in jedem
Fall weit hinausgehen muß. Eine plausiblere Variante wäre, daß die
"Einsichten" einer "Bewußtheit" unter Berücksichtigung des
Vorhandenen, der Erfordernisse auf der Basis schöpferischer geistiger Tätigkeit
entstehen, die die Dinge, die da nun mal sind, verändernd, erweiternd, neu
schaffend in eine sinnvolle Übereinstimmung mit dem Wollen, den menschlichen Erfordernissen
und Bedürfnissen bringen, die sich weder nur auf eine
"Fetisch-Konstitution" noch auf eine nützliche Futtersuche
beschränken lassen, sondern auch existentielle und religiöse, d.h.
ursprünglich-wesenhafte Bedürfnisse umfaßt - grundlegend meine ich damit die
Liebe, Freiheit und Wahrheit. Damit sage ich abermals, daß es ein Bedürfnis
nach existentieller Orientierung im Menschen gibt.
In gewisser Weise stimmt es ja, daß das
"Subjekt der Moderne, das alle bisherigen Subjektformen in sich aufgehoben
hat, ... sich ebensowenig wie alle früheren Gestalten des Subjekts seiner
eigenen Form bewußt" ist; aber "es repräsentiert sozusagen die
höchste Form der Form-Bewußtlosigkeit" nur als ein sekundäres, anerzogenes
Rollen-Subjekt bzw. "Über-Ich" im weitesten Sinne, dessen
"eigene Form" in Wirklichkeit eine fremde, anerzogene ist. Die
Menschen sind in der Tat in ein vorgegebenes, ihnen z.T. nicht bewußtes Gerüst
hineingewachsen, haben es sich in gewisser Weise selbst geschaffen. Aber diesem
Gerüst können sie nur entkommen, wenn in ihnen subjektiv mehr ist als nur die
"Subjektform". Tiefer als das entäußerte "Subjekt der
Moderne" gelangt das authentische Subjekt immer wieder und häufiger in
Widerspruch zu seiner Rollenverhaftung. Wäre diese gegenläufige subjektive Intuition
nicht vorhanden, wäre der Mensch absolut seiner anerzogenen
"Subjektform" ausgeliefert. Wie oben von mir schon dargelegt,
verhindern vor allem auch sekundäre existentielle Ängste, die sich teilweise
aus unerbittlichen Zwängen des jeweiligen Fetischsystems ergeben, daß sich der
Mensch auf seine primären existentiellen Persönlichkeitskräfte, z.B. das echte
Gewissen, beruft und sich von diesen in seinem Handeln leiten läßt. Jedoch gab
es immer wieder Menschen, die ihr echtes Gewissen verteidigt und nicht
preisgegeben haben. Dazu war es für diese Menschen auch nicht notwendig, den
"allgemeinen gesellschaftlichen Handlungsrahmen, der historisch
'entstanden' ist", bewußt, d.h. klar zu erfassen und auszuleuchten. Dies
habe ich persönlich auch in der DDR so erfahren können. Schon die von einem
persönlichkeitsmißachtenden "Handlungsrahmen" hervorgerufenen bloßen
Tendenzen bzw. Phänomene können für den Menschen eine unerträgliche Zumutung
sein, die er bewußt leidend erlebt und die seine Entgegnung provoziert; und
darauf aufbauend kann er auch den "Handlungsrahmen" immer besser
verstehen lernen. Und ich finde, im Kapitel "Maschinenstürmer" des
sehr bemerkenswerten Buch "Schwarzbuch Kapitalismus" beschreibt Kurz
selber sehr überzeugend, wie sich die Menschen trotz der "ganz
verschwommenen Kritik betriebswirtschaftlicher Schein-Rationalität und
'Marktgesetzlichkeit'..." (Ullstein Verlag, 3. Auflage 2003, S. 159) gegen
den "Handlungsrahmen" zur Wehr setzten.
Was auffällt ist, daß Kurz die Bewußtheit einteilt
in eine "Binnenbewußtheit innerhalb einer Fetisch-Konstitution" und
eine "Bewußtheit anderer und höherer Ordnung... , denn Bewußtheit als
Selbst-Bewußtheit ist etwas grundsätzlich anderes als bloße Kontrolle oder
'Herrschaft' gegenüber Naturdingen" (210 SH). Er läßt also für die
"Bewußtheit" grundsätzlich zwei verschiedene Varianten zu, während
dem Subjekt solch eine Einteilung nicht vergönnt ist. Das Subjekt ist laut Kurz
der Feind des Menschen, dessen er sich entledigen muß. Dafür gilt es, eine subjektlose
"Selbst-Bewußtheit" zu erwerben. Was das wiederum sein soll, wird
zumindest aus dem hier besprochenen Text "Subjektlose Herrschaft"
heraus nicht wirklich klar.
Die "allgemeine Bestimmung" des Subjekts:
"Ein Subjekt ist ein bewußter Aktor, der sich seiner eigenen Form nicht
bewußt ist", ist aus meiner Sicht in zweierlei Hinsicht problematisch. Zum
einen wird der Subjektbegriff auf ein fetischverhaftetes Rollen-Subjekt
reduziert, zum anderen kann nur in einer eingeschränkten Weise von einer
"eigenen Form" gesprochen werden, sofern sich die "Form"
auf ein sekundäres, anerzogenes Rollen-Subjekt bezieht, eben als "eigene
Form" des Rollen-Subjekts. Dem authentischen Persönlichkeitssubjekt
dagegen ist das fetischformverhaftete Rollen-Subjekt fremd und zuwider, welches
als ein sekundär erworbener Teil des menschlichen Subjekts erkennbar ist und
deshalb überwunden werden kann. Der "objektive Zwangscharakter", von
dem Kurz spricht, ist einzig und allein eine Eigenschaft eines autistisch
veranlagten Rollen-Subjekts, welches seine jeweiligen ›konkreten‹ Beziehungen
sowohl zu den Dingen als auch insbesondere zu den anderen Subjekten zwanghaft
in objektivierender Weise gestalten muß. Dennoch muß darüber hinaus betont
werden, daß die objektivierende Erkenntnisweise dem ganzheitlichen
Erkenntnisvermögen des Menschen als ein unabdingbarer Bestandteil angehört und
der Verzicht auf diesen Bestandteil den Menschen lebensunfähig macht. Es kann
gar nicht darum gehen, die objektivierende Erkenntnisweise absolut überwinden
zu wollen, sondern es kann nur darum gehen, sie integrativ einzubinden und ihre
dominierende Rolle mitsamt der verrationalisierten, dabei aber wesentlich
irrational agierenden Moderne loszuwerden.
"Das Subjekt, weil es sich seiner Form und
damit seiner selbst nicht bewußt ist, muß die Natur und die anderen Subjekte
als bloße Außenwelt erleben. Die Begrenztheit des Wahrnehmungs- und
Handlungsbewußtseins erlaubt es nämlich nicht, eine Meta-Ebene zu erklimmen und
sich selbst (das Subjekt) in seinem Bezug zur Außenwelt wahrzunehmen und also
den Gesamtkomplex zu begreifen, in den das Subjekt und seine Wahrnehmungs- bzw.
Handlungsgegenstände eingeschlossen sind. Die Form-Unbewußtheit des Subjekts,
die eine bloße Dichotomie von Subjekt und Außenwelt konstituiert, setzt damit die
Gegenstände von Wahrnehmung und Handlung (Natur und andere Subjekte) zu
Objekten herab. Der Subjekt-Objekt-Dualismus ist Folge der Tatsache, daß die
Meta-Ebene, von der aus der Aktor und seine Gegenstände als ein gemeinsames
Ganzes erscheinen, sozusagen 'nicht besetzt' ist; diese Meta-Ebene nimmt eben
die subjektlose Form des Subjekts ein, wodurch sich der scheinbar
unausweichliche und unüberbrückbare Dualismus herstellt. Es wäre also von daher
eine zweite, ergänzende Bestimmung des Subjekts möglich: Ein Subjekt ist ein
Aktor, der seine Gegenstände zu äußeren Objekten herabsetzen muß."
(198/199 SH)
Gerade weil das Subjekt wesentlich, auf der
"Meta-Ebene", Persönlichkeit ist, kann es sich sukzessive der
Fetischform bewußt werden. Kurz legt natürlich auf das Subjekt, welches er auf
ein Form-Subjekt reduziert, keinen Wert mehr, hofft auf die Gewinnung einer
"gesellschaftlichen Selbst-Bewußtheit". Aber diese
"Bewußtheit" macht nur einen Sinn, wenn sie in sich Eigenschaften,
Grundlagen beinhaltet, die einen authentischen subjektiven Charakter tragen.
Wenn angeblich die "Meta-Ebene" ausschließlich von einer
"subjektlosen Form des Subjekts" eingenommen wird, dann behauptet
Kurz gewissermaßen, daß diese "subjektlose Form" für die äußerlich
dynamisierende Entwicklung des Kapitalismus maßgeblich in Frage kommt und in
dieser Hinsicht die schöpferischen Impulse liefert. Demnach gibt es keinen
anderen Ausweg aus der "Konstitution" als ihr innerlich und äußerlich
vollständiger Zusammenbruch aus ihren immanenten Widersprüchen heraus, ohne
Hilfe einer aktiv ins ›Spiel‹ gebrachten tieferen, subjektiv getragenen
Intention, die es nach dieser Theorie der subjektlosen Herrschaft nicht geben
kann. Deshalb kann es auch keine echte, fetischsystemüberwindende Vision geben,
weil sich bisher noch alle Visionen mehr oder weniger im Bannkreis der
"Fetisch-Konstitution" befinden müssen. Deshalb beharrt Robert Kurz
auch auf einer rein "negatorischen" Kritik ("Negative
Ontologie" in R. Kurz, Blutige Vernunft, Horlemann Verlag, 2004.) dieser
"Konstitution", damit von ihr und vom entsprechenden Fetischdenken
nichts in einen neuen Gesellschaftszusammenhang hinübergerettet werden kann.
Was sich jedoch nach einer absoluten Negation der "Konstitution", des
Subjekts ereignen wird, wird von Kurz dann nur noch sehr schemenhaft
besprochen, bezieht sich konkreter meist nur auf praktisch-organisatorische
Fragen der Lebensgestaltung, obwohl er dabei, ohne es einzugestehen, nicht ohne
inneres existentiell-ethisches ›Richtmaß‹ auskommt. Jedoch weist letzteres
darauf hin, daß seine Subjekt-Theorie mit der von ihm geforderten Praxis des
"... 'kommunikativen Handelns' (Habermas) der
Menschen, die ihre eigene Gesellschaftlichkeit und ihre gesellschaftlichen
Handlungsketten bewußt reflektieren und dementsprechend organisieren" (217
SH)
nicht übereinstimmt. Denn "kommunikatives
Handeln" ist an ein Subjekt des Handelns gebunden. Und dieses Subjekt
existiert authentisch als Persönlichkeit und ist nur oberflächlich
Form-Subjekt, auch wenn letzteres derzeit die ›Szenerie‹ massiv dominiert unter
Verwendung und Einbindung entfremdeter existentiell-schöpferischer und
destruktiver Kräfte des Menschen. Deshalb sage ich, Kurz' "ergänzende
Bestimmung" umwandelnd: Das Form-Subjekt ist ein sekundär erworbener
Aktor, der seine Gegenstände zu Objekten herabsetzt. Nur von diesem
Form-Subjekt aus ist der "Subjekt-Objekt-Dualismus" "scheinbar
unausweichlich und unüberbrückbar". Aber ich sage nicht, daß der
Subjekt-Objekt-Dualismus vom Menschen absolut zu überwinden sei, solange er in
dieser Welt lebt und wirkt. Der relative Subjekt-Objekt-Dualismus ist als eine
›niedere‹, unter- bzw. zugeordnete, abstrakt-geistige Beziehungsrealität durch
die konkrete Schaffung einer geistigen Gemeinschaft sowohl unter den Menschen
als auch mit den Tieren, Pflanzen und Dingen der Welt fortwährend zu überwinden
und bildet dennoch, antinomisch, für die Gemeinschaft eine unverzichtbare
Voraussetzung, die den Bedingungen einer relativen Welt der Objekte Rechnung
trägt. Die ganzheitliche Erkenntnis des Menschen ist sowohl primär eine
existentiell-intuitiv schöpferische als auch eine damit unabdingbar verbundene
sekundär rational objektivierende. Denn der Mensch ist sowohl ein
geistig-seelisches als auch ein physisch-materielles Wesen, er vereint in sich
beide Seiten ganzheitlich. D.h., daß es für den Menschen auch darauf ankommt,
daß er mit einer Welt der Objekte, ausgerichtet auf seine geistige Bestimmung,
schöpferisch umgehen muß. Zur Aufrechterhaltung des menschlichen Körpers, des
kulturellen und ökonomischen Gesellschaftskörpers etc. kann auf eine
objektivierende und objektivierte Praxis unter anderem zur Bereitstellung
materieller Lebensgrundlagen nicht verzichtet werden.
"Aber wenn die Selbsterkenntnis des
Beobachters, der sich selbst in die Beobachtung einbezieht, auch die
Beobachtung der Selbstwidersprüchlichkeit des Systems und damit die
Selbstwidersprüchlichkeit des Beobachters selbst (seiner eigenen Form)
einschließt, wird auch ein anderer Begriff von praktischer Aufhebung gewonnen:
nämlich die Identität der praktischen Systemaufhebung mit der praktischen
Selbstaufhebung des Beobachters, der eben dadurch erst aufhört, bloßer
Beobachter zu sein, und dadurch auch erst den 'Standpunkt ab extra' wirklich
aufgibt. Solange er bloßer Beobachter bleibt, bleibt auch die Beschreibung
letztlich eine solche 'von außen'. Das bei Luhmann ebenso wie bei Hegel
feststellbare kontemplative Moment zeigt in Wirklichkeit nicht ein 'Zuviel',
sondern eher einen Mangel an (kritisch-aufhebender) Immanenz, d.h. es ist ein
Rest oder eine Schwundstufe des 'Standpunktes ab extra', worin die praktische
Selbstwidersprüchlichkeit von System und Beobachter nicht mitreflektiert wird.
Gerade die konsequent durchgehaltene Selbstreflexivität führt so im Gegensatz
zu Luhmann zur radikalen Systemkritik, allerdings unter Selbsteinschluß des
Beobachters/Kritikers, der von keinem ontologischen 'Standpunkt ab extra' mehr
ausgeht, weder von einer Ontologie der 'Arbeit' noch von einer Ontologie des
'Subjekts', allerdings erst recht nicht von einer Ontologie 'subjektloser
Systeme'. Vielmehr wird die Subjekt-Objekt-Dichotomie dann selber systemisch
historisiert statt bloß verworfen." (202/203 SH)
Zunächst wiederhole ich noch einmal, was ich weiter
oben schon dargelegt habe: Die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung verlangt im
Verhältnis zum Persönlichkeitssubjekt keinen Meta-Standpunkt. Authentische
Selbstbeobachtung erhebt sich unmittelbar aus dem Prozeß der ganzheitlichen
Persönlichkeitsrealisierung, ist ein Aspekt von ihr, befindet sich mit ihr auf
ein und derselben Ebene. Authentische Selbstbeobachtung kann nur unmittelbar im
Akt des Transzendierens, der Bezogenheit der Persönlichkeit existentiell
vollzogen werden und würde augenblicklich erlöschen, sobald sich die
Persönlichkeit völlig aus aller Bezogenheit herausnehmen und in sich selbst als
egozentrisches Nichts vergraben würde. Authentische Selbstbeobachtung ist somit
der ursprünglichste, primärste Akt der transzendierenden Selbsterkenntnis des
Persönlichkeitssubjekts.
Einen "bloßen Beobachter" "von außen"
hat es im absoluten Sinne nie gegeben. Immer hat der Mensch in seine
Beobachtung zumindest fremdbestimmte subjektive Urteile, Vorurteile,
Bewertungen einfließen lassen. Das Beobachtete wird im Akt des Beobachtens
einer subjektiv-schöpferischen Wertung unterzogen oder zumindest einer starren
fetischorientierten, die ihrerseits jedoch ein Mindestmaß schöpferischer
Wertungsfähigkeit bedarf. D.h., daß das Beobachtete im Akt des wie auch immer
gearteten Beobachtens konkret-subjektiv neu entsteht, neu geschaffen werden
muß, erweitert wird auf der Grundlage primärer schöpferischer Erkenntnismittel
und Intuitionen sowie sekundärer Kategorien (Kant). Wir beobachten also niemals
völlig "von außen", neutral, unabhängig, absolut objektiv
(allgemeingültig). Dies leugnen zu wollen wäre müßig, zumal jeder Mensch im
alltäglichen Leben ständig Wertungen, die ein Mindestmaß
schöpferisch-existentieller Zugabe enthalten, bewußt wahrnehmend vollzieht und
vollziehen muß, will er überhaupt irgendeine Beziehung aufbauen, und dies also
eine an sich selbst zu beobachtende existentielle Realität darstellt. Dennoch
ist auch die Beobachtung "von außen" ein realer Erkenntnisvollzug,
aber er ist relativ-sekundär, bedarf eben ursprünglicher Erkenntnismittel, die
er entfremdend gebraucht. Die objektivierende Erkenntnisweise ist solch ein
Erkenntnisvollzug. Dominierend ausgeübt durch ein Form-Subjekt wird die
objektivierende Erkenntnisweise als Herrschaftsmittel mißbraucht.
Es geht in der Tat darum, den überheblichen,
machtbeflissenen, fetischorientierten "... 'Standpunkt ab extra'..."
(Niklas Luhmann) aufzuheben. Aber wie? Die Antwort darauf bleibt uns Robert
Kurz schuldig. Er kommt über eine "negatorische" "praktische
Selbstaufhebung des Beobachters" nicht hinaus. Was kommt, soll erst noch
geschaffen werden - das sehe ich auch so, aber es geht nicht ohne die
authentische Persönlichkeitswahrnehmung des Menschen, ohne die dieser ein Blatt
im Wind wäre, abhängig von den vagen "Inhalten", die laut Kurz'
"radikaler Kritik" jedoch auch keinen "apriorischen
Maßstab" darstellen dürfen. Wohin soll das führen - in ein allgemeines
Chaos ›menschlichen Zusammenlebens‹, ›menschlicher Erkenntnis‹?
"Die dritte Bestimmung des Subjekts, die erst
in der okzidentalen Warengesellschaft voll hervortritt, müßte von daher lauten:
Ein Subjekt ist ein Aktor, der strukturell männlich bestimmt ist.
Von den bisher gewonnenen Bestimmungen aus ist dann
auch der Begriff der Herrschaft reformulierbar. Die Subjektlosigkeit der
Herrschaft ist die Subjektlosigkeit der Form des Subjekts, die einen
objektivierten, zwanghaften Wahrnehmungs- und Handlungsbezug konstituiert. In
diesem Bezug werden Natur und andere Subjekte (in spezifischer Weise die Frau
als Quasi-Natur) zu Objekten herabgesetzt, aber eben nicht aus der Willens-Subjektivität
des erscheinenden Ich-Bewußtseins heraus, sondern aus der Bewußtlosigkeit
seiner eigenen Form. Dieser Zwangscharakter, der sich in Herrschaft
niederschlägt, d.h. in Repressionshandlungen, erfaßt aber nicht nur den
Außenbezug des Subjekts, sondern notwendig auch seinen Selbstbezug. Denn da die
Fremdheit des Wahrnehmungs- und Handlungsbezugs die Fremdheit des Eigenen ist,
d.h. die Fremdheit (Bewußtlosigkeit) der eigenen Form, kann das Subjekt sich
auch selber nicht in seiner Ganzheit wahrnehmen, sondern bleibt auf das
fetisch-konstituierte erscheinende Ich-Bewußtsein beschränkt. Ein erheblicher
Teil seiner selbst muß ihm also ebenfalls zur 'Außenwelt' werden; der
Selbstbezug wird zu einer Erscheinungsform des Außenbezugs. Genauer gesagt: das
von der bewußtlos konstituierten Bewußtseinsform ausgehende Wahrnehmungsdiktat
erfaßt auch das 'Selbst' des Subjekts insoweit, als es sich zu sich selbst als
Möglichkeit der Formreproduktion (als warenförmiger Gegenstand) verhalten muß
und die eigenen Befindlichkeiten und Fähigkeiten etc. unter diesem Aspekt
objektiviert. Das Subjekt muß sich also auch selber objektivieren und 'selbst
beherrschen' im Namen seiner bewußtlosen eigenen Form, bis hin zur Zurichtung
des eigenen Körpers, der der reinsten und entwickeltsten Fetisch-Form des
warenproduzierenden Systems buchstäblich zur äußerlichen Körper-Maschine
herabgesetzt wird. Wir können also eine vierte Bestimmung des Subjekts geben:
Ein Subjekt ist ein Aktor, der sich selbst zur Außenwelt wird und sich damit
selbst objektiviert." (204/205 SH)
Wenn Kurz die "dritte Bestimmung" auf ein
Form-Subjekt einschränken würde, das "erst in der okzidentalen
Warengesellschaft voll hervortritt," so könnte sie "von daher
lauten": Ein Form-Subjekt "ist ein Aktor, der strukturell männlich
bestimmt ist." Das authentische Subjekt dagegen ist in seiner Tiefe
androgyn veranlagt, kann vor allem auch deshalb ganzheitlich-einfühlsam
geschlechterübergreifend transzendieren. Von der eingeschränkten "dritten
Bestimmung" aus wäre "dann auch der Begriff der Herrschaft"
formulierbar. Man kann zustimmen, daß die Form des Form-Subjekts subjektlos ist
und Herrschaft ermöglicht. Aber die Form an sich ist nicht in der Lage,
Herrschaft aktiv zu motivieren, sondern tritt sekundär nur über primäre schöpferische
Kräfte und Willenskräfte in Erscheinung, die von der starren, wesentlich
unlebendigen Form in bestimmte Bahnen gelenkt werden, "die einen
objektivierten, zwanghaften Wahrnehmungs- und Handlungsbezug
konstituierten", der jedoch immer wieder auf einen Rest inneren
Widerwillens der Persönlichkeit gegen Selbstentfremdung stoßen kann bzw. stößt,
ein Widerwillen, der durch die schöpferisch transzendierende Selbsterkenntnis
im Akt des Handelns hervorgerufen wird, auch wenn die Selbsterkenntnis dabei
nur eine äußerst schwache ist. "Bewußtseinsform" und schöpferische
Kräfte des Menschen bilden für den "zwanghaften Wahrnehmungs- und
Handlungsbezug" eine unheilvolle Liaison. Kurz dagegen will den
Objektivierungszwang auf eine Ursache zurückführen, nicht auf die "Willens-Subjektivität
des erscheinenden Ich-Bewußtseins", sondern auf die "Bewußtlosigkeit
seiner eigenen Form". Er distanziert sich somit in
"negatorisch"-monistischer Weise vom Subjekt, welches für ihn nur in
Verbindung mit der Form existieren kann, und befürwortet seinerseits eine
subjektlose "gesellschaftliche Selbst-Bewußtheit" (210 SH), die aus
pantheistischer Sicht alles oder aus buddhistischer nichts sein kann. Das
"...'Selbst' des Subjekts", ein ›Selbst‹, das vom außenbezüglichen
"Wahrnehmungsdiktat" der "bewußtlos konstituierten
Bewußtseinsform" erfaßt wird, wird durch ein ›Selbst‹ ersetzt, das nur
noch in einer ebenfalls außenbezüglichen "gesellschaftlichen
Selbst-Bewußtheit" erscheinen kann, sofern ein personal-subjektives apriorisches
Selbst nicht in Frage kommt. D.h., auch die "gesellschaftliche
Selbst-Bewußtheit" hat somit ein "Wahrnehmungsdiktat", und zwar
den gesellschaftlichen "Außenbezug".
Wenn ich nun die "vierte Bestimmung" auf
ein Form-Subjekt einschränke, so lautet sie: Ein Form-Subjekt "ist ein
Aktor, der sich selbst zur Außenwelt wird und sich damit selbst
objektiviert". Die "Fremdheit (Bewußtlosigkeit) der eigenen
Form" gegenüber kann jedoch immer wieder durch den Widerwillen der
originären Persönlichkeitswahrnehmung durchbrochen werden, die gegenläufig das
Form-Subjekt ganzheitlich-bewußt erfaßt und zu überwinden trachtet. Nur reicht
diese innere Motivation allein nicht aus, sondern muß durch eine radikale
Kritik der komplexen gesellschaftlichen Fetischverhältnisse gestärkt werden, eine
Kritik, die geistig immer wieder zu erarbeiten ist, um letztlich auch
gemeinschaftlich handeln zu können.
"... versuchen die jüngeren und elaborierteren
Ansätze der Tatsache Rechnung zu tragen, daß die 'Beherrschten' auch selber zur
Herrschaft beitragen, sogar sich selber gegenüber Herrschaftsfunktionen
ausüben.
Der primitivste Erklärungsversuch besteht in den
diversen Varianten der 'Manipulationstheorie', der zufolge die 'Herrschenden'
mittels äußerer Bewußtseinskontrolle durch Religion (vgl. dazu die alt-aufklärerische
Vorstellung vom 'Priesterbetrug') und heute durch Medien, Werbung,
'Lügenpropaganda' usw. die 'Beherrschten' in ihrem Bewußtsein manipulieren und
sie dazu bringen würden, gegen ihre 'eigentlichen' Interessen zu handeln."
(205 SH)
Wenn man Kurz' Kritik nicht auf das Subjekt in
seinem ganzheitlichen Umfang, sondern auf das spezielle relative Form-Subjekt
anwendet, gewinnen seine Aussagen an Überzeugungskraft. Von daher ist zu
bestätigen, "daß die 'Beherrschten' auch selber zur Herrschaft beitragen,
sogar sich selber gegenüber Herrschaftsfunktionen ausüben". Aber es hat
sich dennoch eine subtile "Manipulations"-maschinerie und
"Bewußtseinskontrolle" herausgebildet, die eben nicht einfach nur
realitätsferne primitive Ideologien von ›oben‹ nach ›unten‹ in die Bevölkerung
streuen, wie dies z.B. in den ehemaligen Gebieten des staatskapitalistischen
Sozialismus oft geschah. In der kapitalistischen Moderne beherrschen sich die
Menschen auch selbst, wie Kurz richtig feststellt, jedoch indem sie sich aktiv
manipulieren (über die Medien etc.) und ihr veräußertes Leben verklären, diesem
einen scheinqualitativen Anstrich verleihen, der keine reale Tiefe hat. Der
›Westmensch‹ will eingelullt werden, damit die Ängste vor den kommenden
Konsequenzen des ›Kapital-Verbrechens‹ das ›schöne Leben‹ nicht belasten. Er
will sich nicht denkerisch, kritisch mit seiner Situation auseinandersetzen.
Eigentlich geht ihm die ›Muffe‹ angesichts der drohenden ökologischen
Katastrophe. Da kommt ihm die mediale Verdrängungskunst sehr entgegen. Die
allzeit präsente Werbung ist bunt und suggeriert ihm eine heile Welt, so wie er
es seit Jahren, ja ein Leben lang gewohnt war. Damit verbindet der moderne
Mensch auch Sicherheit - ein existentielles Grundbedürfnis, das unaufhörlich in
perverse Bahnen gelenkt wird und so seinen Dienst im Sinne der ›erforderlichen‹
Systemfunktionalität erfüllt. Warum sollte man die selbstgemachte
fetischorientierte bzw. systemfunktionale Berichterstattung, von deren
Richtigkeit und Tiefgründigkeit oft auch die ›Macher‹ selbst völlig überzeugt
sind, nicht als "Lügenpropaganda" bezeichnen? Kann man nur das als
"Lügenpropaganda" bezeichnen, was bewußt berechnend, bewußt
heuchlerisch und zum Teil zynisch konzipiert wird wider besseren Wissens? Aber
auch diese Art "Lügenpropaganda" gibt es heutzutage. Und es gibt
ebenfalls Menschen, die lieber entsprechend "ihrer eigentlichen
Interessen" handeln würden, aber durch einschüchternde
"Lügenpropaganda" in fetischorientierender Weise kontrolliert werden.
Dies ist eben die kapitalorientierte Kontrolle über die vom Menschen bewußt
erlebten Ängste - eben "Bewußtseinskontrolle" -, indem man gezielt
die Ängste schürt und diese für eigene Zwecke mißbraucht. Auch wenn die
sogenannten "Herrschenden" teilweise/größtenteils von der moralischen
Richtigkeit ihres machtausübenden Fetisch-Handelns überzeugt sind, so
unterziehen sie dennoch die in der Machthierarchie weiter unten stehenden
sogenannten "Beherrschten" einer entsprechenden Kontrolle, um
letztlich die Ordnung zu schützen, die entweder das eigene bequeme ›Leben‹ im
Gegensatz zum Leben der relativ "Beherrschten" oder aber das gewohnte
und so gewollte asketische ›Leben‹, das fetischverhaftete Erfolgsstreben
absichern soll usw. usf. Wenn sich sowohl die "Herrschenden" als auch
die "Beherrschten" im starken Maße ihrer Fremdbestimmung nicht bewußt
sind, so vor allem deshalb, weil sie ihrer geschwächten
Persönlichkeitsintuition keinen Raum lassen, damit diese entscheidend wirksam
werden, damit sie dazu beitragen kann, ein entsprechendes Bewußtsein zu
entwickeln. Aber dennoch, in Momenten nehmen heutzutage schon mehr Menschen ihr
Leben als ein partiell fremdgesteuertes bewußt wahr und sind zumindest davon
genervt und äußern dies auch.
"Die 'Herrschaft des Menschen über den
Menschen' ist also nicht im kruden subjektiv-äußerlichen Sinne zu verstehen,
sondern als umfassende Konstitution einer zwanghaften Form des menschlichen
Bewußtseins selbst. Innere und äußere Repression liegen auf derselben Ebene von
bewußtloser Codierung. Die Herrschaft von Traditionen, Militär- und
Polizeigewalt, bürokratische Repression, 'stummer Zwang der Verhältnisse',
Verdinglichung und Selbstverdinglichung, Selbstvergewaltigung und
Selbstdisziplinierung, geschlechtliche und rassistische Unterdrückung und Selbstunterdrückung
usw. sind nur Erscheinungsformen ein- und derselben fetischistischen
Bewußtseins-Konstitution, die ein Netz von 'Macht' und damit von Herrschaft
über die Gesellschaft legt. Die 'Macht' ist nichts anderes als das allgemeine,
alles durchdringende Fluidum der Fetisch-Konstitution, die innerlich wie
äußerlich immer schon vorgefundene Erscheinungsform der eigenen
Form-Unbewußtheit." (206 SH)
"Die 'Herrschaft des Menschen über den
Menschen'..." kann nicht einzig und allein auf eine "Ebene von bewußtloser
Codierung" zurückgeführt werden, die an sich keine Herrschaft ausüben
kann, sondern nur sekundär ermöglicht. D.h., Herrschaft hat tiefere, komplexere
Ursachen. Sie beruht in Wechselwirkung mit den fortschreitenden
gesellschaftlichen Fetischverhältnissen auf einer spezifischen Schwächung des
Persönlichkeitssubjekts und der partiellen Überantwortung und pervertierenden
Anpassung ihrer schöpferisch-geistigen Kräfte an ein fetischorientiertes
Form-Subjekt. Das gilt für das Leben eines jeden einzelnen Menschen, der sich
jeweils unterschiedlich der Herrschaft beugt oder ihr widersteht. Das
Form-Subjekt kann wesentlich nur durch die existentiellen Hintergrundkräfte des
Menschen aktiv werden. Und nicht alle Hintergrundkräfte des Menschen tragen
einen schöpferisch-ethischen Charakter. Gerade des Menschen destruktive Momente
treten in einer geschwächten Persönlichkeit verstärkt hervor, Momente, die
überhaupt in des Menschen Freiheit zum Guten und Bösen angelegt sind, eine
Freiheit, die dem Menschen ursächlich eigen ist, über deren Ausrichtung und
Wirksamkeit aber nicht von einer höheren Macht im vorhinein entschieden wurde.
Es obliegt primär dem jeweiligen Menschen, in seinem Leben entweder vorwiegend
mutig, schöpferisch-ethisch, authentisch-persönlichkeitsbezogen oder destruktiv
zersetzend und pervertierend, geistig rückwärtsgewandt und starr,
hinnehmend-angepaßt zu handeln. Letztere Variante geht meist einher mit den
allzumenschlichen destruktiven Eigenschaften wie Neid, Eifersucht, (Fremden-)
Haß, Rache, Mißgunst, Mitleidlosigkeit und Kälte, Härte und Gewalt, die auch im
"kruden subjektiv-äußerlichen Sinne" zum tragen kamen und kommen.
Manchmal erfordern die Umstände natürlich eine relative äußere Anpassung, eine
Hinnahme der Zwänge, die einem konsequenten Widerstehen vorzuziehen sind, weil
letzteres sinnlos wird, wenn dadurch noch mehr Leiden erzeugt wird. Ein anderes
Mal wiederum darf man dem Anpassungszwang nicht nachgeben, weil dies mit den
wahren menschlichen Werten in keiner Weise vereinbar ist. Aber entscheidend ist
letztlich, daß jeder Mensch aus der Situation heraus schöpferisch sein Handeln
bestimmen muß, sofern er sich zu seinem echten Gewissen bekennt, welches in
seiner ursprünglichen Kraft unbestechlich ist. Wie der einzelne Mensch handelt,
das ist primär von der Stärke und Höhe seines Persönlichkeitsbewußtseins,
seines umfassenden integralen Geistes abhängig, der sich einer nicht immer
leicht durchschaubaren Welt zu stellen hat. Und es geht hierbei nicht um einen
zwanghaft zu erringenden Erfolg. Der Erfolgszwang gehört einer
fetischorientierten Welt, einem Götzenbewußtsein an.
Es wird für das Leben der Menschen jedoch niemals
eine perfekte Lösung geben, da das Leben ansonsten zum absoluten, tödlichen
Stillstand käme. Es gilt die Welt von unnötigen, geist- und lebensverhindernden
Leiden zu befreien, damit wir die Wahrheit des Lebens realisieren können in der
schöpferisch zu erringenden Einheit von Geist und Wirklichkeit. (Siehe auch das
Buch: N. Berdjajew, Geist und Wirklichkeit.) Doch auch ein von unnötigen Leiden
befreites Leben wird von Tragik begleitet sein. Dazu noch einmal folgendes
Zitat:
››So sieht sich der Mensch manchmal verpflichtet und
innerlich gezwungen, einer Liebe zu entsagen, die er als höchsten Wert und
höchstes Gut auffaßt, im Namen eines Wertes, der zu einer anderen geistigen
Lebenssphäre gehört, im Namen etwa der zutiefst erlebten geistigen Freiheit
oder der familiären Beziehungen, oder endlich aus Mitleid zu anderen Menschen,
denen seine anders gerichtete Liebe Leiden bringt. Oder aber umgekehrt: der
Mensch kann den zweifellosen Wert seiner geistigen Freiheit und seiner Berufung
in dieser Welt, der Familie und Mitleides zu seinen Mitmenschen zugunsten des
unendlichen Wertes der Liebe zum Opfer bringen. Entscheidend ist dabei, daß kein
Gesetz und keine Norm den auf diese Weise entstandenen Wertkonflikt des sittlichen
Willens zu lösen verhelfen können. Der tragische Wertkonflikt appelliert an die
menschliche Freiheit; seine Lösung vollzieht sich
durch die schöpferische sittliche Tat.‹‹ (Berdjajew,
N.: Von der Bestimmung des Menschen, Gotthelf-Verlag, 1935, Bern-Leipzig, S.
212)
Der Tod ist
eine wesentliche
existentielle Erfahrung des Lebens, liegt jeder Tragik zugrunde und fordert die
Liebe und Freiheit heraus. Jedes Leiden mahnt uns an den Tod, den es im Leben
fortlaufend zu überwinden gilt z.B. in Gestalt unmenschlicher
Lebensverhältnisse, als abgetötete mechanische Geistesverfassung, Apathie,
menschliche Destruktivität, die mit einer annähernd fetischfreien
Gesellschaftsstruktur allein nicht zu bewältigen ist, da die Möglichkeit zur
Destruktivität primär und potentiell in der Freiheit des geistigen Menschen
verwurzelt ist und dem Menschen im Leben eine persönlich schöpferische Antwort
abverlangt. Auch die Depressionen, die mit Zweifeln am Sinn des Lebens, an der
eigenen Existenz einhergehen, kehren gelegentlich wieder, bedürfen ebenfalls
einer schöpferischen Antwort, die vor allem auch über eine innere Kontemplation
gewonnen werden kann, die als ein kräftesammelndes Hauptmoment zum Leben dazugehört,
die das Leben der Menschen fortlaufend stützt und von ihnen gepflegt werden
muß. Auch im oben beschriebenen Wertekonflikt (Zitat: Berdjajew) tritt der Tod
in der Form des zu erbringenden Opfers an uns heran, offenbart uns die Grenzen
der Vereinbarkeit der verschiedenen ››geistigen Lebenssphären‹‹. Die Liebe
selbst ist in der Tiefe mit dem Tod verbunden. Mit der konkreten Liebe geben
wir die wahrhaftigste Antwort auf den Tod: dessen fortlaufende schöpferische
Überwindung im Leben. Gerade deshalb ist Liebe immer auch ein schöpferisches
(freiheitliches) Leiden für die Liebe - dies ist eine ursprüngliche Erfahrung
des existentiellen Lebens. In der konkret erlebten Liebe finden wir im
Durchgang durch eine Welt der Grenzen, der Enge, der Notwendigkeiten, der
Entartungen wie des Hasses, der eine zur Destruktivität neigende, äußerst
zwiespältige Mischung aus Liebe und Tod darstellt, der tendenziellen Erstarrung
und somit des tendenziellen Todes zu einer Welt der Freiheit, der
Schöpferkraft, der Wahrheit, der Fülle und Freude des Lebens. Doch die duale
Komponente des Lebens, wie das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit, ist
nicht absolut überwindbar; deshalb bleibt das Leiden ein wesentliches Moment
der Liebe, die gerade auch dadurch fortlaufend an unermeßlicher Tiefe bzw. Höhe
gewinnt, was auch existentiell so erlebt wird. Jede Liebe zu einem anderen
Menschen ist ein Leiden um ihn angesichts der Widrigkeiten, die das Leben
zuweilen unerträglich erschweren. Man möchte den Geliebten vor den Widrigkeiten
des Lebens schützen, ihn davor bewahren. In der Liebe gelangen die einander
Liebenden in das Reich der Freiheit, das in Augenblicken frei vom Leiden, das
eine Vereinigung der Liebenden in Freude und Seligkeit sein kann, und dennoch
leidet der jeweilig Liebende um den Geliebten angesichts dessen unlösbarer
Verstrickung in eine Welt der Notwendigkeiten und des Todes. So wünscht sich
der Liebende die Ewigkeit für den Geliebten, die es auf Erden nicht geben kann.
Der Tod ist des Menschen unvermeidliches Schicksal. Der Tod des geliebten
Menschen kann vom Liebenden in der Tiefe seines Herzens dennoch nicht einfach
so hingenommen werden; der schmerzliche Verlust bleibt bestehen, auch wenn
dieser sich im weiteren Verlauf des Lebens abschwächen sollte. Auch der Verlust
eines Tieres kann uns in dieser Hinsicht schwer treffen. Dies weist darauf hin,
daß die persönliche Liebesbeziehung zu einem anderen, liebesbedürftigen Wesen
von allerhöchstem existentiellen Wert für uns Menschen ist. Es geht letztlich
um den schöpferisch liebenden Menschen, der in einem jeden Menschen zu wecken
ist. Und dies wiederum kann wesentlich nur mit schöpferisch getragener Liebe
und nicht mit Macht und kalkulierter Gewalt geschehen.
Noch einmal: "Die Herrschaft von Traditionen,
Militär- und Polizeigewalt, bürokratische Repression, 'stummer Zwang der
Verhältnisse', Verdinglichung und Selbstverdinglichung, Selbstvergewaltigung
und Selbstdisziplinierung, geschlechtliche und rassistische Unterdrückung und
Selbstunterdrückung usw. sind" eben nicht "nur Erscheinungsformen
ein- und derselben fetischistischen Bewußtseins-Konstitution, die ein Netz von
'Macht' und damit von Herrschaft über die Gesellschaft legt." Die Menschen
müssen aktiv, unter Einbindung schöpferischer Potenzen, die Herrschaft, die
Macht willentlich zum ›Leben‹ erwecken. Der pervertierte Machtwille setzt
seinerseits eine fetischorientierte Disziplinierung des Menschen und die
Einengung, Verdrängung, Schwächung seiner Persönlichkeit voraus. Die
"Macht" wird somit aus einer unheilvollen Liaison des sekundären,
"allgemeinen, alles durchdringenden Fluidums der
Fetisch-Konstitution" und seines Form-Subjekts mit den ursprünglicheren
schöpferischen und den ungezügelten, unbewältigten destruktiven Kräften des
Menschen gebildet, wobei sich eigens die destruktiven Kräfte auf diese Weise
bis zum unmenschlichsten Exzeß austoben können.
"Der Herrschaftsbegriff ist insofern nicht
einfach zu verwerfen, um an seine Stelle den Begriff der Fetisch-Konstitution
zu setzen, die das Subjekt und seine Äußerungen zur bloßen Marionette
herabsetzen würde. Vielmehr müssen der Begriff der Herrschaft und der Begriff
ihres Mediums 'Macht' als die Begriffe der allgemeinen Erscheinungsform von
Fetisch-Konstitutionen abgeleitet werden, die ihrerseits wieder in verschiedenen
Formen und auf verschiedenen Ebenen praktisch und sinnlich als Spektrum der
Repression bzw. Selbstrepression erscheint. Die dem Bewußtsein unbewußte Form
seiner selbst erscheint als Herrschaft auf allen Ebenen. In Gestalt der
Herrschaft geht das Subjekt als fetischkonstituiertes Wesen real mit sich
selbst und mit anderen um. Die objektivierten Kategorien der Konstitution
bilden dabei das (jeweilige) Muster oder die Matrix der Herrschaft."
(206/207 SH)
Solange Kurz ein "apriorisches Subjekt",
d.h. ein schöpferisches Subjekt nicht anerkennt, kann der Mensch als
"fetischkonstituiertes Wesen", als "Subjekt" nur
"bloße Marionette" sein. Daran ändert sich auch nichts, wenn
"der Begriff der Herrschaft und der Begriff ihres Mediums 'Macht' als die
Begriffe der allgemeinen Erscheinungsform von Fetisch-Konstitutionen abgeleitet
werden". Auch die "Erscheinungsformen" können immer nur auf die
"Fetisch-Konstitution" zurückgreifen, denn laut Kurz ist die
"...'Macht'... nichts anderes als das
allgemeine, alles durchdringende Fluidum der Fetisch-Konstitution".(206
SH)
Kurz verwirft mit seiner Annahme, daß alles auf ein
und dieselbe "Fetisch-Konstitution" in Gesellschaft und Bewußtsein
zurückzuführen ist, automatisch den "Herrschaftsbegriff", der auch
den aktiven, mitverantwortlichen Beitrag des Menschen als ein mit
schöpferischen Kräften ausgestattetes Subjekt beinhalten muß, soll dieser
"Herrschaftsbegriff" nicht sinnlos werden. In bloßer "Gestalt
der Herrschaft" kann kein "Subjekt als fetischkonstituiertes Wesen
real mit sich selbst und mit anderen" umgehen. Denn "Herrschaft"
als "allgemeine Erscheinungsform" der
"Fetisch-Konstitution" muß mit schöpferischen Kräften quasi gefüttert
werden, hat ein tieferes Subjekt zur Grundlage, um erscheinen zu können.
"Wenn das warenproduzierende System heute in
seine absolute Krisenreife eintritt, spitzt sich der Selbstwiderspruch der
Fetisch-Konstitution notwendig bis zur Unerträglichkeit zu. Nicht die
wohlgefällige Auflösung in Meta-Erkenntnis ist die Folge, sondern das
Zurückschrecken vor dieser Meta-Erkenntnis, die Furcht vor der Subjektauflösung
und das bis zum brüllenden Wahnsinn gehende Sichfestkrallen an den Codierungen
der bewußtlosen Bewußtseinsform. Unter diesen Bedingungen verdichtet sich die
'Macht' noch einmal extrem. Die äußere Repression der Staatsgewalt und der
bürokratischen menschenverachtenden Krisenverwaltung verdichtet sich ebenso wie
die wechselseitige Ausgrenzungskonkurrenz und die offene Gewalt auf den Ebenen
der Kriminalität, des politischen bzw. pseudopolitischen und rassistischen oder
ethnizistischen Hasses und der Geschlechts- und Erziehungsverhältnisse;
der 'stumme Zwang' der fetischistischen Erfolgskriterien verdichtet sich wie
die Selbstrepression der ihm blindlings folgenden Individuen." (207
SH)
Jawohl, "wenn das warenproduzierende System
heute in seine absolute Krisenreife eintritt", ist "nicht die
wohlgefällige Auflösung in Meta-Erkenntnis... die [automatische - D. H.] Folge,
sondern das Zurückschrecken vor dieser Meta-Erkenntnis". Dies stimmt mit
der zu beobachtenden gesellschaftlichen Realität überein. Wie oben schon
angesprochen, spielen hierbei existentielle Ängste wie Verlustängste etc. eine
große Rolle. Ich kann auch zustimmen, daß es sich dabei um "die Furcht vor
der Subjektauflösung und das bis zum brüllenden Wahnsinn gehende
Sichfestkrallen an den Codierungen der bewußtlosen Bewußtseinsform"
handelt. Jedoch schränke ich "die Furcht vor der Subjektauflösung"
auf eine Furcht vor der Form- bzw. Rollen-Subjekt-Auflösung ein und stelle die
Relativität der untergeordneten, wenn auch massiv durchschlagenden,
"Codierungen" und einer "bewußtlosen Bewußtseinsform"
heraus. Und die mit Leiden verbundene "Selbstrepression" ist nur
möglich, wenn dieses Selbst mehr und tiefer ist als das relative Form-Subjekt,
wenn zumindest ein Rest authentischer Selbstbeobachtung mir einen Schimmer von
der jeweiligen Selbstrepression offenbart und dies vor allem in
intuitiv-emotionaler Weise in begleitender Verbindung mit Verstandeskräften,
die die Intuitionen logisch untermauern, die zur ganzheitlichen Erkenntnis als
ein integraler Akt der Persönlichkeit immer dazugehören. Nur ein Mensch ohne
jegliches authentisches subjektives Empfinden und Denken, ohne authentischen
Willen, obwohl er so gar nicht existieren könnte, wäre bis zum völligen
Untergang der Fetischverhältnisse und somit seiner selbst ein absolut
willfähriges Glied im kapitalistischen Funktionssystem und würde auch gar nicht
im Widerspruch zu den gesellschaftlichen Fetischverhältnissen stehen. Zuweilen
mag es Menschen geben, die über einen längeren Zeitraum dieser Willfährigkeit
nahezu entsprechen, aber sie sind in diesem Zeitraum auch am wenigsten Menschen
im eigentlichen Sinne, d.h. als freie, liebende, selbstwahrende und integral
selbstbestimmte Wesen. Letztlich kann kein Mensch einer absolut fremdbestimmten
Willfährigkeit verfallen, da dies die absolute Nichtexistenz des Menschen in
jederlei Hinsicht bedeuten würde. Absolute Willfährigkeit und Existenz des
Menschen schließen sich gegenseitig aus.
"Aber perverser noch und grauenhafter wäre das
Hinübergleiten des warenproduzierenden Systems in die sekundäre Barbarei, wie
es heute bereits in vielen Erscheinungen zu beobachten ist.
'Barbarei' ist natürlich eine Metapher für ein
Geschehen, das noch keinen anderen Begriff hat. Das Wort hat einen
eurozentrischen Ursprung, es wurde immer wieder im Kontext europäischer
Denunziation von nichteuropäischen und vormodernen Gesellschaften benutzt.
Dabei ging es um die Herabsetzung anderer Kulturen. Jetzt aber muß dieser
Begriff auf die von Europa ausgehende Formation des warenproduzierenden Systems
selbst angewendet werden, und in diesem Kontext kann seine Verwendung
gerechtfertigt werden. Trotz ihrer äußeren Überlegenheit hatte die westliche
Gesellschaft schon in ihren historischen Durchsetzungsschüben beispiellose
Potentiale der Barbarisierung freigesetzt; vom Dreißigjährigen Krieg über die
Geschichte des Kolonialismus und der ursprünglichen Akkumulation bis zur
Weltkriegsepoche und zu den heutigen sozialen und ökologischen Zerstörungen
zieht sich eine Spur der Barbarei durch die Modernisierung, die aber immer
wieder durch zivilisatorische Errungenschaften kompensiert oder sogar
zeitweilig abgelöst wurde. Diese Doppelgesichtigkeit der westlichen Moderne
findet jetzt ihr Ende." (212 SH)
Es sei dahingestellt, wie schnell die
"Doppelgesichtigkeit der westlichen Moderne... ihr Ende (findet)".
Auf jeden Fall ist die Gefahr sehr groß, daß das "warenproduzierende
System in... (eine) sekundäre Barbarei (hinübergleitet)". Und wenn dies
weiterhin ein schleichender Prozeß ist, der über einen längeren Zeitraum den
Menschen die Möglichkeit läßt, sich den unerträglicher werdenden
›Lebens‹-bedingungen immer wieder und immer noch bis hin zur Schmerzgrenze
anzupassen, wird eine sogenannte "sekundäre Barbarei" in einem noch
umfassenderen Ausmaß immer wahrscheinlicher. Denn der Mensch verliert mit
fortdauernder Anpassung mehr und mehr sein authentisches menschliches Antlitz.
Aus seinem inneren Chaos heraus ist der Mensch ziemlich hilflos und zu keiner
ganzheitlichen schöpferischen, zu keiner gemeinschaftlich orientierten
Verantwortlichkeit in der Lage, durch die allein er eine adäquate Antwort auf
das äußere Desaster zu geben vermag. Dennoch, der Mensch als leidendes Wesen
wird und kann sich mit seiner auch selbstverursachten Blindheit, mit seinem
auch selbstverursachten Chaos niemals abfinden, wird, solange er lebt, gegen
dieses und die entsprechenden menschenunwürdigen Verhältnisse ankämpfen. Selbst
eine "sekundäre Barbarei" hat keinen ewigen Bestand, kann sich jedoch
über einen langen Zeitraum hinziehen, da schon die ökonomischen Gewohnheiten
und Automatismen einen Ausweg massiv erschweren. Letztlich wird der Mensch
entweder gestärkt aus seinem Leidensprozeß hervorgehen oder untergehen, wenn er
an einer aufwendigen, zuweilen äußerst verbrecherischen Leidensverdrängung
festhält und immer nur daran unendlich leidet, daß er leidet, aber das Leiden
selbst nicht annehmen will als eine im konkreten Bezug jeweils
schöpferisch-ethisch zu bewältigende existentielle Realität, die zum
ganzheitlichen Leben ursächlich dazugehört. Leiden am Leiden ist dunkles,
böses, unschöpferisches Leiden. Ein Mensch, der so leidet, ist immer bestrebt,
dieses Leiden anderen personalen Wesen aufzubürden, es an ihnen abzureagieren,
um es loszuwerden. Und dieses mitleidlose Bestreben kann zuweilen
grausam-tyrannische, ja exzessiv-perverse Züge annehmen. Ich persönlich halte
aber eine Leidensverdrängung letztlich für begrenzt und glaube an den
schöpferisch-ethischen Lebensfunken im Menschen, einen Funken, der in einem
jeden Menschen waltet und nicht gänzlich ausgelöscht werden kann, solange der
Mensch lebt.
"Am Ende ihres Entwicklungswegs und ihrer
Durchsetzungsgeschichte angelangt, produziert die totale Warenform entmenschte,
abstraktifizierte Wesen, die noch hinter das Tier zurückzufallen drohen. Die
Entkoppelung von der ersten Natur bleibt bestehen, aber die letzte und höchste
Fetisch-Konstitution der allgemeinen Warenform droht in ihrem objektivierten
Zusammenbruch eine regel- und steuerlose Menschen- und Weltverachtung
hervorzubringen. Die Entkoppelung von der zweiten Natur kann auch negativ
geschehen, als blinde und suizidale Enthemmung, die aus der zunehmenden
Reproduktionsunfähigkeit des Regelwerks der Warengesellschaft resultiert. Das doppelt
enthemmte und von der ersten wie von der zweiten Natur entkoppelte Wesen, das
gleichwohl in blinder Selbst-Bewußtlosigkeit verharrt, muß ekelhafte und
perverse Züge annehmen, für die kein Vergleich aus dem Tierreich mehr taugt.
Die Anfänge dieses kulturellen Zusammenbruchs sind weltweit bereits sichtbar,
und nicht zufällig treten sie vor allem als moralische und kulturelle
Verwahrlosung einer wachsenden Anzahl von Jugendlichen in Erscheinung. Das
konservative Fetisch-Bewußtsein unter Einschluß der sogenannten Linken will
diese gesellschaftliche Verwüstungspotenz der eigenen Bewußtseins- und
Reproduktionsform nicht wahrhaben und scheitert mit seiner schwächlichen
und heuchlerischen Ethik-Kampagne, die das konstitutive Zentralmoment des
Barbarisierungsprozesses, die gesellschaftliche Warenform selber, unangetastet
lassen will. So steht also die Entscheidungsfrage am Ende der Moderne noch
unentschieden, aber die Zwänge aus Krise und Zusammenbruch wachsen unaufhaltsam
an." (213/214 SH)
Es stimmt: Für die "ekelhaften und perversen
Züge" des entfremdeten Menschen "(taugt) kein Vergleich aus dem
Tierreich mehr". Es ist sogar so, daß dieser Vergleich generell hinkt und
nicht taugt. Die Destruktivität des Menschen ist etwas vorher noch nie Dagewesenes.
Aber nach der "radikalen Kritik" von Robert Kurz bleibt eigentlich
kein anderer Ausweg übrig, als daß "die letzte und höchste
Fetisch-Konstitution der allgemeinen Warenform... in ihrem objektivierten
Zusammenbruch eine regel- und steuerlose Menschen- und Weltverachtung
hervorbringt", d.h., daß die Destruktivität des Menschen den
entscheidenden Sieg davonträgt. Denn Kurz weiß dem allgemeinen Zerfall nichts
Apriorisches entgegenzusetzen. Auch ein rein "negatorischer" Ansatz
an sich kann über eine haltlose und ihrem Wesen nach letztlich unschlüssige
Logik nicht hinauskommen, sofern sie sich nicht klammheimlich apriorischer
Grundannahmen z.B. ethischer Art bedient. Und genau dies tut Kurz indirekt
schon mit der richtigen Feststellung, daß eine "moralische und kulturelle
Verwahrlosung einer wachsenden Anzahl von Jugendlichen (bereits sichtbar)"
wird. Doch möchte Kurz die Gründe hierfür einzig und allein auf eine allgemeine
"Fetisch-Konstitution", einen subjektlosen
"Form"-Mechanismus reduzieren. Den menschlichen Willen als primäre
Kraft klammert er entsprechend seiner Theorie kategorisch aus. Und dabei ist es
ja gar nicht so, daß der menschliche Wille von seinen Ursprüngen her eine
fertige, allgemeingültige, entsprechend einer wie auch immer gearteten
"Form" vorgezeichnete Antwort auf das Leben zu geben vermag, sondern
diese muß konkret im Leben schöpferisch errungen werden. Der menschliche Wille
selbst muß ethisch werden in seiner Bezogenheit, in seinem Transzendieren, dies
verlangt eine in Liebe verbundene Gemeinschaft als Weg und anzustrebendes Ziel.
Die echte Gemeinschaft verlangt, daß innere und äußere Widerstände zu
überwinden sind im Sinne der Liebe, der Freiheit, der existentiell zu
erringenden Wahrheit in einem jeden Menschen. Es gibt keine endgültige
"Entscheidungsfrage" innerhalb des Lebens, der Geschichte des
Menschen, auch nicht "am Ende der Moderne". Es gilt, die Gefahr
entscheidend einzudämmen, daß der Mensch Zeiten großer Dunkelheit,
Mutlosigkeit, Verantwortungslosigkeit, Zeiten des unnötigen Elends und des Verbrechens,
des Verrats seines wahren Selbst verfällt in Überantwortung seines Handelns an
Fremdbestimmung und an das entsprechende Macht- und Erfolgsstreben etc. Doch
heute, am von Kurz prognostizierten "Ende der Moderne", stellt sich
eher die Frage, ob der Mensch wirklich reif für ein selbstbestimmtes Leben im
Sinne von wahrer Gemeinschaft ist. Vielleicht muß er vorher durch eine
"sekundäre Barbarei", in der er sich - global betrachtet - ja schon befindet, hindurch, um
angehalten zu sein, sich endlich konsequent auf sein schöpferisch-ethisches
bzw. ursprünglich religiöses Potential zu besinnen, dieses ganzheitlich zu
entfalten. Aber auch dann wird keine endgültige bzw. absolute Entscheidung
fallen, denn das Leben bleibt immer an eine lebendig-schöpferische Überwindung
von inneren und äußeren Widerständen und Widersprüchen gebunden. Es wird sich
jedoch mit dem Erstarken der leidgeprüften Persönlichkeiten auf einem ganz
anderen, höheren bzw. tiefergehenden authentischen Niveau vollziehen. Je besser
der Mensch seine Geschichte zu bewältigen vermag, um so stärker wird sich sein
Leben auf seine Wesensbestimmung konzentrieren und von dieser ausgehen. Aber
Kurz hat Recht, wenn er quasi sagt, daß es heute um so mehr gilt, der
"gesellschaftlichen Verwüstungspotenz der eigenen Bewußtseins- und
Reproduktionsform" offen ins Auge zu blicken und einer "schwächlichen
und heuchlerischen Ethik-Kampagne, die das konstitutive Zentralmoment des
Barbarisierungsprozesses, die gesellschaftliche Warenform selber, unangetastet
lassen will", energisch entgegenzutreten, wobei ich sage, daß das
"Zentralmoment des Barbarisierungsprozesses" tiefer liegt als in der
sekundären "gesellschaftlichen Warenform selber", und zwar in der
Freiheit des Menschen. Durch eine durch Ängste geschürte, fetischorientierte
Anpassungswut des Menschen, zum Teil entgegen seiner erhofften Absicht, wendet
sich die Freiheit destruktiv und somit paradoxerweise letztlich vernichtend
auch gegen sich selbst. Letzteres geschieht immer nur relativ, denn die
Freiheit als ein Urphänomen, als Ausgangspunkt des Lebens ist unerschöpflich,
wird sich erneut und allezeit wieder erheben, so auch im Menschen als seine
ursprünglichste Wesenskraft, deren Erfüllung bzw. existentielle Wahrheit
wesenhaft in der Liebe erfahren wird. Der Mensch strebt grundsätzlich,
primär-intuitiv nach Liebe, die sich zugleich im Menschen in jedem Augenblick,
unerwartet, ereignen kann und ereignet.
"Das transzendente Ziel sowohl der utopischen
als auch der marxistischen Konzepte war immer die (vermeintliche) Überwindung
des modernen Kapitalverhältnisses durch eine irgendwie andere
abstrakt-allgemeine Form gesellschaftlicher Reproduktion. Genauer gesagt war
dies ein eher selbstverständliches Axiom von Gesellschaftskritik, eine
implizite Annahme, die nicht explizit thematisiert wurde, weil ja das
grundsätzliche Formproblem der allgemeinen Fetisch-Konstitution noch gar nicht
im Reflexionszusammenhang des kritischen Denkens auftauchte." (214 SH)
Kurz' Behauptung, daß das "Formproblem der
allgemeinen Fetisch-Konstitution" "grundsätzlich", d.h.
bestimmend ist als "subjektlose Herrschaft", kann dazu führen, daß
Gesellschaftskritik, die, ohne das sogenannte "Formproblem" im
Prinzip zu übergehen, den Menschen als den primären subjektiven Akteur
jeglicher gesellschaftlicher Verhältnisse ansieht, zumindest leichtfertig
übergangen oder überhaupt nicht wahrgenommen wird. Da Kurz darüber hinaus von
vornherein eine pauschal-abwertende, negierende Haltung gegenüber dem Problem
der Religiosität einnimmt, kann die existentiell-religiös motivierte,
personalistische und gemeinschaftsstiftende Philosophie eines so herausragenden
und einzigartigen Denkers wie Berdjajew, der in äußerst differenzierter und
erkenntnisreicher Weise fundierte Gesellschaftskritik (Marx) mit dem Problem des
zutiefst religiös motivierten Menschen zu verbinden wußte, erst gar nicht ins
Blickfeld geraten. Dies stellt ein großes Manko der sogenannten "radikalen
Kritik" dar. Weiterhin muß Kurz mit seinem vorrangig
"negatorischen" Ansatz automatisch, vorschnell, skeptizistisch
Verdacht schöpfen gegenüber jeglichen weiterreichenden visionären Gedanken über
eine anzustrebende befreite Gesellschafts- und Lebensverfassung der Menschen in
der Zukunft, welche zumindest visionär im Geiste schon immer in der Gegenwart
beginnt. Dabei spricht auch Kurz fortlaufend indirekt von der Zukunft, wenn er
die Vergangenheit und Gegenwart kritisiert. Dies liegt an der authentischen,
intuitiv erfahrbaren Bestimmung des Menschen zur wahren Menschlichkeit, die
jedem Menschen geistig-apriorisch zugrunde liegt, aber nicht als fertige Form,
sondern als ein frei anzunehmender, schöpferisch zu erringender und zu
verwirklichender Inhalt, der jede ernsthafte Gesellschaftskritik mit Leben
erfüllt. Utopien wird es immer geben, solange im Menschen eine mehr oder
weniger starke Unzufriedenheit mit den jeweils knechtenden Lebensverhältnissen
herrscht, die tiefergehend eine Unzufriedenheit mit der jeweils aufgebürdeten
Fetisch-Rolle zum Ausdruck bringt, die die Menschen selbstverleugnend zu
›spielen‹ haben. Doch wenn diese Utopien lediglich auf eine
"(vermeintliche) Überwindung des modernen Kapitalverhältnisses durch eine
irgendwie andere abstrakt-allgemeine Form gesellschaftlicher Reproduktion"
abzielen, sind sie mit Recht kritisch abzulehnen. Worauf es letztlich ankommt
ist, daß die Utopien in Visionen übergehen müssen, die neben einer zu
verändernden "gesellschaftlichen Reproduktion" grundsätzlich den
sinn- und gemeinschaftsstiftenden Menschen in den Mittelpunkt rücken und so in
ein fortlaufend schöpferisch zu verwirklichendes Leben hineingetragen werden,
d.h., daß der Mensch den Utopien das Muster fetischorientierter Verhaftungen,
fremdbestimmter Vorgaben abstreift und nicht mehr danach trachtet, Utopien
starr, mit menschenverachtender Gewalt und Rücksichtslosigkeit, begleitend
motiviert durch Ressentiments wie Neid, Rachegefühle etc., umsetzen zu wollen.
Die Zukunft muß fortlaufend durch authentische, schöpferisch-ethische und
zugleich gemeinschaftliche Schaffenskraft in die Gegenwart geholt und verwirklicht
werden. Und letzteres können die Menschen schon heute, wenn sie jeweils ihre
Persönlichkeit gegenüber den Verführungen und Zwängen des Fetischsystems
stärken und verteidigen. D.h., der Mensch muß schöpferisch die Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft in jedem Augenblick seines Lebens vereinen, was ihm im
heutigen gesellschaftlichen Rahmen besonders erschwert wird, da eine große,
einflußreiche und die Verhältnisse bestimmende Masse von Menschen in
unvergleichlicher Weise einem Fetisch huldigen und deshalb dazu neigen, die
Entstehungsgeschichte entsprechender götzendienerischer Verhältnisse zu glätten
und zu verherrlichen und gleichzeitig die destruktiven Auswüchse dieser
Verhältnisse zu rechtfertigen oder zu verdrängen und die Zukunft grundlegend im
Rahmen dieser Verhältnisse zu planen. Die moderne Fetischorientierung hat das
Band zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in drei zum Teil
gegensätzliche Lebenskonzepte separiert: erstens in einen reaktionären, den
Geldadel und die damit einhergehende Macht verherrlichenden Konservatismus,
zweitens in ein ödes, oberflächlich dahindümpelndes,
spießbürgerlich-mechanisches Sicherheits- und Alltagsbewußtsein und drittens in
einen gehetzten technik-, kapital- und systemorientierten Fortschrittswahn. Es
herrscht ein geistiges Durcheinander, geistige Zersetzung und letztlich eine
geistige Orientierungslosigkeit aufgrund der Verdrängung der im Menschen
verankerten apriorischen Bestimmung zur Realisierung der
gemeinschaftsstiftenden Persönlichkeit, d.h. aufgrund der Verdrängung wahrer,
primär auf authentischer Liebe beruhender gemeinschaftsbezogener
Selbsterkenntnis.
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden durch
das Band des wahren, schöpferischen Lebens miteinander verbunden. Die
Vergangenheit muß im Geiste, durch die gegenwärtige Zukunft, von allen
verherrlichenden, götzendienerisch-verdrängenden Elementen befreit werden und
in der Gegenwart zu neuem Leben erwachen. Dies ist angesichts einer zum Teil
grausamen Vergangenheit vor allem auch ein Akt leidvoller Selbsterkenntnis, die
sich heute über persönlichkeitszersetzende und autistische, Individualismus
fördernde kapitalistische Verhältnisse der sogenannten Moderne erheben muß, die
das Band zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in besonders destruktiv-radikaler
Weise systematisch und ideologisch zerstört. Das neue Leben, das sich auf eine
durch den im Menschen waltenden schöpferischen Geist geläuterte Vergangenheit
stützt, ist zugleich die fortwährende Hereinnahme des schöpferisch-ethischen
Ausflugs, der schöpferisch-ethischen Hoffnung in die zu schaffende Gegenwart
und Wirklichkeit. Die zu befreiende Vergangenheit, ein Akt, der im
personal-gemeinschaftlichen Geist eines jeden einzelnen Menschen zu vollziehen
ist und sich zugleich auf dessen Lebensgrundlagen, sein Wirtschaften und
Kulturschaffen zu erstrecken hat, muß fortwährend zur Gegenwart der Zukunft
werden. Ich bin trotz aller Einwände der Ansicht, daß Robert Kurz hinsichtlich
der Befreiung der Vergangenheit hin zu einer neu zu schaffenden Wirklichkeit
ebenfalls einen sehr wichtigen Beitrag leistet, zumal er in seiner Kritik der
Warengesellschaft und deren geschichtlicher Hintergründe den
"negatorischen" ›Imperativ‹, ohne es einzugestehen, durch seine
fortlaufend auch in die Bewertungen und Urteile einfließende
subjektiv-apriorische Motivation primär stützt und erweitert.
"Die Versuchung ist groß, die sich selbst
bewußt konstituierenden Träger einer zukünftigen Aufhebungsbewegung das
'Subjekt' dieser Bewegung zu nennen, auch wenn es kein apriorisches Subjekt
mehr sein kann, das 'an sich' schon präexistent und hinsichtlich seiner Aufgabe
präpotent wäre. Es würde sich dann um ein nicht-apriorisches,
selbstkonstitutives Subjekt auf derjenigen Ebene handeln, die bisher von der
subjektlosen, unbewußten Form besetzt war. Aber das zu verwerfende apriorische
(d.h. unbewußt konstituierte) Subjekt ist das Subjekt überhaupt. Wenn das
Subjekt entlarvt ist als ein seiner eigenen Form unbewußter Aktor, der sich die
Außenwelt zum Objekt setzen muß, sich dabei selbst objektiviert und strukturell
'männlich' und 'weiß' bestimmt ist, dann kann die Wahrnehmungs- und
Handlungsbewußtheit jenseits der zweiten Natur nicht mehr die Form der
Subjektivität im bisherigen Sinne annehmen, die ihre positive und emphatische
Konnotation verliert. Das zu gewinnende Meta-Bewußtsein über die zweite Natur
hinaus ist keine 'Subjektivität' mehr. Für das immanente Bewußtsein paradox und
provokativ läßt sich somit die historische Aufgabe auf die Kurzformel bringen:
Die Revolution gegen die Fetisch-Konstitution ist identisch mit der Aufhebung
des Subjekts." (220/221 SH)
Robert Kurz will partout das Subjekt aufheben, seine
theoretischen Attacken jedoch wurden geboren aus seiner apriorisch motivierten
leidenschaftlichen Empörung, aus seinem apriorisch motivierten Leiden an einem
über weite Strecken massiv autark und suizidal fortschreitenden
kapitalistischen System, dem die Menschen massenhaft anheimfallen und
anheimgefallen sind. Das Subjekt wird von Kurz auf das Fetischsubjekt im
allgemeinen und das jetzige Warensubjekt im besonderen reduziert, aber er
selbst kritisiert aus der Tiefe seines schöpferisch-ethischen Subjekts.
Gegenüber dem theoretischen Vorhaben ist und bleibt die existentielle Realität
und Praxis seines Wirkens weiterhin primär subjektiv, aber nicht innerhalb
einer oberflächlichen Subjekt-Objekt-Korrelation, sondern aus der Tiefe der
authentischen Subjektdimension seiner Persönlichkeit heraus. Die Aufhebung des
Subjekts an sich würde bedeuten, daß zugleich der Mensch, sein Bewußtsein, seine
existentiell-schöpferisch-ethische Motivation/Intuition aufgehoben werden.
Robert Kurz hat in meinen Augen speziell mit seiner radikalen Subjektkritik
weit über das Ziel hinausgeschossen. Das tat nicht wirklich not, auch wenn die
Systemtheorie (Luhmann), konsequent zu Ende gedacht, diese ›Radikalität‹
nahezulegen scheint. Doch schon die Systemtheorie, die immer nur von einem
untergeordneten, beiläufigen Subjekt ausgeht, welches sich - wie auch immer -
als Teilfunktion ins System einordnet, ist einem Phantom aufgesessen und
letztlich in ihrem Absolutheitsanspruch eine theoretische Kuriosität mit
fatalen Folgen für das Denken und Handeln der von ihr beeinflußten Menschen.
Nichtsdestotrotz, in seinen konkreten theoretischen und leidenschaftlichen
Attacken gegen die Auswüchse der Warengesellschaft und durch seine frische und
bissige Interpretation entstehungsgeschichtlicher Ereignisse des Kapitalismus
widerspricht Robert Kurz auch der Systemtheorie kraftvoll, überzeugend und
anregend provokativ, gerade weil er dabei auf seine primäre (überfunktionale)
subjektive Intuition wahrer Menschlichkeit nicht verzichtet.
[Ich beziehe mich im 2. Teil vorwiegend auf Robert
Kurz' Essay "Tabula rasa - Wie weit soll, muss oder darf die Kritik der
Aufklärung gehen?".]
Selbst wenn Robert Kurz die Sprache neu erfinden
würde, könnte er seinem "negatorischen" Anspruch einem generell von
ihm so bezeichneten "westlichen Aufklärungsdenken" (168 SH)
gegenüber:
"Es gibt nichts zu erben, es gilt etwas
loszuwerden. Und zwar gründlich." (98 Tr)
nicht gerecht werden. Grundsätzliche Fragen, z.B.
erörtert in der Lehre von den Antinomien (Kant: Kritik der reinen Vernunft),
würden mit einer neuen Sprache nicht verschwinden, sondern bestehenbleiben.
Auch wenn die Erkenntnis, daß es keine logisch eindeutige Antwort auf den
Weltzusammenhang gibt, heutzutage als eine Binsenweisheit erachtet wird, so
gründet sie philosophisch eben auf der Lehre von den Antinomien, deren
Herausarbeitung ein Verdienst Kants ist. Und die folgende Thesis stellt eine
Grundwahrheit dar: "Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die
einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden
können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zur Erklärung derselben
anzunehmen notwendig." (Kritik der reinen Vernunft, Reclam Stuttgart,
1998, S. 488) Dennoch müßte weitergehend geklärt werden, was es mit der
"Kausalität durch Freiheit" auf sich hat, die Kurz - sich dabei
offensichtlich beziehend auf Kant - vorschnell als
"sonderbare transzendentale 'Freiheit' "
(Blutige Vernunft: Negative Ontologie, Horlemann 2004, S. 83)
abtut. Berdjajew beruft sich dagegen in seiner
Philosophie auf die Freiheit und hat zur Klärung, Vertiefung und Erweiterung
des entsprechenden kantischen Ansatzes Entscheidendes beigetragen. Obwohl ich
hier nicht die Absicht habe, Kants Philosophie kritisch zu diskutieren, zumal
dies meine Kräfte bei weitem übersteigen würde, erlaube ich mir die
Feststellung, daß man Kant mit Gewinn lesen kann, ohne dabei in
"Ehrfurcht" vor einer der "Ikonen der
Aufklärung" (99 Tr)
zu erstarren oder seiner rassistischen und durchaus
stark systemorientierten Tendenz zu verfallen, die letztlich auch zu, von Kurz
so benannten,
"theoretisch-philosophischen positivierenden
Reflexionsgestalten des Wert-Abspaltungsverhältnisses" (102 Tr)
führte und führt, die ein Ausdruck des
"realmetaphysischen Wesen des Werts" sind,
welches wiederum "kein Bild von sich machen (lässt), keine handgreifliche
Devotionalie und keine Gegenständlichkeit über die banale Mystifikation des
Geldes hinaus. Die Realabstraktion spottet aller sekundären Symbole und
Bilder". (101 Tr)
Wobei die Bedeutung des Begriffs "Wert"
abhängig ist vom Kontext, in dem er steht: Es besteht ein Unterschied zwischen
dem Wert eines geliebten Menschen, der in einer unendlich höheren geistigen, in
einer andersartigen existentiell-ganzheitlich-authentischen Dimension erlebt
wird, und einem auf das Geld, die Ware, den Fetisch orientierten Wert, der das
Leben entfremdet und abtötet. Und auch der Begriff "realmetaphysisches
Wesen" ist mit Vorsicht zu genießen, sofern mit diesem auf eine den
Menschen anonym und vollständig determinierende ›Realität‹ hingewiesen werden
soll. Realmetaphysisch kann in Wirklichkeit nur des Menschen geistiges
Selbstbewußtsein sein, das entweder authentisch-ethisch transzendierend im
weitesten Sinne Beziehung herstellt oder sich durch Fremdbestimmung bzw.
Fetischorientierung mehr oder weniger verliert, z.B. durch abstraktes kapital-
und warenorientiertes Wertedenken. Das Entstehen der "Realabstraktion"
selber ist primär von der entsprechend fetischorientierten Willensrichtung und
der entsprechenden Einbindung schöpferischer Kräfte des Menschen abhängig.
Kurz stellt fest:
"Kant kann man insofern lesen, wie man das
Nazi-Reichsparteitagsgelände in Nürnberg besichtigt." (117 Tr)
Kant zu kritisieren ist immer möglich und nötig,
wenn es um die Kritik der modernen Warengesellschaft geht, deren Apologeten
sich eben gerade auf denjenigen Kant berufen, der in ihr fetischorientiertes
Konzept paßt. Es sei jedoch auch erwähnt, daß durch die schöpferisch-kritische
Auseinandersetzung unter anderem mit Kants Denken Berdjajew zu
Schlußfolgerungen und Einsichten gekommen ist, die ihm den Weg zu einer
Philosophie des freien Geistes miteröffneten. Leider schränkt Kurz, ausgehend
von seinem rein "negatorischen" Urteil über Kant und dessen wie auch
immer gearteten "Subjekt-Apriorismus", zwanghaft die Wahrnehmung und
Berücksichtigung anderer Denker ein, die sich auf Kant differenziert, schöpferisch-kritisch
beziehen. Da es für Kurz um die gänzliche "Aufhebung des Subjekts"
(221 SH) geht, sind einfach keinerlei Zugeständnisse mehr an Kant erlaubt. Kurz
hat sich festgelegt, ohne mit seinem Gegenentwurf einer Subjektkritik
überzeugen zu können.
Mich interessiert im Zusammenhang mit dem Essay
"Tabula rasa..." (89 Tr) über den Vorwurf eines undifferenzierten
Ikonoklasmus hinaus, gegen den sich Kurz wehrt, zunächst einmal die Frage, ob
die "negatorisch" gehaltene
"radikale Kritik an der negativen Qualität des
spezifisch modernen Fetischismus... ein Hinausgehen über jede Art von
veräußerter symbolischer Bindung, die der Reflexion entzogen ist" (102/103
Tr),
überhaupt leisten kann.
Grundsätzlich halte ich die Ansicht, daß eine
"veräußerte symbolische Bindung" gänzlich "der Reflexion
entzogen ist", für einen Irrtum. Das liefe darauf hinaus, wie schon im
ersten Teil meiner Entgegnungen erläutert, daß der Mensch einem anonymen
"realmetaphysischen Wesen" vollkommen ausgeliefert wäre und nichts
zur Befreiung seiner selbst aus dem fremdbestimmten Zustand beitragen könnte.
Befreiung ergäbe sich dann absolut nur aus den sich zuspitzenden inneren
unlösbaren Widersprüchen des Kapitalismus, Widersprüche, die auf der Grundlage
einer alles bestimmenden "Fetisch-Konstitution" in Verbindung mit der
"allgemeinen Bewusstseinsform und ihrer
Kategorien" (195/196 SH)
entstehen müssen - "Konstitution" und
"Form" lösen sich selber auf und setzen den Menschen gegebenenfalls
frei. Im günstigsten Fall wird "bewußtlose Form von Gesellschaftlichkeit...
aufgelöst und durch direkte menschliche Kommunikation" (217 SH), die an
und für sich nichts (Nichts - Leere) ist und zu keinerlei Einsicht führen kann,
ersetzt usw. usf.
"Ein Hinausgehen über jede Art von veräußerter
symbolischer Bindung" kann also nur dann geschehen, wenn über die
"veräußerte... Bindung" letztlich reflektiert wird und das auf der Grundlage wahrhaft menschlicher
Urteilskraft schon heute, in einer Zeit, in der man bemüht ist, alles fetischorientiert
zu funktionalisieren. Aber da Kurz jede Art "apriorischer
Subjektivität" ablehnt und er deshalb auch keine primäre
schöpferisch-ethische Wertefähigkeit zulassen kann, die für ihn vom
festgelegten "negatorischen" Anspruch her wahrscheinlich ebenfalls in
den allgemeinen Topf der "Fetischformen" gehört, bleibt es im
dunkeln, wie sich ein Reflektieren und "Hinausgehen" überhaupt
gestalten kann. Und sobald Kurz schließlich auf "Inhalte" pocht, muß
er automatisch seinem "negatorischen" Anspruch untreu werden, denn
Inhalte setzen Maßstäbe, und wesentliche Bewußtseinsinhalte müssen demnach
apriorisch sein in der überchronologischen Bedeutung ›vom Früheren her‹ als
ganzheitlich-authentische schöpferisch-ethische Willensmotive - dabei liegt
mein Hauptaugenmerk auf der Freiheit, die auch Ausgangspunkt und Kern des
Weltzusammenhanges überhaupt ist, auf der Liebe und der Wahrheitsintuition
zugleich. Gäbe es dieses Apriorische nicht, liefe im Leben alles auf eine
allumfassende Konkurrenz, auf einen allgemeinen Kampf der jeweiligen Inhalte
hinaus - das sich daraus ergebende System hätte anonymen,
"drübersteherischen" Gottstatus. Doch Gott sei Dank hat und wird das
Leben dieser Totalität niemals absolut entsprechen können, weil in einer
Systemtotalität kein Leben möglich wäre und aus ihr heraus entstehen könnte. Systeme
sind immer nur sekundärer ›Natur‹, auch wenn sie mächtig und gewaltig sind. Sie
besitzen bzw. stellen kein existentielles Zentrum dar. Selbst Kurz weiß, daß
"im subjektiven Nützlichkeitskalkül nicht [alles - D.H.] aufgeht"
(154 SH), nur geht er dem Nichtaufgehenden nicht wirklich auf den Grund. Sein
einseitiges Beharren auf der "negatorischen" Methode läßt diese
letztlich selbst zum Fetisch werden, der sich - konsequent zu Ende geführt -
als ein allgemeiner Skeptizismus
entpuppen muß. Der Fetisch entsteht immer dann, wenn ein sinnlicher oder
geistiger Aspekt vom ganzheitlich-authentischen Willensmotiv des Menschen
abgesondert und bestimmend wird. Und auf diese Weise entstehen in der Folge
dann auch sekundär "veräußerte symbolische Bindungen". Dagegen ist
der authentische Mensch als zentrales existentiell-schöpferisch-ethisches Wesen
zugleich Ausgangspunkt und Ziel des zu schaffenden gemeinschaftlichen Lebens
und kein vereinzeltes apriorisches Prinzip, sondern apriorisch ausschließlich
in seiner grundlegenden, die Welt umfassend transzendierenden Ganzheitlichkeit
von Freiheit, Liebe und Wahrheit.
Mit seinem Hang zum "negatorischen"
Skeptizismus nähert sich Robert Kurz bedenklich seiner eigenen Feststellung an:
"Nur dort, wo eine Fetischform durch eine andere
ersetzt wird, kann Ikonoklasmus als buchstäblicher Bildersturm stattfinden oder
gar die Reaktion der Bücher- und Menschenverbrennung mit sich bringen."
(103 Tr)
Diese Feststellung zeugt aber auch davon, daß Kurz
in der Ablehnung eines "buchstäblichen Bildersturms" letztlich seinem
eigenen "negatorischen" Anspruch und "... '... dem Wunsch,
Tabula rasa zu machen, ... [dem - D.H.] Ikonoklasmus, ... [dem - D.H.] Bruch
mit allen Traditionen' (Anselm Jappe,...)" (Tr 99/100) nicht erlegen ist.
Das apriorische Nichtaufgehende in ihm selbst gibt seiner radikal-kritischen
Anklage gegen die "Fetisch-Konstitution" die Richtung und den nötigen
Halt. Worauf sollte Kurz' folgende Feststellung denn auch sonst gründen:
"Das moderne warenproduzierende System ist die
erste Gesellschaft, die in ihrem 'normalen' alltäglichen Gang mehr Verwüstungen
anrichtet als jede noch so schwere Geburt einer neuen Formation in der
Vergangenheit, einschließlich ihrer eigenen." (106 Tr)
"Verwüstungen" sind nur dort Verwüstungen,
wo sie vom apriorisch wahrhaft menschlichen Standpunkt aus als solche erkennbar
sind, auch unter Einbindung einer entsprechenden radikalen Kritik, die die
Widersprüche eines unschöpferischen, unethischen, starren Formkorsetts
aufdecken hilft. So gibt es beispielsweise in der Natur an und für sich kein
Bewußtsein für Verwüstungen. Die natürliche Umwelt reagiert auf die destruktive
Zugabe des Menschen mit Veränderungen, die dem Menschen und den mit ihm
existierenden tierischen und pflanzlichen Kreaturen schaden können, aber nicht
die natürlichen Bedingungen überhaupt in Frage stellen. Auch wenn der Mensch
verschwinden und sich die Artenvielfalt um ein Vielfaches vermindern sollte,
nimmt die Natur auf der Erde weiterhin ihren natürlichen Lauf, deckt das vom
apriorisch wahrhaft menschlichen Standpunkt aus destruktiv Angerichtete nach
und nach zu. Wiederum entsteht neues Leben auf der Erde, solange die
natürlichen Bedingungen (z.B. die Stärke der Sonneneinstrahlung) dies
begünstigen. Es macht die höherentwickelten Tiere und insbesondere den ethisch
fühlenden und denkenden, den nach ganzheitlicher Wahrheit strebenden Menschen
betroffen, wenn die Welt spür- und erkennbar eine lebensbedrohliche bzw.
-feindliche Richtung einschlägt, annsonsten niemanden.
Im Sinne des schöpferisch-ethisch denkenden Menschen
wird "ein Hinausgehen über jede Art von veräußerter symbolischer
Bindung" auch von Kurz vollzogen, da er sich auf diese Weise eben nicht
konsequent an seine theoretische Vorgabe - "Es gibt nichts zu erben..."
(Tr 98) - hält. Doch Kurz' theoretische Vorgabe für sich genommen als ein das
Denken des Menschen einseitig bestimmendes Prinzip muß unweigerlich selbst zum
Fetisch werden.
Robert Kurz antwortet auf den "Vorwurf des
Ikonoklasmus" folgendermaßen:
"Tabula rasa ist zu machen mit der
kapitalistisch-abendländischen Subjektform und mit der Gebundenheit durch eine
Fetischform überhaupt, deswegen aber nicht mit allem und jedem, was die
Menschheit trotz ihrer fetischistischen Gebundenheit und durch diese hindurch
bislang hervorgebracht hat." (112 Tr)
Es wäre ihm recht zu geben, sofern "tabula
rasa" vor allem mit der "Subjektform" gemacht werden soll und
nicht mit dem tieferen (apriorischen) Subjekt überhaupt, was im Grunde auch
nicht möglich ist, da der Mensch niemals ohne seinen existentiellen Kern leben
kann bzw. lebt. Doch Kurz geht es ja generell um die "Aufhebung des
Subjekts". Da gibt es für ihn keinen Kompromiß. Zu klären ist demnach nur,
was überhaupt als Überkommenes aus der Geschichte der Menschheit rettenswert
wäre und wie dies geschehen kann.
"Die eigentlich legitime Frage, die sich
herausschälen lässt, ist folgende: In welchem Verhältnis stehen die Subjektform
und damit deren Negation zu den im weitesten Sinne kulturellen Inhalten der
menschlichen Geschichte? Diese Inhalte können als Artefakte der Geschichte
bezeichnet werden, sowohl der modernen als auch der vormodernen. Dabei handelt
es sich um Erzeugnisse aller Art, geistige wie gegenständliche, um so genannte
Produktivkräfte, um Kulturtechniken im weitesten Sinne, um 'Potenzen', die aus
der Geschichte der menschlich-gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der
irdischen Materie und physischen Dasein, aber auch mit sich selbst, mit der
eigenen Gesellschaftlichkeit, und mit den metaphysischen Problemen der eigenen
Herkunft, des Todes usw. hervorgegangen sind.
Zunächst ist hier die Betonung auf den Begriff des
Inhalts zu legen. Es handelt sich um Inhalte (auch künstlerische,
architektonische usw. Formen können hier als Inhalte gelten), die zwar unter
dem Diktat einer fetischistischen gesellschaftlichen Formbestimmung und damit
einer Bewusstseinsform stehen (der Subjektform in der Moderne), aber darin
nicht aufgehen. Es gehört zum Wesen der 'Geschichte von Fetischverhältnissen',
dass die Inhalte nie in der Form aufgehen, dass Form und Inhalt in einen
Gegensatz treten und die Inhalte immer wieder gewaltsam nach Prokrustes-Manier
der Form angepasst werden bis zu ihrer Zerstörung. Das gilt sowohl für Inhalte,
Artefakte, Kulturtechniken usw. der Vergangenheit als auch für die von der
jeweiligen Fetischformation selbst hervorgebrachten." (113 Tr)
Bei den "kulturellen Inhalten", den
"Erzeugnissen aller Art, geistige wie gegenständliche,... so genannte
Produktivkräfte,... Kulturtechniken im weitesten Sinne," handelt es sich
bereits "um 'Potenzen' " (Vermögen, Fähigkeiten) sekundären Ranges.
Indirekt bestätigt dies Kurz, indem er auf primärere Potenzen verweist, aus
denen die sekundären "hervorgegangen sind". Einerseits gibt damit
auch Kurz zu, daß man nicht einfach bei "kulturellen Inhalten"
stehenbleiben und so tun kann, als stelle deren bloßes Vorhandensein als
"Erzeugnisse aller Art" selbst unter Abzug ihrer gegebenenfalls
fetischbestimmten "Form"-Entartung schon das erste Glied in der
Kette, quasi eine absolut selbstgenügsame inhaltliche Ursache dar. Andererseits
jedoch behauptet er genau das Gegenteil mit der Forderung nach einer
"Negativität der Befreiung", die
"eine Befreiung zum unbefangenen Umgang mit der Eigenqualität der Inhalte
aller Art (ist)". (122 Tr)
Wir Menschen dürften demnach der vom Fetisch
befreiten "Eigenqualität der Inhalte aller Art" auf keinen Fall mehr
etwas hinzufügen, nach dem Grundsatz,
"dass radikale Kritik keinen apriorischen
positiven Maßstab haben kann... Das ontologische Bedürfnis ist
unerfüllbar". (129 Tr)
Wir Menschen wären also entsprechend der Forderung
und ihrem Grundsatz ebenfalls angehalten, zumindest auch die vom Fetisch
befreiten und befreiungswürdigen Elemente der "im weitesten Sinne
kulturellen Inhalte" völlig ›selbstlos‹, d.h. selbstverleugnend, zu achten
und anzunehmen und ihnen nichts schöpferisch hinzuzufügen, denn genau das käme
ja einem Vergehen an dem Prinzip der "Eigenqualität der Inhalte"
gleich usw. usf. Und so befinden wir uns wieder im Teufelskreis einer unschöpferischen
Fetischabhängigkeit diesmal von den jeweiligen "kulturellen Inhalten"
- denn dem Menschen ist ausgehend von deer "Negativität der Befreiung"
ein von sich aus apriorisch-schöpferisch-ethischer Zugang zu den
"kulturellen Inhalten" nicht erlaubt. Kurz hat sich in ein unlösbares
theoretisches Dilemma verstrickt, zumal er eine differenzierte Unterscheidung
zwischen den "im weitesten Sinne kulturellen Inhalten",
"gegenständliche Erzeugnisse", und den geistig-apriorischen Wesensinhalten
des Menschen als Persönlichkeit erst gar nicht in Erwägung zieht, eine
Unterscheidung, die zu einer auch logisch plausiblen Lösung der
Fetisch-Problematik führen kann. "Kulturelle Inhalte" an sich können
uns keinen Anhaltspunkt liefern bzw. stellen
"noch keinerlei per se positive Bewertung"
(113 Tr)
dar, um ihr Verhältnis zur "Subjektform"
und somit die "Subjektform" selbst zu verstehen, was auch Kurz
bemerkt. Dazu müssen wir schon auf tiefere Gründe zurückgreifen. Letzteres tut
Kurz gewissermaßen, indem er allgemein auf die "Geschichte der
menschlich-gesellschaftlichen Auseinandersetzung" verweist, nur gelangt er
damit nicht wirklich zu des Pudels Kern. Mit dem Begriff
"Auseinandersetzung" wird noch nichts über die Art und Weise und die
Motive dieser "Auseinandersetzung" ausgesagt. So ist die
Auseinandersetzung mit der Materie etc. ein vorwiegend
sekundär-objektivierender Erkenntnisakt, der in der modernen Welt zum großen
Teil in fetischabhängiger Ausrichtung praktiziert wird, was auch Kurz
kritisiert. Die "Auseinandersetzung... mit sich selbst" kann
ebenfalls im erheblichen Maße an einen Fetisch gebunden sein und heutzutage in
vorwiegend objektivierender Weise narzißtisch-autistisch vollzogen werden. Kurz
sagt, daß "Artefakte der Geschichte" als "Inhalte... zwar unter
dem Diktat einer fetischistischen gesellschaftlichen Formbestimmung und damit
einer Bewusstseinsform stehen (der Subjektform in der Moderne), aber darin
nicht aufgehen". Aber inwiefern können die "Inhalte" nicht in
der "Formbestimmung" aufgehen? Worum handelt es sich bei dem
Nichtaufgehendem? Bei Kurz finden wir dazu theoriebedingt nichts Konkretes,
sondern höchstens einen entsprechend vagen, ungenauen Hinweis auf die
"Auseinandersetzung" insbesondere "auch mit sich selbst, mit der
eigenen Gesellschaftlichkeit, und mit den metaphysischen Problemen der eigenen
Herkunft, des Todes usw.", eine "Auseinandersetzung", die unter
anderem die "... 'Potenzen' " hervorgebracht haben soll. Es ließe
sich demnach also das Wesentliche des Nichtaufgehenden im existentiellen Bereich,
d.h. im Subjekt, zumindest vermuten, was von Kurz wahrscheinlich nicht
akzeptiert werden würde, da das Subjekt unbedingt aufgehoben werden soll.
Dennoch, wir befinden uns bei der "Auseinandersetzung... mit sich
selbst" im weitesten Sinne immer schon, ob wir es wollen oder nicht, im
Bereich des Subjekts. In diesem Bereich geht es um die ursprünglichen Motive
unseres Handelns als existentiell-subjektive Wesen. Schaffen wir das Subjekt
ab, schaffen wir auch die Motive unseres Wirkens und Handelns, unserer
"eigenen Gesellschaftlichkeit" ab, Motive, die sehr wohl auch
sekundär-destruktiv sein können, aber von ihrer wahrhaft authentischen Herkunft
her den Wesenskern des Menschen ausmachen und uns von daher nicht im kruden
niederen instinkt- und fetischorientierten Sinne zugleich bestimmen. Ich
wiederhole abermals, zum Wesenskern zählen grundsätzlich die intuitiv
erfahrbare Freiheit, Liebe und Wahrheit der konkreten, ganzheitlich
transzendierenden Persönlichkeit, aus der heraus ihr Träger, der Mensch, schöpferisch
und ethisch zugleich im Leben und der Welt wirksam werden kann. Unser
wahrhaftes Menschsein aus dem ursprünglich universal-authentischen Wesenskern
heraus, der mehr oder weniger in einem jeden Menschen konkret
schöpferisch-einzigartig, spontan und fortwährend zum Leben erweckt wird und
kein fertiges Konzept darstellt, ist für eine echte Gemeinschaft die einzige
unerläßliche apriorische Bedingung, die niemals ein allgemeines
Zwangsverhältnis als Fetischverhältnis hervorruft und kein
"abstrakt-allgemeines Muster der
Aussortierung" (115 Tr)
darstellt.
Wenn Kurz sagt, "auch künstlerische,
architektonische usw. Formen können hier als Inhalte gelten", so deshalb,
um einen speziellen Formdiktat-Inhalt-Gegensatz aufzeigen und kritisieren zu
können. Denn in einem anderen, tieferen Zusammenhang sind jene künstlerischen,
architektonischen "Inhalte" zunächst Formen bzw. symbolische
Ausdrücke des Menschen geistiger Tätigkeit, des geistigen Inhalts des Menschen,
ein Inhalt, der wiederum primär im Menschen schöpferisch-dialektisch und vor
allem ganzheitlich entsteht, d.h., die äußere Lebenswelt wird dabei
notwendigerweise integrierend einbezogen. Der Theorie zum speziellen
Formdiktat-Inhalt-Gegensatz sind enge Grenzen gesetzt. Diese Theorie kann
schnell zu Irrtümern führen. Gerade unter der Prämisse, daß das Subjekt kein
authentisches subjektiv-schöpferisches Potential besitzen kann, da es sich
generell von der "Subjektform" der allgemeinen
"Formbestimmung" herleitet, wird der "Formbestimmung"
regelrecht eine zumindest destruktiv-schöpferische Potenz zugesprochen, denn
von wem sollten denn sonst "die Inhalte immer wieder gewaltsam nach
Prokrustes-Manier der Form angepasst werden", wenn es kein
apriorisch-authentisch-schöpferisches Subjekt gibt bzw. geben darf. So gesehen
werden die Dinge neuerlich auf den Kopf gestellt.
Wie ich schon im 1. Teil dieser Auseinandersetzung
ausgeführt habe, kann die "Formbestimmung" immer nur Gerüst, aber
niemals selbst schaffend sein. Schaffend in geistig-kultureller Hinsicht ist
einzig und allein der Mensch auf der Grundlage seines schöpferischen
Potentials. Dieses Potential ist sowohl von seinem Wesensgrunde her ethisch als
auch sekundär destruktiv-formbestimmt - letzteres heißt, daß das Potential
"nach Prokrustes-Manier" ausgerichtet werden kann. Die wesentlichen
Inhalte der Geschichte des Menschen sind die Beweggründe bzw. Motive, die
Potenzen seines Schaffens auch von Erzeugnissen, die dadurch eine entsprechend
besondere Form annehmen. Wenn Kurz von "kulturellen Inhalten der menschlichen
Geschichte" spricht, so meint er in der Tat damit deren Ergebnisse als
"Erzeugnisse". Dementsprechend bezieht sich der Begriff
"kultureller Inhalt" eingeschränkt auf die "Gesamtheit der
geistigen, künstlerischen, gestaltenden Leistungen einer Gemeinschaft als
Ausdruck menschlicher..." (Duden) Schaffenskraft [Hervorhebungen -
D.H.], auch wenn sie unter dem Formdiktat stehen. Das "Verhältnis..."
der "... Subjektform zu den im weitesten Sinne kulturellen Inhalten"
kann der Mensch wesentlich aber nur aus seiner apriorischen intuitiven
Motivation der transzendierenden Freiheit, Liebe und Wahrheit und ihrem
sittlichen Bezug heraus bestimmen.
Das Nichtaufgehende, wovon oben die Rede war, läßt
sich also nicht an einem im speziellen Verhältnis zur "Subjektform"
stehenden, zurechtgelegten Inhaltsbegriff festmachen, der sowieso nur auf
"Artefakte der Geschichte", auf "Erzeugnisse aller Art"
bezogen wird und deren vielschichtige und komplexe Ursachen nicht
berücksichtigt. Das Nichtaufgehende ist das, was zumindest den wesentlicheren
bis hin zum primär wesentlichen Inhalt unter anderem der "kulturellen
Inhalte... ,geistige wie gegenständliche," ausmacht. Den Inhalt der
sogenannten "Inhalte" zu erkennen, dies bedarf einer
geistig-existenzphilosophischen Anstrengung und ergibt sich nicht einfach aus
einem an den "Erzeugnissen" praktizierten Drauf- und Reinschauen im
wissenschaftlich-objektivierenden, im empirischen Stil. Die Frage nach dem
Inhalt der "im weitesten Sinne kulturellen Inhalte" ist eine Frage
nach dem Sinn dieser "Inhalte", eine Frage, die der Mensch als ein
nach Erkenntnis strebendes, geistig-subjektives Wesen stellt und nur er auf
Erden stellen kann, da er die "kulturellen Inhalte" hervorgebracht
hat. Weitergehend ist der vom Menschen, wenn auch unter ›Formzwang‹ stehende,
geschaffene "kulturelle Inhalt" als "Erzeugnis" somit
primär immer eine Mischung aus schöpferischem Geist bzw. schöpferischer
Sinngebung und der in äquivalente Form gebrachten äußeren Stofflichkeit. Daraus
ergibt sich, daß die Frage nach dem wesentlichen Inhalt zuvorderst eine aus dem
Akt der Selbsterkenntnis heraus gewonnene Frage nach des Menschen ursächlichen
Beweggründen, Motiven ist, die das Wirken des Menschen in der Welt überhaupt
erst ermöglichen. Im Akt der Selbsterkenntnis antwortet der Mensch auf die
Dinge, die da vorhanden sind und die er nicht einfach nur so hinnimmt, sondern
- wenn auch noch so gering - veränddert, um in jederlei Hinsicht existieren zu
können. Der Sinn ist nicht das "Erzeugnis", dessen unantastbare
"Eigenqualität" seines "Inhalts", sondern der Sinn wird vom
geistig-schöpferischen Wesen, dem Menschen, in das "Erzeugnis"
hineingetragen. Daraus ergibt sich erneut, daß die Frage nach dem
Nichtaufgehenden der vom Menschen erschaffenen "Erzeugnisse"
grundlegend eine Frage nach dem wahren echten Menschen als
Persönlichkeitssubjekt ist, dessen Realisierung in einem jedem Menschen
potentiell angelegt ist, aber nicht von einer höheren Macht garantiert wird.
Der Mensch muß den Sinn seiner Freiheit im schöpferisch-ethischen Bezug erringen
und begreifen. Auf diese Weise nur wird Freiheit sinnvoll, die sich wahrhaftig
existentiell, im Geiste, ereignet und nicht in äußeren Dingen und Prozessen.
Nachdem der Mensch die Ehrfurcht vor den thronenden
Göttern verloren hatte, war er zunächst bestrebt, Gott überhaupt abzuschaffen
und dafür sich selbst als erkennendes Wesen, als einen neutralen äußeren
Beobachter über den Erkenntnisgegenstand zu stellen. Dies führte weitergehend
dazu, die Suche nach dem Sinn vom Erkenntnisakt abzutrennen und des Menschen
wahrgenommene Ganzheitlichkeit unter dem Eindruck des aufkommenden
kapitalistischen Materialismus auf die Dinge bzw. Gegenstände außerhalb seiner
selbst zu übertragen, obwohl der Gegenstand nicht leidet, kein Bewußtsein hat,
geistig nicht transzendiert etc., d.h. niemals eine ganzheitliche Erscheinung
bzw. ein existentiell-integrales Zentrum sein kann. Es bildete sich eine neue
Ehrfurcht heraus, diesmal vor dem formerstarrten, armseligen "Sinn"
der äußeren Dinge und Prozesse (Systeme), der sich als verinnerlichter
Gottesersatz thronend über den ganzheitlich-integralen Geist des Menschen
erhob. Wiederholt fällt es dem Menschen aus ehrfürchtiger Gewohnheit schwer,
zuzugeben, das der Sinn etwas ist, das niemals autark in den Dingen und
Prozessen verankert ist, sondern dort nur seinen formerstarrten,
symbolisch-manifesten Ausdruck findet. Der wahrhafte Sinn an sich ist jedoch
dieser Formerstarrung diametral entgegengesetzt, indem er ihr widerspricht und
zwar als eine sinngebende und somit verändernde, ethisch wirkende
Schöpferkraft, die den Lebensfunken des Menschen im Grunde seiner Existenz, im
Akt seines Handelns und Erkennens ausmacht. Infolgedessen kann es auch keine
"Eigenqualität der Inhalte" geben, sofern es sich bei den
"Inhalten" um "Erzeugnisse" handelt und nicht um den
apriorisch-ganzheitlichen Wesenskern des Menschen als Persönlichkeit. Mit dem
Begriff der "Eigenqualität der Inhalte" ausgedehnt auf die
"Erzeugnisse" menschlicher Schaffenskraft im Kontext mit der Forderung
nach "Aufhebung des Subjekts" ist Kurz in gewisser Weise zum
Fetischdenken zurückgekehrt.
Auch wenn,
"am deutlichsten gefasst in jener berühmten,
allerdings nur auf den modernen Kapitalismus selbst passenden Formulierung von
Marx, ... die 'Produktivkräfte' (Inhalt) die 'Produktionsverhältnisse' (Form)
in die Luft sprengen würden", kann dadurch "(im Gegensatz zur eigenen
Auffassung von Marx) noch keinerlei per se positive Bewertung dieses Inhalts
bestimmt (werden), sondern eben nur seine Sprengkraft, so gilt dies überhaupt
für das Verhältnis von kulturellen Inhalten und gesellschaftlichen Formen in
der bisherigen 'Geschichte von Fetischverhältnissen'." (113/114 Tr)
Aber es wird von Kurz, entsprechend der
"Eigenqualität der Inhalte" und bezogen auf
"die Gegenstände der Welt, die Gegenstände von
Natur und Gesellschaft..., auch schon ein Hinweis gegeben, worauf sich die
gesellschaftliche Auseinandersetzung jenseits der Fetischverhältnisse beziehen
wird: nämlich eben auf die konkrete Bestimmtheit von Inhalten". (121 Tr)
Also bisher waren die "Inhalte" in ihrer
"Formbestimmtheit" nicht wirklich bestimmbar, und in einer von
jeglicher Fetischabhängigkeit befreiten Gesellschaft tritt laut Kurz dann
plötzlich und in wundersamer Weise genau das Gegenteil ein. Doch diesmal türmt
sich die "konkrete Bestimmtheit" einer Masse gegenständlicher
"Inhalte" vor uns auf, denen wir gerecht zu werden haben, ohne uns
selbst als Menschen apriorisch einbringen zu dürfen. Dies wiederum bedeutet,
daß auf der Basis "konkreter Bestimmtheit" keine "gesellschaftliche
Auseinandersetzung jenseits der Fetischverhältnisse" stattfinden kann,
sondern ein neues
"abstrakt-allgemeines Apriori" (115 Tr),
eine neue Knechtschaft seitens
"gegenständlicher Inhalte" heraufbeschworen bzw. kreiert wird.
Zumindest bezogen auf die "Gegenstände der Welt" soll das Prinzip des
kapitalistischen Materialismus, dessen reale Umsetzung den Menschen gleichsam
auf die "konkrete Bestimmtheit" seiner kapitalorientierten
Gegenstände verpflichtet, durch einen eigenartigen Materialismus der "Eigenqualität
der Inhalte" ersetzt werden. Demgemäß bizarr und widersprüchlich muß auch
Kurz' Versuch ausfallen, die von ihm aufgestellten ersten sehr allgemeinen
Kriterien zur
"Aneignung von Artefakten der Geschichte"
(115 Tr)
auf die "Inhalte" anzuwenden. Dazu hier
erst einmal die allgemeinen Kriterien:
"So wird die Aneignung von Artefakten der
Geschichte erstens deren barbarische Abkunft nicht verdrängen und verleugnen,
sondern sie im Benjaminschen Sinne [siehe Tr 114] als 'Eingedenken' bewahren.
Zweitens geht diese Aneignung mit einem Prozess des Verwerfens einher, eben
weil es keine 'unschuldigen' Inhalte gibt und ein bestimmter Teil davon derart
formvergiftet ist, dass er ebenso wie die (und zusammen mit der) Form völlig
negiert werden muss. Aber das ist eben drittens erst herauszufinden; dafür kann
es kein abstrakt-allgemeines Muster der Aussortierung geben, das ja selber
wieder nur eine Fetischform darstellen würde. Endlich kann es viertens eben
deswegen kein Präjudiz im Hinblick auf eine Scheidung der Inhalte in moderne
und vormoderne geben; weder in dem Sinne, dass die vormodernen Artefakte nicht
neu entdeckt und angeeignet werden könnten, noch umgekehrt in dem Sinne, dass
die modernen als kapitalistische in toto zu verwerfen wären, also in dieser Hinsicht
Tabula rasa gemacht werden müsste. Jedes abstrakt-allgemeine Apriori
hinsichtlich der Inhalte ist zusammen mit der Fetischform als Kriterium
hinfällig geworden." (115 Tr)
Es läßt sich zunächst nichts gegen die Beseitigung
eines vordergründig bestimmenden "abstrakt-allgemeinen Musters der
Aussortierung" einwenden. Aber deshalb ist es lange noch nicht sinnvoll,
jeglichen Anhaltspunkt der Aussortierung letztlich abstrakt in Frage zu
stellen, entgegen der anzutreffenden ethischen Anhaltspunkte, die Kurz selbst
explizit immer wieder in Anwendung bringt. Immerhin sieht sich Kurz genötigt,
an anderer Stelle folgenden Widerspruch anzudeuten:
"Die Kritik oder umgekehrt das Aufgreifen der
Inhalte, der Artefakte der Geschichte, kann immer nur selber wieder inhaltlich
sein, also je spezifisch, qualitätsabhängig mit bestimmten Gründen, aber nie
bloß abstrakt-allgemein in Bezug auf die Subjektform (was nur deren negative
Reproduktion wäre)." (120 Tr)
Worin die "Qualitätsabhängigkeit" besteht,
das bleibt im dunkeln. Dies "ist eben... erst herauszufinden", d.h.
in einer "gesellschaftlichen Auseinandersetzung jenseits der
Fetischverhältnisse". Auf diese Weise drückt sich Kurz mehr oder weniger
um eine Diskussion über die "bestimmten Gründe" herum, außer, wenn es
im gleichen Absatz um ein solch banales Beispiel eines Artefakts geht wie der
"Teflonpfanne" (120 Tr), deren Beurteilung und "Aneignung"
sich mit ›ungefährlichen‹ und scheinbar nichtapriorischen Maßstäben
bewerkstelligen läßt. Aber der Schein trügt, denn schon die Aussage bezüglich
der Teflonpfanne, daß
"sie natürlich abgelehnt werden (muss), wenn
sie Krebs hervorrufen kann" (120 Tr),
macht nur einen Sinn, wenn die Aussage als
apriorischen Maßstab die Gefahr für die menschliche Existenz mit sich führt.
Krebs ist schlimm, weil er das Leben eines mehr oder weniger selbstbewußten
sowie freiheits-, liebes-, leidens- und mitleids- und somit wahrheitsfähigen
Wesens bedroht, dessen Existenz apriorische Bedeutung hat, wenn echte
ganzheitliche Gemeinschaft das höchste erstrebenswerte Ziel ist, und das ist es
vom Herzen her für einen jeden Menschen. Würde Kurz auf diese apriorische
Bedeutung nicht zurückgreifen, hätte all seine Theorie keinen Sinn, wäre völlig
haltlos. In der apriorischen Bedeutung des wahrheitsfähigen Menschen liegt das
unerläßliche "Präjudiz" für eine jede gemeinschaftsbezogene Kritik
der jeweils aktuellen Verhältnisse und darauf bezogen auch für die Beurteilung
der materiellen und kulturellen Grundlagen des menschlichen Lebens. Und wie
gesagt, es handelt sich hierbei nicht um ein "abstrakt-allgemeines
Apriori". Auch die allgemeinen Kriterien, so das "Bewahren" und
"Verwerfen" von "Artefakten der Geschichte", setzen
insgeheim jene apriorische Bedeutung voraus, ohne welche die Kriterien sich in
Nichts auflösen würden bzw. selber, an sich, zur sinnentleerten Abstraktion
werden. Leider versucht Kurz diese Abstraktionen des Nichtapriorischen auf die
"Artefakte der Geschichte" anzuwenden und bringt dabei nur ziemlich
oberflächliche und falsche Bestimmungen hervor. Ganz allgemein stellt Kurz
fest, daß es sich bei
"intellektuellen und künstlerischen Werken...
in der Regel... um Denkmäler (handelt)", da "sie nicht reproduzierbar
im engen Sinne der inhaltlichen Kreation sind (im Unterschied zu ihrer bloß technischen
Reproduzierbarkeit)... Wir können nicht mehr wie Aristoteles oder Augustinus
und nicht einmal mehr ganz wie Marx denken; aber wir können diese Werke lesen
und ihre Gedanken erkennen, allerdings von einem anderen historischen Standort
aus." (116 Tr)
Wir könnten Marx nicht lesen und seine Gedanken
erfassen, wenn wir uns nicht zugleich seinem Denken annähern würden, d.h.
nicht, daß wir gänzlich so denken müssen wie Marx, um ihn lesen zu können, im
Gegenteil, wir können uns auch gedanklich von seinem Denken distanzieren, aber
nur, wenn wir zumindest annähernd auch verstehen, was er meint, denkt, wenn wir
uns in seine Gedanken einfinden, sie geistig nachvollziehen. Aber wichtiger
noch: Wir können Marx vor allem deshalb verstehen, weil er auch ethisch, implizit
und explizit, für den freiheitsbedürftigen Menschen gedacht und geschrieben
hat, was als eine grundlegende Motivation die Menschen miteinander verbindet
und den ursprünglichen Sinn "der inhaltlichen Kreation" insbesondere
auch des Denkens von Marx ausmacht.
Weiterhin trennt Kurz den Akt der Kreation vom Akt
der Rezeption ab. Das ist erkenntnistheoretisch völlig unzulässig, zumal die
Möglichkeit solch einer Trennung auch durch existentielle Erfahrung nicht
bestätigt werden kann. Wenn wir intellektuell, philosophisch, künstlerisch
etwas kreieren, so tun wir dies nicht in den luftleeren Raum hinein, sondern
haben immer auch die Rezeption, den Rezipienten im innerlichen Blickfeld. Das
gehört zum Ein-mal-eins des menschlichen Schaffens (weitergehend siehe auch N.
Berdjajew: Der Sinn des Schaffens. Vers. einer Rechtfertigung des Menschen,
1916 [dt. 1927]). Und genau so haben auch Marx und selbst Kurz ihre Schriften
verfaßt - diese hatten und haben einen Adressaten. Selbst das Schaffen für die
Kapitalakkumulation hat einen Adressaten, einen armseligen Sinn - eben das tote
Ding oder gar bloß noch den aufopfernden Systemdienst, aber auf der Grundlage
echter oder künstlich provozierter menschlicher Bedürfnisse, die für jene
Akkumulation eine wesentliche Voraussetzung bilden und eingebunden werden. Noch
einmal: "Intellektuelle und künstlerische Werke" entstehen im Akt der
Kreation, der zugleich auch den Akt der Rezeption beinhaltet, und daraus ergibt
sich weitergehend, daß im Akt der Rezeption zugleich auch ein Akt der Kreation
vom Rezipienten (mit-) vollzogen wird und somit die Kreation und ihr Inhalt im
Rezipienten geistig neu entsteht. Erfassen wir die Gedanken von Marx, kreieren
wir sie als Rezipient innerlich neu. Vom "anderen historischen
Standort" aus ist es uns darüber hinaus dann auch möglich, Marx Gedanken
zum Teil neu schaffend zu erweitern. Wäre dem nicht so, dann hätten wir es in
der Tat nur mit leblosen Denkmälern zu tun, die uns aber absolut unverständlich
bleiben müßten. Aber auch Denkmäler ›existieren‹ nicht in der Weise, daß wir
sie als Rezipienten einfach nur äußerlich wahrnehmen, sondern wir versuchen,
diese zu ergründen und müssen sie deshalb innerlich-geistig schöpferisch
anpacken, eben erneut geistig kreieren. Das gilt auch für die banalsten, vom
wahrhaft menschlichen Standpunkt aus fragwürdigsten Denkmäler. Für Kurz sind
Denkmäler "nicht reproduzierbare" ("im engen Sinne der
inhaltlichen Kreation") und historische Erinnerungsgegenstände, denen es
bezüglich der Artefakte des Aufklärungsdenken a la Kant weitgehend an
lebendigem, kreativem Sinngehalt bzw. Inhalt fehlt, weshalb Kurz Kant auch auf
eine Stufe mit dem Nazi-Reichsparteitagsgelände in Nürnberg stellt. Es trifft
zu, daß vielen Denkmälern ein wahrhaft lebendiger Sinngehalt abgeht, doch sobald
wir uns etwas bei diesen Denkmälern denken, legen wir einen Sinn (Inhalt), wenn
auch an sich armseligen, in sie hinein bzw. kreieren diesen neu, ohne dabei dem
ursprünglichen Anliegen gerecht werden zu müssen. D.h., Kurz' Definition von
Denkmälern, die er auf "intellektuelle und künstlerische Werke"
ausweitet, kann erkenntnistheoretisch nicht bestätigt werden und ist falsch.
Die Errichtung von Denkmälern geschieht immer unter der Vorgabe und Annahme
eines in ihm symbolisch angelegten Sinninhalts, ohne den ein Verstehen der
Denkmäler nicht möglich wäre. Und dieser Sinn muß vom Rezipienten "im
engen Sinne der inhaltlichen Kreation" geistig reproduziert werden, um das
jeweilige Denkmal verstehen zu können. Das geistig-inhaltliche Reproduzieren ist
dabei kein unlebendig-starres Wiederholen, sondern ein neuartiger
schöpferischer Akt. Die Denkmäler dienen letztlich niemals nur als bloße
historische Erinnerungsgegenstände, bei denen wir uns nichts weiter zu denken
haben, sondern sind vom Grunde her eine Aufforderung, den wie auch immer
gearteten Sinn des Vorhandenseins der Denkmäler zu ergründen.
Auch "intellektuelle und künstlerische
Werke" können nicht der Definition der Nicht-Reproduzierbarkeit "im
engen Sinne der inhaltlichen Kreation" unterworfen werden und sind, sofern
sie explizit und implizit auf eine Vertiefung der Problematik des Menschen im
weitesten Sinne gerichtet sind, weit mehr als einfache allgemeinaussagende
Denkmäler, eben ein den schöpferischen Geist des rezipierenden Menschen
anregender Ausdruck der letztlich unermeßlichen geistigen Vielschichtigkeit des
schaffenden Menschen als ein vom Wesen her ganzheitliches
Persönlichkeitssubjekt. Kurz' Vorstellung, es gäbe eine "bloß technische
Reproduzierbarkeit" von "intellektuellen und künstlerischen Werken",
stellt einen durch seine Theorie provozierten Irrtum dar, denn jede rein
technische Reproduktion schließt eine Reproduktion ihres spezifischen kreativen
Inhalts und somit die Verständlichkeit, Erkennbarkeit von "intellektuellen
und künstlerischen Werken" aus. Die Wechselbeziehung und Einheit von
technischem "Inhalt", womit in Wirklichkeit die technische Form
(einschließlich der Formprozeß) gemeint ist, und dem kreativen und eigentlichen
Inhalt kann man gar nicht zu einer Seite hin auflösen. Weiterhin ist dem
kreativen Sinngehalt der intellektuellen, philosophischen, künstlerischen Werke
schon gar nicht mit Kurz' abstrakten Kriterien (115 Tr) beizukommen, bleibt von
diesen unberührt. Denn den Kriterien an sich fehlt jegliche
schöpferisch-ethische Urteilskraft, die die echte freiheitliche Gemeinschaft
zum Ziel hat, eine Gemeinschaft, die den Sinngehalt eines wahrheitsorientierten
kreativen Schaffenswerks ausmacht.
"Ebensowenig können wir eine Musik wie die
gregorianischen Gesänge, die Kompositionen Mozarts und Beethovens oder die so
genannte traditionelle (anonyme) 'Volksmusik' hervorbringen, weil diese Musiken
allesamt an eine bestimmte Zeit und deren Weltverhältnis gebunden sind; aber
wir können sie spielen, anhören und in gewisser Weise genießen, Elemente daraus
entnehmen und in andere Zusammenhänge bringen etc." (116 Tr)
Aber die Musik von z.B. Mozart oder Beethoven wird
nicht einfach nur gespielt, gehört und "in gewisser Weise", was auch
immer dies heißen mag, genossen. Sondern viel mehr können wir diese Musik mit
wahrhaft echter Begeisterung spielen und hören, eben existentiell-schöpferisch
erfahren, aufnehmen, im Akt des Hörens geistig-konkret neu erschaffen auf der
Grundlage des emotionsgeladenen universalen Sinngehalts, d.h. der Trauer, des
Leidens, der Freude, der durchscheinenden Liebe und Freiheit etc. - ein
Sinngehalt, der sich zur ganzheitlich-existentiellen Wahrheit des jeweiligen
Schöpfers, Kreators und Rezipienten, verdichtet und während des kreativen Aktes
auf das Werk symbolisch übertragen wird. Das symbolische Werk ist das sekundäre
Bindeglied zwischen dem Kreator und dem schöpferischen Rezipienten auf der
primär verbindenden Grundlage ihrer jeweils konkret einzigartig erlebten und
transzendierenden universalen Wesenskräfte. Der Sinngehalt großer
schöpferischer Werke kann nicht auf die jeweiligen "Weltverhältnisse"
reduziert werden.
Gemäß Kurz' Theorie ließe sich schlußfolgern, daß
wir die bisherigen "Artefakte der Geschichte" in der Form von Musik
nur insofern verstehen können, solange wir auch die
"Weltverhältnisse" in ihrem jeweiligen Fetischcharakter zur Zeit der
"Hervorbringung" der Musik verstehen. Um diese Schlußfolgerung zu
untermauern, müßte jeweils konkret bestimmt werden, wie und wo der jeweilige
Fetischcharakter in der Musik hervorklingt bzw. wodurch er konkret zum Ausdruck
kommt, um dies dann mit Begriffen dingfest machen und in die Theorie einbauen
zu können, um zu guter Letzt den Fetischcharakter der Musik mit dem der
entsprechenden "Weltverhältnisse" in Übereinstimmung bringen zu
können. Am besten anwenden ließe sich diese Methode ganz sicherlich auf die
weitverbreitete Volksmusikwelle, die gegenwärtig die Menschen mit seichten
Texten und einlullenden Melodien bei Laune hält. Aber auch diese Musik kann
ihren Zweck nur erfüllen, weil sie sich tiefer bzw. höher angelegter Emotionen,
Gefühle pervertierend bedient, die an und für sich und zunächst noch über die
jeweiligen (Fetisch-) Verhältnisse hinausreichen, diesen gar widersprechen,
wobei der Widerspruch sich im Volksmusikgedudel nahezu auflöst. Inwieweit die
gregorianischen Gesänge und die Kompositionen Mozarts und Beethovens
Fetischelemente in sich tragen, das könnte man diskutieren. Dennoch behaupte
ich, bringen insbesondere Mozart und Beethoven in ihrer Musik einen hohen Grad universaler
schöpferischer Freiheit zum Ausdruck. Gerade durch die 5. Sinfonie von
Beethoven fühle ich mich persönlich in meinem tiefsten geistigen Herzen
angesprochen und kann sowohl mit Beethoven, obwohl er nicht mehr lebt, als auch
aus der gemeinsamen Rezeption dieser Komposition heraus mit anderen Menschen in
echte Kommunion treten. Das Erleben von tiefgreifender Musik, zu der natürlich
auch viele gegenwärtige Musikwerke gezählt werden können, steht vom Grunde her
einem jedem Menschen in konkreter Einzigartigkeit, da sich jeder Mensch
wesentlich im einzigartigen Persönlichkeitsvollzug befindet, offen. Auch wenn
z.B. klassische Kompositionen zum Teil auf überbrachte musikalische Techniken
und Gewohnheiten aufbauen, so spielen diese Elemente eben gerade dann nicht die
entscheidende Rolle, wenn die jeweiligen Kompositionen uns auch heute noch
wahrhaft innerlich berühren. Sie können uns berühren, weil sie nicht an die
jeweiligen "Weltverhältnisse gebunden sind". Somit wäre auch eine
Methode zum Klassifizieren des jeweiligen Fetischcharakters nur von begrenzter
Aussagekraft. Die entscheidende Aussage hinsichtlich des Sinngehalts der Musik
wird aus dem originären freien Herzen persönlich getroffen; die sich daran
anknüpfende sekundäre Begrifflichkeit ist ausschließlich Mittler der
Kommunikation und trägt einen starken symbolischen Charakter, der auf das
geistige Erlebnis immer nur verweisen kann, dieses aber selbst nicht ist. Mit
anderen Worten: Auch hinsichtlich der "Aneignung von Artefakten der
Geschichte" in der Form von Musik ist der Mensch als
Persönlichkeitssubjekt, d.h. als schöpferisch-ethisches Wesen, in seinem
konkreten und fortwährenden wahrhaft-existentiell transzendierenden Wertungs-
und Umwertungsvermögen von apriorischer Bedeutung.
Das, was Kurz ganz allgemein zu
"intellektuellen und künstlerischen Werken" zu sagen hat, wird diesen
nicht gerecht. Die Verwendung des Wortes "genießen" im Zusammenhang
mit Musik ist uneindeutig, kann ebensogut auf einen kompensatorischen Zweck der
Musik verweisen - so dient sie z.B. oft der Regeneration nach getaner
abstrakter Arbeit, zum Fithalten für den verinnerlichten Systemzwang, zur
Aufblähung des eigenen narzißtischen Egos etc. Für Beethoven stand mit
Sicherheit nicht das Schaffen der Musik zum Zwecke des bloßen Genusses im
Vordergrund. Kunst beruht wesentlich auf der
innerlich-geistig-gemeinschaftlichen Verbindung des Kunstschaffenden und des
schöpferisch Kunstaufnehmenden. Der Schaffende eines echten Kunstwerkes schafft
niemals anonym, autistisch für sich allein oder für eine allgemeine
kompensatorische Konsumtion. Kunst kulminiert für den Kunstschaffenden und den
Kunstaufnehmenden wesentlich in einem Liebesakt, der von beiden Seiten in der
Tiefe ihrer authentischen wahrhaften Menschlichkeit zugleich als ein existentieller
Akt der Wahrheit und Freiheit erlebt wird. Der Akt der Wahrheit wiederum ist
das Aufblitzen einer höheren Idee vom Menschen, einer Eingabe bzw. Intuition,
deren Verwirklichung in Gemeinschaft von dem authentisch Schaffenden und dem
authentisch Rezipierenden leidenschaftlich erstrebt wird. Auch eine Kunst, die
sich fast gänzlich ekelerregender bzw. abstoßender Mittel bedient, um eine
negativ-pessimistische Anklage zu erheben, speist sich grundsätzlich von einer
Ebene, die uns den Ekel überhaupt erfahren läßt - dem Wesenskern des Menschen.
Ist die ursprüngliche, intuitive Ebene schwach, werden die
abstoßend-zersetzenden Verhältnisse von den jeweils Betroffenen schnell als
Normalität hingenommen, gewinnen Momente der menschlichen Existenz destruktiv-dominierende
Macht. Bei Elfriede Jelineks Roman "Die Klavierspielerin" kommt dies
gut zum Ausdruck. Dennoch halte ich insbesondere dieses Buch für ein sehr
zeitbedingtes, denn ausgehend von Menschen, deren innermenschliche Dimension
existentiell-schöpferisch-ethischer Wahrheit kraftlos geworden ist, kann, wenn
überhaupt, nur sehr vage und indirekt eine Vision entwickelt werden, die einen
Weg aus dem individuell-innerlichen und damit auch gesellschaftlich-sozialen
Niedergang weist. Beethovens 5. dagegen hat für mich visionäre Kraft, da sie an
meinen existentiellen Ursprüngen rührt und mich auf diese besinnt und in mir
direkt gemeinschaftsstiftend im wahrsten Sinne des Wortes wirkt. Aber dies ist
meine persönliche Erfahrung, d.h., es gibt keinen objektiven bzw. abstrakten
Maßstab, der die Gültigkeit der visionären Kraft der 5. Sinfonie von Beethoven
festlegt.
"Die Kultur- und Produktionstechniken hingegen
sind ihrer Natur nach auf technische Reproduzierbarkeit angelegt, aber auch sie
können natürlich weiterentwickelt (oder eben abgeschafft) werden." (116
Tr)
Ich wiederhole hier zunächst noch einmal, was ich
schon weiter oben sagte: Kurz' Vorstellung, es gäbe eine "bloß technische
Reproduzierbarkeit" von "intellektuellen und künstlerischen
Werken", stellt einen durch seine Theorie provozierten Irrtum dar, denn
jede rein technische Reproduktion schließt eine Reproduktion ihres spezifischen
kreativen Inhalts und somit die Verständlichkeit, Erkennbarkeit von
"intellektuellen und künstlerischen Werken" aus. Die Wechselbeziehung
und Einheit von technischem "Inhalt", womit in Wirklichkeit die
technische Form (einschließlich der Formprozeß) gemeint ist, und dem kreativen
und eigentlichen Inhalt kann man gar nicht zu einer Seite hin auflösen.
Den gleichen Irrtum setzt Kurz fort, indem er die
"Kultur- und Produktionstechniken" ebenfalls in das spezielle
Formdiktat-Inhalt-Gegensatz-Schema preßt und darüber aus dem Blickfeld
verliert, daß der "Inhalt" in der Form von "Kultur- und
Produktionstechniken" selber einen weit umfassenderen Inhalt nur
symbolisiert, daß das technische Reproduzieren nicht von dem schöpferischen
Reproduzieren des jeweiligen Inhalts abgetrennt werden kann. Die Übernahme von
im Kapitalismus konkret ausgeübten Produktionstechniken ist somit auch deren
konkret inhaltliche Übernahme, was bedeutet, daß also im Zusammenhang mit den
"unmittelbaren Praxis- und damit
Lebensfragen" (119 Tr)
unterschieden werden muß, welche inhaltlichen
Produktionstechniken keine spezifisch kapitalistischen, welche kapitalistisch
pervertierte, ausgeuferte, vergiftete und welche spezifisch kapitalistische
sind. Zu dieser Unterscheidung ist wiederum apriorisch nur das
Persönlichkeitssubjekt mit seinem schöpferisch-ethischen und
gemeinschaftsorientierten Urteils- und Umwertungsvermögen in der Lage, ein
Vermögen, das angewendet zugleich eine praktische Aufhebung oder Veränderung
der jeweiligen Produktionstechniken geistig vorwegnimmt oder, wenn möglich,
unmittelbar nach sich zieht. Kurz stellt jedoch nur fest, daß die
"Produktionstechniken natürlich weiterentwickelt (oder eben abgeschafft)
werden (können)"; wie dies aber zu geschehen hat, das muß gerade in einer
"gesellschaftlichen Auseinandersetzung jenseits der
Fetischverhältnisse", nachdem die "Aufhebung des Subjekts" und
jeglicher apriorischer Bezugnahme vollzogen worden ist, völlig unklar bleiben.
Allerdings wendet Kurz seine radikale Theorie, die die "Aufhebung des
Subjekts" proklamiert, nicht konsequent an. Schon die Beurteilung der
Teflonpfanne (120 Tr) vollzieht Kurz nicht konsequent nichtapriorisch, aber
auch die Einschätzung der bestehenden
"Kultur- und Produktionstechniken", wie
das "Brauen von Bier und das Keltern von Wein", "die
Schrift", "lesen und schreiben", "Naturwissen,
mathematische Kenntnisse usw." (119 Tr),
muß zumindest insgeheim davon ausgehen, das diese
Techniken und Kenntnisse nur dann eine "positive" (119 Tr) Bedeutung
haben, wenn sie dem menschlichen Leben im weitesten Sinne dienen und nicht
dieses zumindest indirekt als "Eigenqualität der Inhalte"
vereinnahmen bzw. beherrschen. Letzteres kann bei Bier ganz schnell passieren.
Auch die übermäßige Einengung der Verstandestätigkeit auf mathematische
Probleme birgt in sich die Gefahr, daß diese eingeengte Verstandestätigkeit zur
kompensatorischen Sucht wird und der jeweilige Mensch in der Folge seine
existentielle Mitte, seine ganzheitliche Identität sukzessive verliert. Diese
Gefahr wird natürlich insbesondere unter den Bedingungen des Kapitalismus
provoziert, aber es wäre ein Irrtum zu meinen, daß mit der Beseitigung des Kapitalismus
auch das Suchtproblem verschwindet. Denn das Suchtproblem reicht tiefer in die
Existenz des Menschen hinein, und dies zu leugnen, das wäre gegenüber den
suchtgefährdeten Menschen verantwortungslos. Unter den Bedingungen des
Kapitalismus macht man sich das mehr oder weniger in jedem Menschen latent
angelegte Suchtpotential freilich unverfroren zunutze und ist bestrebt, es im
Sinne der jeweiligen Erfordernisse des Kapitals unaufhörlich zu steigern. Die
eigentliche Lösung des Suchtproblems besteht wiederum letztlich immer nur in
der Stärkung des der Sucht widerstehenden ganzheitlichen
Persönlichkeitssubjekts.
"Zahllose Kultur- und Produktionstechniken...
wurden durch ganz verschiedene Fetischformen hindurch überliefert und
weiterentwickelt", aber "so wenig die Inhalte von der
gesellschaftlichen Form unabhängig sind, ebensowenig sind sie per se und
absolut nur in dieser Form darstellbar". (119 Tr)
Die Begründung für die nicht absolute
Darstellbarkeit der "Inhalte" in der "Form" hört sich
konkret so an:
"Das Brauen von Bier und das Keltern von Wein
wurde vor Jahrtausenden wahrscheinlich in Mesopotamien erfunden, aber wir
müssen nicht die gesellschaftliche Bewusstseinsform der alten vorderasiatischen
Kulturen haben und nicht an ihre Götterwelt glauben, um diese Techniken in
Grundzügen reproduzieren zu können. Dasselbe gilt selbstverständlich für die
Schrift und vieles andere. Lesen und schreiben wird man bis ans Ende der
Tage." (119 Tr)
Kurz sieht in dem "Artefakt" wie
"lesen und schreiben" eine grundsätzliche Bedeutung, die eben nicht
in der "Form" aufgeht, höchstens im Durchgang durch sie pervertiert
wurde. Dagegen ist nichts einzuwenden. Folglich ergibt sich daraus: Der
"Inhalt" kann nicht vollständig durch den "Form"-Inhalt
bestimmt werden, sondern hat einen ursprünglicheren Inhalt zur Voraussetzung,
an den sich anknüpfen läßt. Dieser primäre Inhalt muß das in der
"Form" Nichtdarstellbare der vergifteten "Inhalte" sein.
Aber wiederum finden wir dazu bei Kurz keine expliziten Ausführungen. Er
erwähnt den "Inhalt" wie "lesen und schreiben" und tut
quasi so, als wenn sich angesichts der allgemeinen Akzeptanz dieser
menschlichen Fähigkeit/Technik eine tiefergehende Untersuchung hierzu erübrigt.
Doch was macht eigentlich "lesen und schreiben" so bedeutsam? Reicht
es hinsichtlich dieser Technik aus, z.B. auf die "Eigenqualität der
Inhalte" hinzuweisen, unabhängig von deren Bezug zur Intention des
Menschen? Wie ich schon in meinen bisherigen Ausführungen verdeutlicht habe,
können wir die sogenannten "Artefakte", abgetrennt von dem Wesen des
Menschen, seinen Motiven, seinem ursprünglichen Wollen, seiner Fähigkeit zum
existentiell-schöpferisch-ethischen Transzendieren in die Welt hinein, nicht
wirklich begreifen, geschweige denn uns aneignen. Auch eine
"befreite Gesellschaft" (119 Tr)
wird die "Inhalte" nur reproduzieren
können, wenn sie zugleich die an einen neuartigen schöpferischen Akt gebundenen
wesentlichen Inhalte reproduziert, und letztere sind beispielsweise mit dem
"Brauen von Bier" grundsätzlich und zu allen Zeiten im Menschen
angelegt, unter anderem in seinem Bedürfnis, sich zu befreien, was gerade auch
hinsichtlich des Biers immer die Gefahr einer Suchtabhängigkeit nach sich
zieht, die mit der Stärkung der Persönlichkeit geringer wird, da die Persönlichkeit
von ihrer ursprünglich-existentiell erlebten Freiheit her die Illusion einer
›Befreiung‹ durch Drogen nicht ertragen kann und diese ablehnt. Das Bedürfnis,
sich zu befreien, kann auch mit dem zeitbedingten, sekundären Inhalt einer
"Götterwelt" einhergehen, welche, wie auch Kurz richtig feststellt,
nicht notwendig reproduziert werden muß, um insbesondere das "Brauen von
Bier" zu ermöglichen. Aber auf die in uns waltende, religiös erlebte
Freiheit wiederum können wir bei allem, was wir tun, nicht verzichten.
"Es geht jedenfalls gerade nicht darum, einen
'neuen Menschen' zu kreieren, gewissermaßen aus der Retorte einer Art
Meta-Modernisierung. Die Ideologie vom 'neuen Menschen' ist ein positives
Konstrukt, eine schlechte Utopie, wie der Mensch eigentlich sein solle, und
zwar mit Kriterien, die sich leicht dechiffrieren lassen als die Zwangsmale der
Wert-Abspaltungsform und ihres totalitären Anspruchs. Das Aufsprengen des
Kontinuums von Fetischverhältnissen hingegen ist an sich rein negativ; es geht
allein darum, etwas loszuwerden, nämlich die Zwangsform einer jede
Inhaltlichkeit vergewaltigenden abstrakten Form-Allgemeinheit." (122 Tr)
Der ›alte Mensch‹ ist ein ›Herdenmensch‹, mehr oder
weniger starr und unschöpferisch angepaßt an die allgemeinen pflichtgemäßen
Gewohnheiten und Gepflogenheiten seiner Zeit. In der kapitalistischen Moderne
nun feiert die Herdenmentalität Konjunktur. Die Funktionalität des maschinellen
Prozesses, die Ware und das Geld sind ihm zum Gleichnis geworden, dem er sich
mit extrem gesteigerter, selbstverleugnender Anpassungswut verschrieben hat. In
den Kerngebieten des Kapitals macht das Wohlstands-Proletariat in korrupter
Weise und über weite Strecken mit dem sogenannten Unternehmertum gemeinsame
Sache im Sinne der blindwütigen Anhäufung von Geld, ausgerichtet auf die
Käuflichkeit all der niederen und bis hin zum Exzeß vorangetriebenen
kompensatorischen Bedürfnisse eines veräußerlichten ›Lebens‹. Doch wie von Kurz
selbst immer wieder mit Stringenz aufgezeigt, gelangt der kapitalistische Selbstlauf
getreu des Maschinen-, Geld- und Warenprinzips mittlerweile bis in die
Kerngebiete des Kapitals hinein an die absolute Grenze seines immanenten
Widerspruchs; die in den Kerngebieten gewohnte Arbeits- und
Wohlstandssicherheit bekommt Risse, erfährt abermals eine massive
Konzentrierung bzw. Einengung seines Erfassungsgebietes. Der auf den
Kapitalfetisch eingeübte und fixierte ›alte Mensch‹ ist einem stetig wachsenden
Konkurrenzdruck ausgesetzt, der ihn zunehmend physisch, seelisch und geistig an
den Rand seiner Belastbarkeit drängt. Über die Bedrohung, dem Druck zu
erliegen, aus der Arbeits- und Wohlstandssicherheit herauszufallen und den
versprochenen und erhofften Kompensationen verlustig zu gehen, die bisher ein
entleertes und würdeloses Opferdasein erträglich werden ließen, erheben sich im
›alten Menschen‹ dunkle Zweifel an der Funktionstüchtigkeit des
selbstregulativen Wirtschaftssystems. Aber die Zweifel des ›alten Menschen‹,
sofern er nicht wirklich seiner Geistesverfassung auf die Spur kommt,
orientieren sich weiterhin im starken Maße an den eingetrichterten und
verinnerlichten Maßstäben seines bisher gewohnten ›Lebens‹, das sich mitsamt
des globalisierten Kapitalismus in einem zunehmenden Zersetzungs- und
Auflösungsprozeß befindet. Verklärend beginnt er nun, seine Erinnerungen an die
›guten‹ alten Zeiten aufzublähen. Die Wiederherstellung dieser Zeiten ist daher
sein sehnlichster Wunsch, der im modernen Westen insbesondere auf die
Wiederherstellung eines hohen wirtschaftlichen Wachstums gerichtet ist.
Kant wollte einen "neuen Menschen", doch
sein "kategorischer Imperativ" ging ebenso dem ›alten Menschen‹ auf
den Leim, wie es jeglicher Gesellschaftskritik passiert, die sich an starren
formalen Grundsätzen zu orientieren versucht und diese neu formuliert dem
Menschen als Maßgabe vorsetzt. Den Raum, den Kant der Freiheit in seiner
"Kritik der reinen Vernunft" gewährte, schränkte er bezogen auf den
Menschen wieder ein, dem er Mündigkeit, die er von ihm verlangte, im
persönlich-freiheitlichen, schöpferisch-ethischen Sinne letztlich nicht
zugestand. Kants Denken wurde falsch, sobald es sich vom Risiko der
schöpferischen Freiheit abwandte, ohne die der Mensch eben kein Mensch im
eigentlichen Sinne ist und sein kann. Freiheit bedeutet Gefahr, und vor dieser
fürchtete sich Kant gerade in bezug auf die dunklen, irrationalen Seiten des
Menschen. Kant war sich philosophisch sehr wohl der Unmöglichkeit eines absolut
geschlossenen Systems bewußt, hatte aber offensichtlich nicht den Mut, die
Offenheit auch für die menschliche Existenz, auf die es primär in unserem Leben
ankommt, im weitesten Sinne zuzulassen. Dem aus der Tiefe heraus letztlich
nicht berechenbaren Menschen mißtraute er, indem er das Programm einer praktischen
Vernunft entwarf. Und genau am Mißtrauen knüpft die kapitalistische Moderne an,
deren Apologeten von je her überzeugt davon waren, daß der Mensch vom Grunde
her entsprechend fetischorientierter Vorurteile ›faul‹ und gänzlich
selbstsüchtig ist und deshalb einem selbstregulativen System zugeführt werden
muß. In diesem System jedoch können die ›Faulheit‹ und die Selbstsucht des
Menschen nun plötzlich dem Verwertungsprozeß zweckdienlich sein: Die im
gesellschaftlichen Rahmen unerreichbaren Ziele uneingeschränkten Faulenzens und
grenzenloser Selbstsucht geraten erneut über den Anreiz der Ware, des Geldes
etc. ins Blickfeld des Menschen und werden jetzt von ihm mit allen Mitteln
angestrebt und treiben ihn zu Höchstleistungen an, was wiederum allen Menschen zugute
kommen soll. Die Realität bestätigt diese primitiv-affirmative Theorie des
kapitalistischen Systems jedoch nicht wirklich, höchstens nur oberflächlich und
rechtfertigend; die sich ausbreitende physisch-seelisch-geistige Entwürdigung
und Verelendung des Menschen, Hungersnöte und Kriege, das massenhafte Töten und
Quälen von Tieren und etc. werden dabei als Randphänomene beiseitegeschoben.
Das Ausmaß des Elends hat in einer globalisierten kapitalistischen Welt massiv
zugenommen. Selbst das, was dem Menschen ›zugute‹ kommt, Geld, Wohlstand etc.,
kann im Rahmen der Kapitalakkumulation selber nur ein Auswuchs destruktiver
Verhältnisse und Beziehungen sein und letztlich nur destruktiv wirksam werden.
Solange es sich also bei der Idee "vom 'neuen
Menschen' " um "ein positives Konstrukt, eine schlechte Utopie"
hinsichtlich "der Wert-Abspaltungsform und ihres totalitären
Anspruchs" handelt, ist in Wirklichkeit der ›alte Mensch‹ gemeint, der die
Verantwortung für sein Handeln nicht in schöpferisch-ethischer Weise übernehmen
kann und will. Die Idee vom neuen Menschen kann aber ebensogut eine völlig
andere sein, geboren aus unserer existenzrückbezüglichen Wahrnehmung,
Intuition, über die wir in der tätigen transzendierenden Bezogenheit zum Leben
in dieser Welt den Sinngehalt unseres Potentials zu wahrer Menschlichkeit
schöpferisch erfassen. Dieser intuitiv in uns lebende neue Mensch begreift sich
nicht als ein an Fremdbestimmung gewöhntes Rollen-Subjekt, sondern als dessen
schöpferische Entgegnung und Überwindung. Der neue Mensch im Sinne wahrhafter
Menschlichkeit kann nicht von außen kreiert werden, er muß sich jeweils
konkret-individuell fortwährend neu erschaffen aus seinem existentiellen
Potential heraus hin zur echten Gemeinschaft im weitesten Sinne. Die wahre Idee
vom neuen Menschen meint den schöpferisch-ethischen, den liebenden, den
schöpferisch verantwortlichen Menschen, der das starre Gerüst
fetischorientierter Gewohnheiten, der die Herdenmentalität abgeworfen hat und
von daher selbstbestimmt Gemeinschaft realisiert. Die wahre Idee vom neuen
Menschen meint nicht den ein für alle Mal kreierten "neuen Menschen",
der auf diese Weise wiederum sofort zum ›alten‹ wird, sondern den sich
fortlaufend im Leben befreienden, den sich fortlaufend mit inneren und äußeren
Widerständen schöpferisch-ethisch auseinandersetzenden Menschen. Zum neuen
Menschen wird man, indem man fortwährend aus der Quelle seiner wahrhaftigen
Wesenskräfte schöpft und sich um deren Verwirklichung bemüht. Und sich befreien
heißt eben nicht, sich von aller Schlechtigkeit, von allem Bösen abzuwenden,
als wenn man schon dadurch den inneren Frieden in Vollkommenheit erlangen
könnte. Sich befreien heißt, den destruktiven Tendenzen in uns und in der Welt
offen ins Auge zu blicken und, ausgehend von der in uns waltenden
existenzdialektischen Kraft und Zwei-Einheit des Menschlichen und Göttlichen,
eine schöpferische Antwort zu geben. Im Akt des wahrhaft schöpferischen
Antwortens, in welchem Freude und Leid des Menschen dicht beieinander liegen,
können wir jeweils die wahrhafte Fülle des Lebens als Persönlichkeiten in
Gemeinschaft finden. Es kann also nicht nur darum gehen, "etwas
loszuwerden", wie Kurz meint. Die Vision vom neuen Menschen kann eine
befreiende, eine zur Befreiung motivierende sein, fern aller "schlechten
Utopien". Die wahrhaft geistige Kraft als Bestimmung des Menschen wendet
sich gegen das Konkurrenzprinzip, das schon in der Natur wirksam ist; die
androgyne Grundverfassung des Menschen ermöglicht erst die relativierende,
schöpferisch gewendete Hereinnahme der natürlich angelegten
Geschlechtertrennung in den ganzheitlichen Lebens- und Gemeinschaftsvollzug,
ohne dabei die natürliche Trennung beseitigen zu müssen.
"Diese Negativität der Befreiung ist eine
Befreiung zum unbefangenen Umgang mit der Eigenqualität der Inhalte aller Art.
Damit entsteht erst durch die Negation hindurch im positiven Umschlag ein
Kriterium, das hinsichtlich dieser Inhalte gerade keinen totalitären Anspruch
vermittelt und in diesem Sinne keine chinesische Mauer zwischen Vergangenheit
und Zukunft errichtet. Zu diesen Inhalten gehören auch die Menschen selber, in
ihrem Gewordensein wie in ihrem Werden, in ihrer Verschiedenheit. Dazu gehört
ferner die Einsicht, daß Krankheit und Leid zwar gelindert, aber nicht gänzlich
abgeschafft werden können; und daß der Tod zwar hinausgeschoben, aber nicht
schlechthin überwunden werden kann. Es geht um die Abschaffung der unnötigen
Leiden und der gesellschaftlich selbst erzeugten, um den angemessenen Umgang
mit den natürlichen wie den historisch-gesellschaftlichen Inhalten;..."
(122 Tr)
Das Kriterium der "Eigenqualität der Inhalte
aller Art" macht aus dem Menschen im Verhältnis zu den
"Inhalten" außerhalb seiner selbst wiederum einen Nachbeter; der
"Inhalt" Mensch insbesondere wird zu einem von vielen degradiert. Wie
nun der "Inhalt" Mensch mit den sonstigen "Inhalten"
verbunden werden kann, muß auf der Grundlage des Kriteriums der
"Eigenqualität" ein unlösbares Problem bleiben. Und was macht
"die Menschen selber, in ihrem Gewordensein wie in ihrem Werden, in ihrer
Verschiedenheit" wesentlich aus? Die "Einsicht, daß Krankheit und
Leid zwar gelindert, aber nicht gänzlich abgeschafft werden können; und daß der
Tod zwar hinausgeschoben, aber nicht schlechthin überwunden werden kann",
ist zunächst nur eine rational-oberflächliche Feststellung und sagt nichts über
die tiefere Bedeutung vor allem des Leidens und des Todes aus. Die Problematik
des Inhalts des "Inhalts" Mensch findet keine tiefergehende
Berücksichtigung.
Meine Mutter wußte, daß sie auf Grund ihrer
Krankheit bald sterben würde, aber sie war dennoch bis zum Schluß mit dem Tod
insofern nicht einverstanden, als das dieser den Sinn des Lebens in Frage
stellte. Und den Sinn des Lebens erfaßte meine Mutter aus ihrem authentischen
schöpferisch-ethischen Wesenskern heraus, den sie kraftvoll im Leben
verwirklichte. Meine Mutter war zum Schluß verzweifelt angesichts ihrer Liebe,
deren Verwirklichung ihr nicht mehr vergönnt sein würde. Sie spürte, daß ihre
tätige Liebe nicht ersetzt werden kann und den sie Liebenden unwiederbringlich
verlorengehen wird. Sie spürte und wußte um die Bedeutung ihrer Liebe
insbesondere für ihre Nächsten. Der Tod ist in dieser Hinsicht über die
Einsicht seiner Unvermeidlichkeit hinaus unakzeptabel. Dies sagt uns das geistige
Herz. Meine Mutter hatte keine Angst vor dem Tod, aber sie litt sehr stark
unter dem Dahinschwinden ihrer Lebenskraft. Kurz vor ihrem Tod wirkte sie zum
Teil schon sehr apathisch und deprimiert. Keiner wird je mit Sicherheit
ergründen können, welche Einsichten einem Menschen in den letzten Stunden
seines Lebens widerfahren. Aber aus dem einfühlenden Mitleiden heraus glaube
ich zu wissen, daß meine Mutter am Ende die christliche Wahrheit: "Mein
Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Mt 27,46) mit Bitternis
erfahren mußte. Aber selbst die letzte Bitternis trägt in sich den Funken des
Lebens, der Liebe, das letzte verzweifelte Aufbäumen gegen den Tod. Der Tod hat
nicht das letzte Wort, da er immer, bis zuletzt, an das Leben gebunden ist.
Doch die liebenden Menschen neigen dazu, den Tod mit der übriggebliebenen Hülle
des geliebten Menschen, mit dessen toten Körper, zu identifizieren, d.h., sie
trennen auf diese Weise den Tod als eine eigenständige Wesenheit vom Leben ab.
Nur so scheint am Ende der Tod den Sieg über das Leben davonzutragen. Aber der
Tod ist wie das Leben primär ein geistiges Phänomen und ansonsten, als eine
allgemein-objektive Tatsache, gar nicht vorhanden, d.h., der Tod macht nur in
Verbindung mit dem bewußt erlebten Leben Sinn. Bevor es keine mit Bewußtsein
ausgestattete Wesen gab, hat niemand den Tod erfahren. Deshalb ist das, was
nach dem Leben kommt, schon lange nicht mehr der Tod, sondern ein für den
Menschen unergründliches Mysterium der Ewigkeit. Das Leben jedoch ist
einerseits auf tragische Weise mit dem Tod, mit der Vergänglichkeit überhaupt
verknüpft und gewinnt andererseits erst hierüber seine eigentliche
widerständige Kraft. Wir leiden am Tod hin zum Leben. Das Leiden des liebenden
Menschen ist deshalb der grundlegendste Prozeß des Widerstandes. Und aus dem
Leiden heraus erhebt sich die Freude, die Fülle des Lebens. Wohin jedoch das
letzte Leiden führt, dies vermag niemand mit Gewißheit zu sagen; denn mit dem
endgültigen Ende des Lebens in dieser Welt endet auch sein immanenter
›Gegenspieler‹ - der Tod. Insofern wird mit dem Ende des Lebens der Tod
überwunden.
Meine Mutter liebte die Natur. Die Natur war ihr
Energiespender, in ihr fühlte sie sich geborgen, fühlte sie Vertrauen und
Wahrheit. Bis kurz vor ihrem Lebensende erzählte sie immer wieder begeistert,
wie sie als jugendliches Mädchen im Wald einen Baum umarmt und dabei in
übervoller Freude, in übervollem Glück all ihre Verbundenheit mit der Natur und
dem Leben zugleich empfunden hatte. Motiviert vor allem auch durch diese Verbundenheitsintuition
versuchte meine Mutter das menschliche Leben mitzugestalten, zu verändern, zum
Besseren zu wenden. Doch am Ende ihres Lebens fügte ihr eben jene Natur
leidvolle Schmerzen zu, zermürbte ihre inneren Kräfte. Die geliebte Natur
zeigte sich diesmal von einer anderen Seite, was meine Mutter schwer
erschütterte. Hinzu kam, daß auch das soziale Leben sich nicht wirklich im
Sinne wahrer Menschlichkeit gewandelt hatte. Neue Grausamkeiten, Unterdrückung,
Naturzerstörung, Ausbeutung, Geld- und Kosumsucht, Automatisierung des Lebens,
Entfremdung, die partielle Zunahme menschlicher Kälte etc., eben Kapitalismus
pur, waren nach wie vor und mehr denn je Realität.
Einerseits, im natürlichen Sinne, ist man gezwungen,
sich mit dem Schicksal einer unheilbaren Krankheit abzufinden, andererseits,
vom geistigen Herzen her, jedoch nicht. Der Mensch hat ganz unabhängig vom
kapitalistischen Verwertungszusammenhang vom Grunde her zunächst das ethische
Bedürfnis, Krankheiten möglichst einzudämmen, z.B. mit Hilfe der Medizin, um
das Leiden zu mindern. Doch letztlich ist das über den Menschen verhängte
tragische Schicksal einer schmerzhaften Krankheit seitens der Natur oft nicht
zu verhindern. Im Gegensatz dazu ist der Kapitalismus kein unvermeidliches
Schicksal, obwohl er in der heutigen Zeit zunächst das Schicksal des in ihn
hineingeborenen Menschen ist. Es gilt umfassend zu begreifen, daß der
Kapitalismus grundsätzlich menschengemacht ist und deshalb gänzlich abgeschafft
werden kann. Wesentlich ist der historisch entstandene Kapitalismus ein
Ausdruck des Versagens des Menschen hinsichtlich der Gestaltung seines Lebens.
Das in Liebe tätige Herz meiner Mutter konnte gegen die von Menschenhand
errichteten destruktiven Mächte dieser Welt nichts Entscheidendes ausrichten.
Von daher hatte die ohnmächtige Bitternis meiner Mutter am Ende ihres Lebens
einen wahrhaft menschlichen Grund. "Ich bin der Weg und die Wahrheit und
das Leben." (Joh 14,6) Das ist die primärste existentielle Erfahrung
göttlich-menschlicher, d.h. christlicher Ganzheitlichkeit, aus der heraus
niemals akzeptiert werden kann, daß die Welt in Ordnung ist, wie sie nun einmal
ist. Der letzte in Bitternis erfahrene Schmerz muß vielleicht gerade von jenen
Menschen durchlebt werden, die sich eben weder mit wohlig angepaßter
Zufriedenheit in dieser Welt einrichten noch ein mehr oder weniger
stumpfsinniges Rollendasein hinnehmen konnten und nun von dieser Welt Abschied
nehmen müssen, obwohl es so dringend ihrer tätigen Liebe bedarf. So gesehen ist
die letzte Bitternis das Los eines jeden in und um die Welt schöpferisch
leidenden Menschen.
Die "Abschaffung der unnötigen Leiden und der
gesellschaftlich selbst erzeugten" ist eines der grundlegenden sozialen
Anliegen eines schöpferisch-ethisch motivierten Menschen. Der "Inhalt"
Mensch ist also ausschlaggebend - der Mensch als ein wahrhaft
verantwortungsbewußtes Wesen. Nur als ein wahrhaft verantwortungsbewußtes Wesen
ist der Mensch zum "angemessenen Umgang mit den natürlichen wie den
historisch-gesellschaftlichen Inhalten" überhaupt in der Lage. Aber die
"Abschaffung der unnötigen Leiden und der gesellschaftlich selbst
erzeugten" an sich berührt eben noch nicht die letzten Fragen, sondern
ermöglicht erst eine umfassendere Auseinandersetzung mit jenen Fragen und deren
geistige Vertiefung. Der "angemessene" bzw. verantwortungsvolle
"Umgang mit den natürlichen wie den historisch-gesellschaftlichen
Inhalten" ist nicht Selbstzweck, sondern ausschließlich von zugeordneter
Bedeutung für die Verwirklichung des sich fortwährend wahrhaft erneuernden
Menschen in der Gemeinschaft.
Der Tod ist völlig unangemessen und macht alle
Sicherheit zunichte. Die Annäherung an den Tod ist ein geistiges Ereignis im
Leben eines Menschen, das alles umwertet. Der Tod, der uns bewußt oder unbewußt
in jedem Augenblick des Lebens bedrängt, wirft uns mehr oder weniger auf die
Sinnfrage zurück. Der Tod ist die tiefste und erschütterndste Erfahrung am
Rande und am Ende des Lebens. Der Tod ist sowohl das Eingangstor zur Liebe als
auch ihr Ende. Dies sind keine bloßen Gedankenspielereien, sondern
Beschreibungen existentiell realer Erfahrungen. Krankheit ist nicht einfach nur
eine Tatsache, die wehtut, physisch schmerzt, sondern ist ein Anklopfen des
Todes und kann zugleich die Frage nach dem Sinn des Lebens aufwerfen. D.h., die
Frage nach dem Tod ist nicht nur eine Frage nach dem physischen, sondern auch
nach dem geistigen Tod innerhalb des Lebens, der uns immer wieder zu übermannen
droht. Die "Einsicht, daß Krankheit und Leid zwar gelindert, aber nicht gänzlich
abgeschafft werden können", beantwortet in keiner Weise die Frage, warum
es immer wieder Krankheit und Leid geben wird, welche nicht nur physischer,
sondern vor allem auch seelisch-geistiger Art sein können. Gerade die
seelisch-geistige Problematik des Menschen wird in einer postkapitalistischen,
postfetischverhafteten Zeit immens an Bedeutung gewinnen. Gemäß seiner
authentischen Bestimmung wird der Mensch in viel stärkerem Maße mit dem inneren
Ringen nach echter Menschlichkeit zu kämpfen haben, ein Ringen, welches mit
Tragik verbunden ist, die im Beziehungsprozeß insbesondere zwischen den
Menschen nicht ausbleiben kann. Die Tragik der Selbsterkenntnis besteht unter
anderem darin, daß wir Menschen eben nicht von vornherein gute Menschen sind,
sondern daß wir jeweils im Verhältnis zur Gemeinschaft, zu den anderen
Menschen, das Gute in uns auf der Grundlage unserer ethisch orientierenden
Intuitionen und in der Auseinandersetzung mit den in uns ebenfalls angelegten
destruktiven Kräften fortwährend schöpferisch verwirklichen müssen, die man
sich nur ungern eingesteht, deren Bewältigung selber einen immensen Kraftakt
erfordern kann und nicht immer gelingt. Wie Berdjajew sagt: ››Das Gute, das
Gesetz des Guten vermag nicht, das Böse zu überwinden: darin liegt die Quelle
der ethischen Tragik.‹‹ (Nikolai Berdjajew: Von der Bestimmung des Menschen,
Gotthelf-Verlag, Bern-Leipzig 1935, S. 119) D.h. weiterhin, Selbsterkenntnis
erfordert immer wieder die schöpferische Infragestellung des bis dahin Guten in
uns. Das gleiche gilt auch für das vermeintlich Gute der kulturellen
Erzeugnisse ("Inhalte"), für unser Schaffen im weitesten Sinne. Wir
Menschen neigen dazu, das zunächst auch in guter Absicht Geschaffene zu
verabsolutieren und an diesem verbissen festzuhalten, obwohl es sich vom sich
fortlaufend wandelnden schöpferisch-sittlichen Werten und Umwerten aus nicht
mehr rechtfertigen läßt.
Doch tiefer noch als die ethische Tragik des Guten
ist die Tragik der Liebe. Die immanente Tragik der Liebe wird erst dann in
voller Stärke hervortreten, wenn die sozialen Konflikte und Mißstände soweit
aufgelöst werden konnten, daß sie den Menschen notwendig nicht mehr
vereinnahmen und auf diese Weise im Geiste beherrschen. Diesen Zusammenhang hat
Berdjajew vor allem auch in seinem Buch "Von der Bestimmung des
Menschen" überzeugend aufzeigen können.
Die Liebe ist zum einen die erschütterndste, die
alles - einschließlich den Tod - überragende existentielle Erfahrung, die den
ganzen Menschen erfassen kann und seine primärste Motivation zur wahrhaften
Menschlichkeit ist - vor allem auch hinsichtlich des Widerstandes gegenüber
einer zur Grausamkeit neigenden Welt -, während sie zum anderen eng mit dem Tod
verwoben ist, wie ich es im ersten Teil meiner Kritik angedeutet habe. Gerade
in dem Konflikt mit dem Tod kann die Kraft der Liebe in ihrer Tiefe und
Wahrhaftigkeit in Erscheinung treten. Tragisch ist die Liebe, da sie konkret
ausgerichtet, d.h. persönlich ist. Die allgemeine, gleichermaßen alles
umfassende Liebe ist dagegen eine suggerierte Illusion, ist ein Ausweichen, ein
Vermeiden echter Liebe. Die Konkretheit der Liebe erlaubt es nicht, die Liebe
gleichermaßen auf die verschiedenen ››geistigen Lebenssphären‹‹ aufzuteilen.
Die Liebe verlangt letztlich, daß die Person ihre liebende Kraft ganz für einen
der am höchsten erachteten geistigen Werte, z.B. für die Liebe zu einer anderen
Person oder für die Liebe zur schöpferischen Berufung welcher Art auch immer,
hingibt, ohne dies in absoluter Vollkommenheit zu können. Im Menschen entsteht
aus dem Verhältnis der am höchsten erachteten ››geistigen Lebenssphäre‹‹ zu den
anderen, den nun mehr oder weniger vernachlässigten ››geistigen
Lebenssphären‹‹, die ebenfalls als wichtig erachtet werden,
existentiell-innerlich Tragik. Die Forderung der Liebe nach konkreter Hingabe
setzt die Fähigkeit des Menschen zur im schöpferischen Sinne freien sittlichen
Wahl voraus. Weitergehend zitiere ich Berdjajew:
››Die Liebe trägt in sich das ewige tragische
Prinzip, das in keiner Beziehung zu den sozialen Formen steht und unzertrennlich
und geheimnisvoll mit dem Tod verbunden ist. Die Tragik der Liebe würde
bestehen bleiben, wenn auch nur zwei liebende Herzen in der ganzen Welt
existiert hätten. Tragisch ist nicht nur die unbeantwortete Liebe; noch
tragischer ist vielleicht die Liebe, die von Gegenliebe gekrönt wird. Nur wenn
alle sozialen Hindernisse überwunden sind, vermag sich die ewige Tragik der
Liebe in ihrer Reinheit zu offenbaren. Sie entsteht, wenn die Menschen
vollkommen frei geworden sind, und wenn vor dem Angesicht der Freiheit sich ein
Zusammenstoss der Werte ereignet: der Liebe mit der Freiheit oder mit der
schöpferischen Berufung, oder mit der höheren Liebe zu Gott und der göttlichen
Vollkommenheit; wenn anders dem liebenden Menschen der Kampf zufällt um die ewige
ebenbildliche Gestalt des Menschen, mit der die Liebe verbunden ist, mit dem
sie aber auch in Konflikt geraten kann. In den letzten Tiefen der Liebe
enthüllt sich Feindschaft. Falscher Instinkt, falsche Anschauungen und Ideen,
falsche Angst vor der Gesellschaft, - all dieses verhindert die Menschen,
offenen Herzens miteinander zu verkehren und hebt die Möglichkeit wesentlicher
und echter Beziehungen auf. Das menschliche Leben ist durch atavistische
Aengste und Schrecknisse entstellt. Die Befreiung von ihnen ist eine grosse
sittliche Aufgabe. Allein, diese Befreiung bringt mit sich nicht nur
Lebensfreude; sie enthüllt auch eine neue Lebenstragik.‹‹ (Nikolai
Berdjajew: Von der Bestimmung des Menschen, Gotthelf-Verlag, Bern-Leipzig 1935,
S. 215)
Ich möchte mit dem Hinweis auf die existentielle
Problematik des Menschen nur andeuten, womit es konsequent durchdachte radikale
Kritik insbesondere an der westlichen Moderne letztlich zu tun haben muß im
Gegensatz zur vermeintlichen Möglichkeit einer "emanzipatorischen
Aufhebung des Subjekts" (SH 221). Zur Vertiefung der existentiellen
Problematik im Verhältnis zur sozialen verweise ich von meiner Seite deshalb
auf das umfangreiche Werk Nikolai Berdjajews, in welchem eine beeindruckend
einzigartige schöpferische Dichte tiefen integralen Denkens zum Ausdruck kommt.
Die Welt ist keine fertige, vollkommene Ordnung,
sondern verlangt eine schöpferische Antwort des Menschen, der jedoch nach
Vollkommenheit, nach dem Ideal strebt. Die Einsicht des Menschen muß dahin
gelangen, daß es kein Ideal auf Erden geben wird, denn dieses kann immer nur
eine das Leben vernichtende Totalität sein. Das Ideal, das der Mensch in
Wahrheit anstreben kann, ist gänzlich anderer Art, d.h. nur geistig, in der
Fülle des Lebens, der Liebe und Freiheit zu finden. Der Mensch in Wahrheit hat
das authentisch-ethische Bedürfnis, aus seiner schöpferischen Fülle heraus die
Welt tätig-liebend zu vervollkommnen und Leid und Krankheit zu lindern. Solange
der Mensch liebt, wird er diesem Bedürfnis nachkommen. Zerstört er seine Liebe,
die an die Verwirklichung seiner gemeinschaftsorientierten Persönlichkeit
gebunden ist, zerfällt und stirbt auch sein ursprünglich wahrhaftes Bedürfnis.
D.h. wiederum, die innere Wahrheit des Menschen bildet die primäre
Voraussetzung seiner schöpferischen Arbeit und Tätigkeit und Beziehungen im
Leben. Diese apriorische innere Wahrheit ebenfalls als eine "blinde
Form-Konstitution des Bewußtseins" (193 SH) bezeichnen zu wollen, würde zu
einem extrem pessimistischen Menschbild führen: Der Mensch entbehrt jeglicher
Freiheit und ist von innen heraus zu keinem sinnvollen Handeln in der Lage. Der
Realität des Kapitalismus liegt genau dieses absolut hoffnungslose Menschbild
zugrunde.
"Wenn Jappe sich dabei auf das Moment der
Nicht-Übereinstimmung der Individuen mit den Fetischverhältnissen beruft, vor
allem den modernen, dann scheint mir auch darin ein Missverständnis. zu liegen.
Diese Nicht-Übereinstimmung existiert zwar, aber allein in Bezug auf die
jeweilige Fetischform und deren Leidensverhältnisse. Sie zeigt, dass die
Individuen in den Formzuständen nicht aufgehen. Aber dieses Nicht-Aufgehen kann
keineswegs als selbständige positive Bestimmung von ihrer Vermittlung mit der
Negativität der Fetischverhältnisse abgetrennt und zu einem 'ontologischen
Wesen' der Vormoderne gemacht werden, auf das zu bauen wäre. Es gibt zwar die
Nicht-Übereinstimmung, aber es gibt kein solches Wesen.
Das Leiden ist kein Wesen. Erlebtes Leiden kann
Ausgangspunkt und negativer Maßstab der Kritik werden, aber es ist kein eigenes
Sein, das unabhängig von dem, woran gelitten wird, als positiver Wesensgrund
angerufen werden könnte. Dann hätten wir es gerade mit dem ideologischen
Konstrukt einer von den aufklärerisch-modernen Verirrungen bloß frei zu
legenden 'menschlichen Natur' zu tun,..." (127/128 Tr)
Wenn man die Innerlichkeit des Menschen dynamisch
auffaßt, läßt sich sehr wohl, wenn nicht gerade von einem
"ontologischen", so doch von einem existentiellen Wesen sprechen. Die
dynamische Auffassung begreift den Menschen aus seinen ursprünglichen
Wesenskräften heraus, die der Mensch sukzessive im Beziehungsverhältnis zur
Welt, diese transzendierend, zu verwirklichen trachtet. Das in Erscheinung
treten der Wesenkräfte verläuft vor allem tragisch, widerspruchsvoll, da der
Mensch eben nicht von vornherein in Güte daherwandelt, sondern Güte, d.h. seine
Persönlichkeit realisieren muß etc.; so kann z.B. der im Menschen angelegte
natürliche Egoismus ihm gerade unter den Bedingungen des Kapitalismus schnell
zum Verhängnis werden. Das ursprünglich existentielle Wesen des Menschen ist
auch keines der Vormoderne, sondern das Ewige in uns nicht im zeitlichen,
sondern im wahrhaft menschlichen, universalen Sinne. Als vom Ursprung her
geistiges, als ein von Freiheit und Liebe herrührendes Wesen ist der Mensch
überzeitlich und von daher apriorisch. Wäre dem nicht so, und dies habe ich in
meiner Kritik zu verdeutlichen versucht, müßte der Mensch gänzlich
fremdbestimmt handeln, was ihn jedoch letztlich völlig lebensunfähig machen
würde, da er so auf die Welt nicht mehr aktiv reagieren könnte. Ohne einen
letzten Rest Selbstbestimmung kommt kein Mensch im Leben zurecht, müßte er
alsbald sterben, sofern man ihn künstlich nicht weiter am Leben erhält. In der
Tiefe des Menschen existiert somit das "Nicht-Aufgehen" als der
Impuls seines Lebens, der jedoch erst im Beziehungsverhältnis zur Welt vom
Menschen schöpferisch-neuartig hervorgerufen und bestimmt werden kann und sich
erst in diesem Zusammenhang entweder als wahr oder lügenhaft bzw. unwahr bestimmen
läßt. Die existentielle Bestimmung des Menschen zur Freiheit, Liebe und
Wahrheit erfordert Mut zum Widerstand, da die Welt immer wieder Anpassung
fordert, die bis zu einem gewissen Grade vom Menschen geleistet werden muß. Was
sich als wahr vom Herzen her bestimmen läßt ist letztlich kein Ding, sondern
die wahrhaft lebensvolle gemeinschaftsorientierte personale Existenz, die erst
ein ethisches Handeln ermöglicht.
Es ist der Mensch, der leidet. Und er leidet als
körperlich-seelisch-geistiges, d.h. als ganzheitliches Wesen am Gegenstand, am
"Inhalt", an der "jeweiligen Fetischform und deren
Leidensverhältnisse"; er leidet am Widerspruch seines Wesens zu dem, was
sich zu seinem Wesen zumindest partiell im Widerspruch befindet. Dies schließt
nicht aus, daß der Widerspruch, an dem gelitten wird, verdrängt oder auf andere
Dinge, Prozesse, Menschen - z.B. Ausländer, Juden etc. - projiziert wird, in
der Hoffnung, die vermeintliche Ursache des Leidens und das Leiden selbst
schnell und bequem loswerden zu können und nicht in die eigene Tiefe gehen zu
müssen. Der Widerspruch und das daran anknüpfende Leiden wird physisch,
seelisch und geistig erfahren und umfaßt immer alle drei Wesenheiten des
Menschen zugleich, ganzheitlich; anders existiert kein Mensch, überhaupt kein
personales Wesen. Das Leiden setzt einen existentiell-wahrhaften und nur in
diesem Sinne "positiven Wesensgrund" voraus, es erhebt sich geradezu
aus diesem, ansonsten würde der betroffene Mensch an keinem Gegenstand, an
keiner Widrigkeit etc. leiden, könnte bis zum Umfallen, bis zum Tod
fetischangepaßt funktionieren, ohne sich zu wehren, ohne sich überhaupt wehren
zu wollen. Dies allerdings passiert zuweilen dann, wenn die Persönlichkeit des
Menschen soweit vom Fetischdrill geschwächt worden ist, daß der Mensch nicht
mehr die Kraft und den Mut aufbringen kann, der inneren
apriorisch-authentischen Stimme, die vom Grunde her Widerstand fordert, zu
folgen. Aber genausogut kann der innere Drang zur Befreiung von
Leidenszuständen pervertieren, indem dieser Drang auf eine vermeintliche
Leidensursache projiziert und an dieser exzessiv zerstörend ausgelassen wird.
Nichtsdestotrotz ist das Leiden ein ganzheitlicher Prozeß des mehr oder weniger
selbstbewußten personal-subjektiven Wesens, höherentwickelte Tiere eingeschlossen.
Es gibt eine ursprünglich "menschliche Natur", sie ist geistiger Art
und äußert sich vor allem auch im authentischen Gewissen, welches unabdingbar
mit einem Leidensprozeß verknüpft ist.
"Das Leiden ist kein Wesen." Das stimmt,
denn außerhalb der personalen Ganzheitlichkeit existiert es nicht. Es ist der
Mensch, der leidet und nicht das Leiden selbst. Das Leiden existiert im Verbund
mit dem ganzen Menschen, ist eines seiner Wesensgründe, erhebt sich aus der
real erlebten geistig-religiösen ›Natur‹ des Menschen und ist eine Weise der
Erkenntnis, die niemals nur das Leiden an sich beinhaltet, sondern immer im
Zusammenhang mit dem ganzen Selbstbewußtsein erfahren wird, einschließlich der
Ratio, auch wenn letztere vielleicht nur am Rande erscheint. Die Auffassung von
Anselm Jappe, es gäbe quasi ein "natürliches Wesen" im Menschen,
"das sich heute gegen die Zumutungen des Kapitalismus wehrt" (127
Tr), ist dahingehend kritikwürdig, daß es sich bei diesem "natürlichen
Wesen" um eine "... 'Natur'..." handeln soll, die "im
Rahmen der Menschheitsentwicklung" auf eine "binnengeschichtliche
'Natur'..." (127 Tr) reduziert, eingeengt wird. Woher sich diese
"binnengeschichtliche 'Natur'..." letztlich speist, wird nicht
klargestellt bzw. herausgearbeitet. Das es sich dabei um einen im
geistig-persönlichen Sinne überzeitlichen, übergeschichtlichen, ein vom
Menschen mehr oder weniger leidenschaftlich, emotional-religiös erlebten
existentiellen Wesensgrund handeln muß, wird von Jappe ausgeblendet oder nicht
erkannt. Ein existentieller Wesensgrund, von dem aus der Mensch
urtümlich-schöpferisch in die Welt hinein transzendiert, paßt nicht in eine
Theorie, die dem freiheitsnegierenden Glauben anhängt, der Mensch sei vor allem
ein geschichtlich und gesellschaftlich determiniertes Wesen. Von Kurz dagegen
wird jede wie auch immer geartete Behauptung eines "positiven
Wesensgrundes" als "ideologisches Konstrukt einer... bloß frei zu
legenden 'menschlichen Natur'..." abgelehnt; die Ablehnung richtet sich
insbesondere gegen die "Aufklärungsideologie" und ihre "bloße
Umkehrung". Kurz möchte, daß sich der Mensch von jedem Halt, auch von dem
Inneren, uneingeschränkt löst, da er undifferenziert hinter jedem Halt die
gleiche Totalitäts-, "Form"- bzw. Herrschaftsgefahr vermutet. Doch
damit wird der Mensch generell seiner selbstbestimmten Freiheit, überhaupt
seiner Lebensfähigkeit beraubt. Darüber hinaus macht die quasi geforderte
allgemeine Haltlosigkeit den Menschen zum Spielball der "Eigenqualität der
Inhalte aller Art".
"Nicht zuletzt das Mutterwesen wäre als
ontologischer Grund der Befreiung ein ebenso grauenhafter Flop wie das
Arbeitswesen. Zusammen mit der 'Männlichkeit' ist auch die 'Weiblichkeit'
abzuschaffen. Gerade in dieser Hinsicht gilt umso mehr: Ikonoklasmus now!"
(128/129 Tr)
Die extremen Formen der
Geschlechter-"Abspaltung" (128 Tr) und der Kapitalismus, in welchem
diese "Abspaltung" äußerst pervertierend vorangetrieben wird, sind
gesellschaftliche Realität. Dennoch bleiben die männlichen und weiblichen Anlagen
in einem jeden Menschen grundsätzlich existent, auch wenn die weiblichen
Anlagen insbesondere vom rollenverhafteten Mann schnell und gern verdrängt
werden. Eine pauschale Forderung nach Abschaffung von "Männlichkeit"
und "Weiblichkeit" dringt nicht zum Kern der Geschlechterproblematik
vor, zumal diese Begriffe die Realität nur überspitzt wiedergeben.
"Männlichkeit" oder "Weiblichkeit" an sich, absolut,
existieren so nicht, weil sich der Mensch überhaupt so absolut nicht aufspalten
kann, nicht einmal im Kapitalismus.
In der Fülle meines Lebens erlebe ich
schöpferisch-geistig in mir sowohl die eine als auch die andere Seite des
Geschlechts als wesentliche, unaufhebbare Bestandteile meiner Persönlichkeit.
Berdjajew sprach von dem androgynen Wesen des Menschen als einer existentiellen
Realität und hat sich dabei insbesondere auf Jakob Böhme berufen. Der androgyne
(d.h. der männliche und weibliche), der beide Seiten existenzdialektisch
umfassende Wesenszug des Menschen versetzt ihn in die Lage, die auch schon von
Natur aus angelegte Getrenntheit von "Männlichkeit" und
"Weiblichkeit" hin zu einem schöpferischen, einfühlsamen,
gemeinschaftlich-liebenden Verbund der natürlichen Geschlechter zu erheben. Die
natürlich angelegte Trennung in Geschlechter hat mit dem Erscheinen des Menschen
eine neue Dimension erlangt. Vor allem auch aufbauend auf dieser natürlichen
Trennung kann die Intuition transzendierender Liebe zur Liebe der einander
liebenden Persönlichkeiten erhoben werden. Die Persönlichkeit, die als
Mikrokosmos und Mikrotheos ein ganzheitliches Universum ist, wird dabei als
höchster bzw. tiefster geistiger Wert erfahren und erkannt. Die Liebe lebt von,
vertieft sich in der schöpferischen Spannung der Zwei-Einheit der einander
Liebenden und schwächt sich ab, wenn die Spannung nachläßt. Jedoch die
ganzheitliche Erfüllung der Liebe erfahren die einander Liebenden in Freude und
Seeligkeit, welche sich mit jener schöpferischen Spannung in Wechselwirkung
befindet und diese Spannung fortlaufend aufhebt. Die schöpferische Spannung
ergibt sich vor allem auch aus der unablässigen Konkretheit echter Liebe. Ein
von Natur aus hermaphroditisches Wesen würde wohl nur schwerlich zur geistigen
Verwirklichung der zwei-einheitlichen Liebe fähig sein, die den Gipfel der
Liebesfähigkeit des Menschen ausmacht. Die Zwei-Einheit des Menschen erfüllt
sich aber auch schon in der Mutter- bzw. Vaterliebe zum Kind und umgekehrt.
"All das bedeutet natürlich letzten Endes, dass
radikale Kritik keinen apriorischen positiven Maßstab haben kann, dass sie
immer ungesichert ist,..." (129 Tr)
Ich sage, daß radikale Kritik, obwohl sie einen
apriorischen Maßstab hat, und zwar die schöpferisch-ethische Wahrheitsintuition
des Menschen, dennoch nicht gesichert ist im Sinne eines vom Grunde her starren
"Form"-Gerüstes, das keine Freiheit im Schaffen, im Lieben etc. mehr
erlaubt. Die Wahrheitsintuition, das reine Gewissen, ist der ursprünglichste
Impuls des Menschen zur wahren Menschlichkeit, ist Ausgangspunkt der
Selbsterkenntnis. Aber das allzu Menschliche ist auch verlogen, nährt sich aus
der Quelle der Freiheit, die eine Freiheit zum ›Guten‹ und zum ›Bösen‹ ist, was
einem die Selbsterkenntnis nicht immer leicht macht. Die Wahrheitsintuition
steht nicht ausgeformt vor uns, ist kein kruder "Formzwang", ist kein
vorgefertigtes positives Konstrukt. Im Leben muß die Wahrheit in der
Auseinandersetzung mit den komplexen Bestrebungen menschlichen Wollens,
Wirkens, Schaffens, die sich aus einem ebenfalls komplexen natürlichen,
sozialen, personalen Beziehungsgeflecht ergeben, begleitet von Zufällen und
Schicksalsfügungen, errungen werden. Dabei hatte der Mensch immer auch das
Bedürfnis, die ›Dinge‹ zu vereinfachen, den ›Dingen‹ ihren freien Lauf zu
lassen. Dies führte unter anderem zu solch unmenschlichen Ausartungen wie das
›liberalistische‹ Wirtschaften - eine prozessuale Erscheinung
menschenunwürdiger, verbrecherischer Verantwortungslosigkeit, ein Verzicht auf
Liebe und Wahrheit. Die Erhebung von Liebe und Wahrheit zur Grundlage der
Gestaltung des sozialen Lebens ist kein problemloses Unterfangen, ist zuweilen
ein Wagnis, eine Gefahr, kann äußerst unbequem sein, ist nicht von Vorteil
hinsichtlich egozentrischer, individualistischer Ansprüche. Die Erhebung von
Liebe und Wahrheit ist vor allem mit der vermeintlich einfachen Lösung eines im
Sinne der Autopoiesis selbstregulativen Systems in keiner Weise vereinbar, das
den Menschen zur sekundären Randfigur herabwürdigt. Der Mensch muß im
Mittelpunkt stehen, aber nicht als destruktives Herrschaftswesen, sondern als
gemeinschaftsstiftende Persönlichkeit, die einzig auch der in allen Menschen
konkret und leidenschaftlich verwurzelten Wahrheitsintuition schöpferisch bzw.
frei gerecht werden kann. Der wahrhaft neue Mensch als gemeinschaftsstiftende
Persönlichkeit transzendiert in Liebe in die Welt hinein - und das heute schon
und zu allen Zeiten seines Existierens. Doch dieser neue Mensch weiß auch, daß
er kein von vornherein unproblematisches Wesen ist, daß er die immanente Tragik
der Liebe unhintergehbar in sich trägt, die jede Perfektion, jede absolute
Vollkommenheit im ganzheitlichen Leben ausschließt. In Wahrheit vollkommen kann
nur die Liebe im Augenblick ihrer geistig-existentiellen Erfüllung sein.
Entscheidend im Gegensatz zu jenen
"... 'Potenzen'... Soweit dieser Begriff unter
jene Bestimmung fällt, die ich [R. Kurz] als Artefakte der Geschichte im
weitesten Sinne zu fassen versucht habe" (131 Tr),
ist die schöpferische Potenz des Menschen, welche
auch die Grundlage zur Schaffung sämtlicher "Artefakte der
Geschichte" bildet. Mit Schöpferkraft hat der Mensch neue Welten
hervorgebracht - ökonomische, kulturelle, geistige. Die schöpferische Potenz
des Menschen erhebt sich aus der Potenz des Weltengrundes überhaupt. Ohne eine
ursprüngliche Potenz zu Neuem wäre die Welt überhaupt nicht im Prozeß und somit
nicht existent. Woher kommt die Potenz, die zur Ausbildung einer neuartigen
Qualität führt? Der Physik-Szientismus erhebt den Anspruch, die Welt bald oder
irgendwann vollständig erklären zu können. Aber selbst die neusten Erkenntnisse
zur Stringtheorie können diesem Anspruch nicht einmal annähernd entsprechen;
sie sind lediglich ein reines Aufzählen und Beschreiben von mikrokosmischen
Zuständen, Prozessen. Weshalb irgendein ursächlicher Zustand oder Prozeß in
einen qualitativ höheren, umfassenderen transformiert, wie es zur Ausbildung
einer neuen, zuvor nicht dagewesenen Qualität kommen kann, bleibt für die
empirisch-theoretische Wissenschaft unerklärlich. "Potenzen" wie die
"Verhüttung von Eisen" oder die
"Produktion von Mikrochips" etc. (131 Tr)
sind zwar von beachtlicher, aber dennoch nur von
sekundär zugeordneter Bedeutung. Dies gilt insbesondere für die Verwendung
dieser "Potenzen" in einem
"veränderten gesellschaftlichen Kontext".
(131 Tr)
Entschieden wichtiger sind die schöpferischen
Potenzen des Menschen, die zur Ausbildung einer neuen Qualität des
"gesellschaftlichen Kontextes" führen und die sekundären
"Potenzen" entsprechend nutzen und verändern. Der Mensch muß
Vergangenheit und Zukunft in die Gegenwart schöpferisch-ethisch integrieren.
D.h.: Die schöpferisch-ethische Zusammenführung von Beständigkeit und
Veränderung muß zur Wirklichkeit unseres Lebens werden. Erst auf der Grundlage
dieser Zusammenführung können die Menschen die
"chinesische Mauer zwischen Vergangenheit und Zukunft"
(Tr 122)
wahrhaft beseitigen.
Das Entstehen von Neuem ist eine täglich zu
beobachtende Realität. Sie wirft die Frage nach der Herkunft des Neuen auf, da
es eben neu und nicht eine einfach addierende Aneinanderreihung von schon
Vorhandenem ist. Das Neue an sich, das dem neu Entstandenen anhaftet, entsteht
aus dem Nichts heraus. Das Neue ist verbunden mit einem ursprünglich
schöpferischen Akt. Und dieser Akt zeitigt in die Welt hinein seinen mehr oder
weniger relativ stabilen, manifesten Ausdruck und verfällt somit unmittelbar
nach seinem Hervorbrechen einem Altwerden, einem Zustand der partiellen
Erstarrung. Doch dies ist notwendig, da sich die Freiheit ansonsten fortlaufend
verflüchtigen würde. Der Zusammenhang von Freiheit und Notwendigkeit ist in dieser
Welt unaufhebbar. Der ursprünglich schöpferische Akt ist, konsequent zu Ende
gedacht, der Beginn der Welt überhaupt und aller in ihr stattfindender
Prozesse. Er ermöglicht das Leben und stellt uns Menschen zugleich vor das
Problem des mit der Vergänglichkeit einhergehenden Todes, der die in uns
waltende schöpferische Kraft herausfordert, da wir uns niemals wirklich mit dem
Tod abfinden können. Denn im Menschen brennt das Feuer des Lebens, welches von
des Menschen religiös-leidenschaftlicher Tiefe her nach Ewigkeit strebt; und
dieses Streben ist zunächst keine Frage des Willens, der sich auch gegen das
Leben selbst in jederlei Hinsicht wenden kann, oder schon gar nicht der reinen
Vernunft des Menschen, sondern es ist die Grundverfassung, das ursprünglichste
sich existentiell-emotional offenbarende Geheimnis eines jeden personalen
Wesens.
Das Neue entsteht aus dem Nichts heraus, da es zuvor
eben nicht vorhanden war. D.h., im fortwährenden Entstehen von Neuem in der
Welt offenbart sich unmittelbar die unermeßliche Potenz und unergründliche
Tiefe des Nichts. Berdjajew spricht von der unergründlichen, zur Existenz im
weitesten Sinne strebenden Freiheit, die als Urereignis ›von unten her‹ das
Urgeheimnis der Welt und des Lebens überhaupt ausmacht. Im Menschen erreicht
die Freiheit ihre konkreteste, einzigartige, aber auch exponierteste
Verwirklichung. Jeder Mensch personifiziert in unverwechselbarer Weise die
Freiheit in sich, um deren ganzheitliche Hinführung zur Liebe, die ebenfalls
existentiell ›von oben her‹ urgegeben ist, der Mensch zu ringen hat, eine
Liebe, die eben nicht von vornherein mit der Welt im weitesten Sinne vereinbar
ist. Das Urmoment des existenzdialektischen Ringens findet zwischen der
Freiheit und der Liebe statt und ist zum einen an eine authentische
Selbsterkenntnis gebunden, die angesichts der Freiheit zum ›Guten‹ und zum
›Bösen‹ sehr beschwerlich sein kann, und erfordert zum anderen zuweilen Mut und
Aufbegehren gegenüber einem die Liebe und das Leben verhindernden
Anpassungszwang; und je mehr sich der Mensch von den äußeren Zwängen befreit,
desto stärker gerät er in die Tragik seines inneren gemeinschaftlichen Lebens,
für deren Bewältigung hin zu Augenblicken der Erfüllung in Seligkeit und Freude
es keinerlei Garantie geben kann, weil dies wiederum dem Wesen der Freiheit
widerspricht. Die Fülle des Lebens läßt sich nicht erzwingen, sie ist ein
freies, spontanes Ereignis. Die Verwirklichung der apriorischen Freiheit im
Menschen ist entgegen der bürgerlichen Freiheitsvorstellung "immer ungesichert"
und ist unabdingbar an die mitunter äußerst mühsame Realisierung der
Persönlichkeit geknüpft.
Die Naturwissenschaft der Moderne klebt förmlich an
der Logik des Ursache-Wirkungs-Prinzips, um bloß nicht den Vorwurf, den Ruch
der Unwissenschaftlichkeit auf sich zu ziehen. Man muß jedoch zugeben, daß
dadurch die bodenlose Mystifikation natürlicher Vorgänge verhindert wird. Das
Problem der Naturwissenschaft ist ja auch gar nicht deren empirisch und logisch
ausgerichtete objektivierende Erkenntnisweise, sondern deren hartnäckiger
Glaube, in objektivierender Manier dem letzten Geheimnis des Weltzusammenhangs
auf die Spur kommen zu können. Auch dies ist ein unbewältigter
Allmachtsanspruch, eine Überhöhung eines einseitig ausgerichteten Geistes, der
dann gern in einem scheinbar umfassenden ›objektiven‹ Weltbild dingfest gemacht
wird. Doch gerade die vom Wesen her überlogische existentielle Realität des im
Menschen waltenden Geistes und seiner Herkunft kann von der Naturwissenschaft
nicht wirklich berührt werden, sondern beispielsweise höchstens des Geistes
korrelative Abläufe im Gehirn. Die Naturwissenschaft neigt dazu, die geistige
Realität, das im weitesten Sinne geistige Leben der Herkunft nach auf
natürliche Vorgänge zu reduzieren. Besonders skurril wirkt in dieser Hinsicht
der Versuch, die existentielle Realität der Liebe auf Sexualität und
Arterhaltung zu reduzieren. Aber auch bezüglich des sich in der geistigen und
der belebten und unbelebten natürlichen Welt ereignenden fundamentalen
Phänomens der spontanen Entstehung von neuen Qualitäten muß uns die
Naturwissenschaft eine Erklärung schuldig bleiben. Das Neue, das sich notwendig
auf der Grundlage des Alten erhebt und dieses nicht absolut ersetzen kann,
sondern integrieren muß, ist eben neu und nicht wiederum ein mit dem Alten
identisches oder aus diesem lediglich zusammengesetztes Altes. Die Entstehung
des Neuen an sich ist eben eine Neuschöpfung, ein spontanes, schöpferisches und
somit vom Grunde her ein übergesetzliches und überlogisches Geschehen. Ob Realität
des Geistes oder überhaupt das unvermittelte Erscheinen einer gänzlich
neuartigen Qualität - die Naturwissenschaft, die streng
empirisch-objektivierenden und logischen Regeln folgt, erreicht hier ihre
absolute Grenze. Die Wissenschaft vom Geiste kann essentiell immer nur in der
Philosophie des Geistes selbst ihren vermittelnden Ausdruck finden. Dabei muß
sich die Philosophie des Geistes gleichwohl naturwissenschaftlicher Methoden
und Einsichten bedienen, da das ganzheitliche Leben insbesondere des Menschen
eben sowohl geistige als auch natürliche Elemente beinhaltet. Genauso greift ja
die Naturwissenschaft auf den Geist als reales Erkenntnis- und
Motivationszentrum zurück - das aus dem Geiste hervortretende Bedürfnis, den
Sinn der Welt zu ergründen und zu erkennen. Aus dem Geiste heraus kann der
Mensch erkennen, daß die Welt nicht nur nicht durch und durch logisch ist,
sondern darüber hinaus Momente des Unerklärlichen, des Geheimnisvollen, des
Mystischen enthält. Gerade existentialistisches Denken aus der Wahrnehmung, der
Erfahrung, der Realität des menschlichen Geistes heraus ist eine geeignete
philosophische Methode, unter Einbezug rational-logischer Ordnungsprinzipien
Rückschlüsse auf das im naturwissenschaftlichen Sinne Unerklärliche zu ziehen.
So ist sich der Mensch seiner geistigen Schöpferkraft mehr oder weniger bewußt,
die in die Welt eine neuartige Qualität einführen kann, die es vorher noch
nicht gab. Aus dem menschlichen Schaffen heraus, das primär ein geistiges ist,
kann man erkennen, wie Neues entsteht, eben nicht gänzlich aus dem Alten,
sondern spontan neuartig ›von unten‹, aus dem Nichts, der unergründlichen
Freiheit, heraus hin zu einem ›von oben‹ bestimmten Ziel, das allerdings auch
ein fetischverhaftetes sein kann und auf diese Weise im erheblichen Maße nicht
der Urmotivation nach Erfüllung wahrer Menschlichkeit, des Lebens entspringt.
Real wurde das Schaffen in der bisherigen Geschichte der Menschheit meistens
aus einem Gemisch wahrer und fetischverhafteter Motivationen gespeist. Daß das Neue
ein Neues ist und das Moment des Nichts enthält, ergibt sich vorerst aus der
Logik des Denkens und ist keine existentielle Erfahrung. Aber im Schaffen von
Neuem können wir unsere existentielle Freiheit, den Akt der Spontaneität
unserer schöpferischen Eingabe, den Akt unserer schöpferischen Kräfte bewußt
wahrnehmen, fühlen, erkennen im überlogischen Sinne. Auf diese Weise, im realen
existentiell-geistigen Vollzug, läßt sich das sowohl in der geistigen als auch
in der natürlichen Welt ereignende fundamentale Phänomen der Entstehung von
neuen Qualitäten als spontaner Akt der Freiheit über die logische Bestimmung
hinaus verifizieren. Die naturwissenschaftliche objektivierende Empirie vermag
dies nicht, sie kann nur das Neue feststellen, aber den Akt seiner Schöpfung
selber mit ihren logischen Mitteln nicht nachvollziehen und erklären. Die
existentiellen Erfahrungen dagegen können durch sprachliche Metapher und
Allegorien symbolisch ausgedrückt und, darauf aufbauend, philosophisch
umfassend verarbeitet werden. Dennoch, der ursprüngliche Akt der Freiheit aus
dem unergründlichen potenzgeladenen Nichts (›Ungrund‹ bei Jakob Böhme) heraus
ist in der natürlichen Welt ein anderer als in der existentiell-geistigen. Der
schöpferische Akt des Menschen ist ein bewußt-persönlicher, der in der im
geistigen Sinne unbelebten natürlichen Welt ein unbewußt-unpersönlicher. Und
für uns Menschen wird es niemals direkt bewußt nachvollziehbar sein, wie sich
der schöpferische Akt in der unbewußten Natur über die natürlichen Gesetze hinaus
in unpersönlicher Weise vollzieht, wie die Richtung des Aktes bestimmt wird,
die schließlich unter günstigen Bedingungen zum Erscheinen des menschlichen
Wesens führte. Uns bleibt nichts weiter übrig, als einen unbewußt wirkenden
Logos in der Welt spekulativ anzunehmen, der unserem schöpferisch-bewußten
Geist korrespondiert und in uns schließlich eine neue personal-ganzheitliche,
d.h. lebendige Dimension erlangt, erlangen kann, aber nicht in einem alles
beherrschenden, sondern in einem die Gewalt ausschließenden
schöpferisch-liebenden Sinne. Der Begriff ›Logos‹ beinhaltet sowohl die
logische als auch die alogische, überlogische Ausrichtung der Welt. Bei Hegel
verkam dieser Begriff der Bedeutung nach zu einer auch den Menschen
unpersönlich durchherrschenden Weltvernunft, die sich listig allgemeine Geltung
verschafft. Doch anders als bei Hegel kann man sagen, daß der Logos über sein
logisches Element hinaus wesentlich das zur geistigen Freiheit hinwirkende
überlogische Sinn-Element der Welt ist, daß der Logos erst im freien Geist der
gemeinschaftsstiftenden Persönlichkeit, in der Wahrheit und Fülle des Lebens
verwirklicht werden kann.
Wir können sagen, daß es einen Logos gibt,
genausogut können wir diese Spekulation ablehnen. Aber auch die Ablehnung kann
nur Spekulation sein und kein Beweis für das Nichtvorhandensein eines
überlogisch wirkenden Sinn-Elements in der geistig unbelebten Natur. Wenn man
mir klar aufzeigte, daß die spekulative Annahme eines Logos mit der Bestimmung
des Menschen zur wahren Menschlichkeit unvereinbar sei, würde ich diese Annahme
sofort fallen lassen. Zweifel an Spekulationen und deren Korrekturen müssen
immer wieder geleistet werden. Seit geraumer Zeit jedoch bekenne ich mich immer
wieder auch zum Glauben an einen unbewußt wirkenden Logos, den der Mensch mit
der Realisierung seiner Persönlichkeit konkret und individuell einzigartig als
seinen göttlichen, ihn ursächlich motivierenden Wesensgrund erlebt, der vor
allem auf den universalen ›Prinzipien‹ der Liebe, Freiheit und Wahrheit basiert;
zumal die Welt ohne die Annahme solch eines Logos unverständlich bliebe bzw.
nur bruchstückhaft erkannt werden könnte. Es ist der Sinn, der lebendige Logos
in uns, der sich aus unserer nicht ruhenden Sinnbedürftigkeit heraus in der
Tiefe unserer Seele offenbart. Die Sehnsucht nach einem sinnerfüllten Leben
erhebt sich aus der Wahrheits-, Freiheits- und Liebesfähigkeit der
Persönlichkeit. Der Mensch der Moderne flieht jedoch diese Fähigkeit, weil sie
ihm eine leidens- und mühevolle Selbsterkenntnis abverlangt, die mit einem
fetischorientierten Leben unvereinbar ist. Lieber klammern sich die modernen
Menschen mehr oder weniger verzweifelt an die vermeintliche Obhut einer
Fetischabhängigkeit und hoffen, daß dabei noch ein bißchen Freiraum für ihre
Liebe abfällt, die sie dann gesondert, illusionsbeladen und oft pervertierend
etc. zu verwirklichen suchen.
Die primär existentiellen schöpferisch-ethischen
Potenzen des Menschen machen es möglich, daß sekundäre
äußerlich-gegenständliche "Potenzen", die entsprechend Kurz'
Begriffsbestimmung zu den
"Artefakten der Geschichte im weitesten
Sinne" (131 Tr)
zu zählen sind, vom Fetischkontext, in dem sie
stehen, befreit werden können. Auch diese "Artefakte" werden
verändert: Einem im weitesten Sinne notwendigen beständigen Inhalt des
jeweiligen. "Artefakts" können neue hinzugefügt werden bzw. der
bisherige Inhalt des "Artefakts" wird zu einem Inhalt neuer Qualität
transformiert. Die "Eigenqualität der Inhalte" kann
schöpferisch-ethisch vom Menschen umgewandelt und erweitert werden, der die
"Inhalte" auf diese Weise in einen authentischen universal-ideellen
und nicht in einen unauthentischen allgemein-abstrakten Wertzusammenhang
stellt.
Auch die geistige "Potenz" der
"Distanzfähigkeit" (131 Tr)
ist abhängig von der inneren Verfassung des
Menschen, inwieweit er noch im Bann der Fetischorientierung steht oder sich von
dieser weitgehend befreien konnte. Das schöpferisch-freie Schaffen und das
Wechselspiel von Distanz und Nähe sind eng mit dem Erwachen der Persönlichkeit verbunden.
Die Persönlichkeit des Menschen war in der sogenannten Vorgeschichte, in der
der Mensch der Natur noch im starken Maße verhaftet und schicksalhaft
ausgeliefert war, schwächer ausgebildet. Der Glaube an die Geister der Natur
stand einer tiefgründigen inneren Befreiung im Wege. Der Ur- bzw.
"steinzeitliche" (132 Tr)
Mensch tat sich noch schwer, Distanz zur Natur zu
entwickeln und zuzulassen, um von einer mehr magischen Nähe in eine mehr
praktisch-vernunftgeleitete, wenn auch zunächst noch mythisch, mythisch-rational
bestimmt, wechseln zu können. Die ökonomischen Voraussetzungen ließen eine
notwendige Eindämmung der schicksalhaften Abhängigkeit von der Natur vorerst
nicht zu. Robert Kurz hat jedoch Recht, wenn er sagt, daß man deshalb nicht von
"einer schlechthinnigen 'Distanzlosigkeit'
aller vormodernen Gesellschaft" sowie von "ihrer schlechthinnigen
'Individualitätslosigkeit'..." (132 Tr)
sprechen kann, um schließlich damit
"die spezifische Barbarei und Borniertheit der
modernen Subjektform irgendwie als 'Fortschritt' rechtfertigen zu können".
(132 Tr)
Das wäre dann
"pure bürgerlich-aufklärerische Ideologie, die
alle Menschheit vor dem 18. Jahrhundert in der unterschiedslosen Dämmerung der
'Naturverhaftetheit' vegetieren sieht". (132 Tr)
Archäologische Funde aus urgeschichtlichen Zeiten
zeigen, daß das Leben der Menschen damals einen stark religiös-emotionalen
Charakter trug und mit einer tiefen, wenn auch magischen Naturverbundenheit
einherging. Selbst diese magische, aber immer noch natürliche Verbundenheit
besaß einen weitaus größeren Wahrheitsgehalt als jede äußerlich-devotionale
Fetisch-Fixierung auf von Menschen geschaffene Dinge und Prozesse, in die der
moderne Mensch einseitig seine Bedeutung projiziert, an welche er seine
ursprünglichen religiösen Emotionen, Leidenschaften und Liebesgefühle
ersatzweise und diese dabei zunehmend pervertierend anzulehnen versucht und
anlehnt, was wesentlich zur Erhaltung der Fetischverhältnisse beiträgt. Der
Mensch hat seine magische Verbundenheit zur Natur über Zwischenstufen durch
eine grundsätzlich von ihm miterschaffene magische und unnatürliche
Fetisch-Fixierung ersetzt. Der Moderne schließlich geht das Geheimnis des
Lebens allmählich verloren; es wird mehr und mehr ein flaches, verlogenes und
in Wahrheit ungeliebtes Leben.
Die Moderne ist tatsächlich durch eine besonders
"bornierte" Fetischabhängigkeit gekennzeichnet, die im Gegensatz z.B.
zu den urgeschichtlichen Verhältnissen dazu tendiert, den Menschen an die
Oberfläche des Lebens zu katapultieren, wodurch der Mensch in eine regelrechte
Objektivierungswut gerät. Kant und der objektive Idealismus haben dies
sicherlich befördert, aber es ist die Moderne selbst, die schließlich die für
sie genehmen Schlüsse auch aus der kantischen und der objektiv-idealistischen
Philosophie gezogen hat, einer Philosophie, die insgesamt weit mehr als nur
eine einfache Aufklärung war, was Vorurteile und Verirrungen nicht ausschließt.
Auch Kant und z.B. Hegel waren Menschen und konnten nicht in Systemen bzw.
"Formzuständen... aufgehen". Und es wäre meines Erachtens nicht
gerecht, wenn man sagen würde, daß von diesem "Nicht-Aufgehen" in
ihren Philosophien überhaupt nichts zu merken ist. Dem widerspricht auch die
komplexe Wirkung, die diese Philosophen ausgeübt haben - siehe auch Berdjajew.
Wie gesagt, das Wechselspiel von Distanz und Nähe
zwischen den Menschen ist eng mit dem Erwachen der Persönlichkeit verbunden. An
das Persönlichkeitserwachen knüpft sich eine gesteigerte bewußte Wahrnehmung
der individuellen Einzigartigkeit und Ganzheitlichkeit, der schöpferischen
Kräfte, der Freiheit und der Fülle des Lebens, aber auch der Gefahren, der
Ängste, des Todes. Das Persönlichkeitserwachen geht einher mit der
Herausbildung von Gaben und Talenten, mit der Erweiterung der innermenschlichen
Qualität (Sinn) etc. Eine besondere Gabe des Menschen ist seine Fähigkeit zur
Distanz und Nähe. Der Mensch als Persönlichkeit meidet die einverleibende Nähe
anderer Menschen, geht auf Distanz, um sich schöpferisch den anderen Menschen
nähern, um Vertrauen gewinnen zu können. Dieser Prozeß ist mit Liebe und
Freiheit verbunden, kann aber auch im Haß enden, wenn sich in den
Beziehungsprozeß niedere destruktive Momente wie Gewalt- und Machtbestrebungen,
Ressentiments unterschiedlichster Art mischen, von welcher Seite auch immer,
und diese destruktiven Momente nicht schöpferisch bewältigt werden können. Das
Wechselspiel von Distanz und Nähe hat im Menschen, da grundlegend basierend auf
Liebe und Freiheit, einen ursprünglich religiösen Zug. Das Wechselspiel Distanz
und Nähe kann man auch schon bei hochentwickelten Tieren beobachten. Unbewußt
tritt dies auch in der Natur auf. Doch dies gehört eben der natürlichen und
nicht der geistigen Dimension an. ›Distanzfähigkeit‹ an sich ist somit eine
über den sozialen und kulturellen Zusammenhang hinausreichende
persönlichkeitsbildende geistige Fähigkeit des Menschen. Und ich spreche hier
von der ›Distanzfähigkeit‹ als eines schöpferischen Aktes, die der konkreten
Beziehungsfähigkeit des jeweiligen Menschen dient. Heutzutage läßt sich jedoch
genau das Gegenteil einer beziehungs- und persönlichkeitsfördernden
›Distanzfähigkeit‹ beobachten. Man kann sagen, daß die Menschen der Moderne in
besonderer Weise dazu neigen, geschuldet dem allgemein um sich greifenden
Objektivierungswahn, in ein persönlichkeitsauflösendes autistisches Dilemma zu
fallen, welches die Welt in dieser Art bisher noch nicht gekannt hat. Robert
Kurz stellt hinsichtlich
"der kannibalischen Figur des Hannibal
Lecter" (132 Tr),
fest:
"Die 'Distanzfähigkeit' wird hier zum
unüberbrückbaren Abgrund. Es ist einerseits jene Distanz, die Prokrustes seinen
Mitmenschen gegenüber einnimmt, und es ist andererseits die Distanz zur
gesamten Welt und allen Dingen, an der Tantalus leidet. In letzter Instanz erweist
sich das männlich-abspaltungslogische Wertsubjekt als vollkommen
beziehungsunfähig. Die Absolutheit der Distanz schlägt allerdings in eine
ebenso absolute Distanzlosigkeit um, in eine autistisch bedingte
Aufdringlichkeit, die den Gegenstand der unmöglich gewordenen Zuneigung
schließlich buchstäblich in der Pfanne landen läßt. Die Unmöglichkeit, den
Gegenstand oder die Person als andere mit eigener Qualität gelten zu lassen,
macht die unmittelbare Einverleibung zur ultima ratio." (133 Tr)
Als reale Beispiele der "Einverleibung"
verweist Kurz im Kapitel "Hannibal Lecter oder die "Potenz" der
Distanzfähigkeit" (S. 129 ff, Tr) auf den "Kannibalen von
Rotenburg", auf "(die) vielen tausend Angebote auf den Tummelplätzen
des Web..., wenn es darum geht, Menschen zu foltern und aufzufressen", auf
"Adolf Eichmann oder" den "inzwischen hingerichteten
Oklahoma-Attentäter Timothy McVeigh".
Jedoch nur überspitzt läßt sich von einem
"unüberbrückbaren Abgrund" sprechen, zu der eine destruktiv
orientierte "Distanzfähigkeit" führen kann, zumal einerseits
"das männlich-abspaltungslogische Wertsubjekt" nur ein anerzogener
Aspekt des Menschen ist und nicht den ganzen, geschweige denn das Wesen des
Menschen ausmacht und andererseits jenes "Wertsubjekt" an sich keine
›Distanzfähigkeit‹ kreieren kann, sondern diese nur destruktiv, "nach
Prokrustes-Manier", einschränkt. Kurz' Feststellungen relativierend, würde
ich deshalb sagen: ›Die extreme Zunahme der Distanz kann spontan in eine extrem
ausgeübte Distanzlosigkeit umschlagen.‹ Und dies kann sich sehr wohl unter
anderem bis zu dem angeführten Extrem des "Kannibalen von Rotenburg"
ausweiten. Doch die "Absolutheit der Distanz" würde den einzelnen
Menschen gänzlich lebensunfähig machen; er wüßte überhaupt nicht mehr, was um
ihn herum ist und geschieht, worum es ihm und worum es den anderen geht oder
worum nicht etc. Selbst der "Kannibale von Rotenburg", "Armin
M.", wäre in keiner Weise tätig geworden, hätte er das Wechselspiel von
Distanz und Nähe nicht beherrscht, wenn auch in äußerst perfider Weise, und es
unterordnend in seine Bestrebungen eingebunden. Und Herr M. suchte dabei nicht
nach wirklicher Nähe, nach Liebe, es ging ihm nicht um den ganzheitlichen
geistigen Wert der Persönlichkeit. Ganz im Gegenteil, mit seiner kannibalischen
Tat wollte er zumindest insgeheim auch den geistig-ethischen Anspruch
erniedrigen und letztlich vernichten. Analog verhalten sich die neonazistisch
orientierten Menschen: Sie wollen keine ›sentimentalen‹ mitleidigen Gefühle für
die in ihren Augen ›hassenswerten Feinde‹ aufkommen lassen. Manchen von ihnen
fällt dies jedoch auf Dauer so schwer, daß sie gelegentlich sogar umdenken -
auch das kommt vor. Andere beginnen sich selbst zu hassen, weil sie Mitleid für
einen erniedrigten, leidenden Menschen empfinden, oder sie hassen
denjenigen/diejenige der/die Mitleid in ihnen hervorruft, welches sie nicht
ertragen können und wollen. Gern wird in einer Welt der mitleidlosen ›Stärke‹
das von echtem Mitleid und Mitgefühl getragene und gerade deshalb widerständige
Handeln des Menschen als ›Ausdruck von Schwäche‹ denunziert. Die Realisierung
der Persönlichkeit wird als Gefahr erachtet in einer Welt, die auf
erbarmungslose ›Stärke‹ und abgeklärte Rücksichtslosigkeit als Mittel für
niedere Zwecke aller Art setzt. Für diese fetischorientierte Welt wird die
Persönlichkeit zum Feind und muß in einem selbst bekämpft werden,
kompensatorisch durch sadistische Handlungen an willfährigen Opfern oder durch
masochistische oder mechanische Anpassung an eine höhere bzw. Unterwürfigkeit gegenüber
einer höheren Macht welcher Art auch immer etc. Der konkret ausgeübte
"Kannibalismus und Autokannibalismus" (136
Tr)
kann zur Sucht werden, indem diese Handlungen dem
Süchtigen das Gefühl vermitteln, Herrscher, Gott im allmächtig
destruktiv-gewalttätigen, rücksichtslos-nichtliebenden Sinne zu sein. Das
schöpferisch-geistige Prinzip der Persönlichkeit wird dabei mehr oder weniger
bewußt und willentlich verraten und abgewehrt. Der "Kannibale von
Rotenburg" hatte sich ein willfähriges Opfer gesucht, an dem er
stellvertretend auch sein eigenes ungeliebtes Leben, sein ungeliebtes
pervertiertes Selbst, lustvoll und höchstwahrscheinlich sogar genußvoll
vernichten konnte. Dafür jedoch benötigte er die Fähigkeit zur Distanz und Nähe
und ein damit einhergehendes Einfühlungsvermögen, um die grausamen
masochistischen Qualen oder Lustempfindungen seines Opfers sadistisch oder wie
auch immer exzessiv-pervers nachvollziehen zu können.
Grundlegend sei bemerkt, daß die Liebe insbesondere
zu einem anderen Menschen ein Ereignis ist, welches die herkömmliche gewohnte
Lebenswelt des von seiner konkreten Liebe überwältigten Menschen massiv in
Frage stellen und ihn so in seiner ganzen Existenz tief erschüttern kann;
letzteres kann zuweilen als ein schwerer Angriff auf die eigene Person
empfunden werden. D.h., die Liebe wird zu einer unerträglichen Last, wenn das
Leben bislang hauptsächlich von Illusionen, Vorurteilen etc. bestimmt wurde und
analog nach irgendwelchen starren Ordnungsprinzipien verlief und man nicht den
nötigen Mut hat und nicht fähig ist, genügend schöpferische Freiheit
aufzubringen, um die jeweiligen Illusionen, Vorurteile und starren Prinzipien
zu beseitigen. Ohne tiefgreifende und anhaltende schöpferische Freiheit keine
Erfüllung der Liebe. Liebe und Freiheit können nicht ›vorschriftsmäßig‹
reguliert werden, sind unvereinbar mit den anerzogenen Etiketten, mit all dem
ausufernden Schwindel, an den die Menschen kompensatorisch und sich selbst
betrügend ihr Herz gehängt haben. Der Weg und die Wahrheit der Liebe und
Freiheit bringen das angepaßte Selbstbild in Gefahr. Insbesondere durch die
konkrete Liebe zu einem anderen Menschen kann die Gefahr, die von der Liebe
ausgeht, am nachhaltigsten wirken. Aber dies muß nicht so sein. Genausogut kann
ein Mensch seine konkrete Liebe von seinem angepaßten Dasein, seiner sonstigen
Selbsterniedrigung oder Selbstüberhöhung abtrennen, gesondert leben, obwohl
schon der Riß durch das eigene Leben zumindest stille, heimliche Leidensmomente
hervorrufen muß, da dieser Riß mit der ganzheitlichen Grundwahrnehmung bzw.
Grundmotivation des Menschen nicht vereinbar ist. Wesensbedingt drängt die
kapitalistische Moderne den Menschen in eine besonders stark ausgeprägte
schizophrene Bewußtseinsverfassung. Die Liebe wird isoliert, in ihrem Wirken
eingeschränkt, verfälscht und vergeht mit der Zeit, scheitert.
Die Liebe ist ein großes Problem für den im starken
Maße unter der narzißtischen Form des Autismus leidenden Menschen. Dieser
Mensch widerstrebt der zugewandten transzendierenden Liebe, nicht, weil er so
nicht lieben könnte, sondern weil er sich vor der echten Liebe wie vor der
existentiellen Nähe, die mit dieser Liebe einhergeht, fürchtet. Er fürchtet
sich vor der Infragestellung seines überhöhten objektivierten Selbstbildes. Die
immer wieder auftretenden und endlos erscheinenden Depressionen und
Selbstzweifel eines selbstsüchtigen bzw. selbstbezogenen Menschen sind der nach
Liebe verzehrenden Intuition geschuldet, die sich nicht erfüllt, aber dennoch
im existentiellen Hintergrund, in der existentiellen Tiefe sehnsüchtig
schlummert und qualvoll zu spüren ist. Ein ›Narzißt‹, der diese Liebesintuition
nicht in sich trüge, würde nie an seinem vereinsamten Ego leiden. Selbst die
Einsamkeit eines ausgeprägt narzißtisch orientierten Menschen ist daher niemals
absolut. Der narzißtisch orientierte Mensch fühlt Sicherheit im System, in der
Einteilung und Einordnung seiner objektivierten ›Beziehungen‹ zu den Menschen.
Er haßt die Infragestellung des Sicherheit suggerierenden Systems, welches ihm
die offene persönliche Beziehung zu einem anderen Menschen abverlangen würde.
Er entwickelt Haß gegenüber den Menschen, die seiner Selbstdarstellung nicht
hofieren. Im Extremfall haßt er die Menschen überhaupt. Kein Mensch kommt
gänzlich ohne persönliche Beziehungen aus. Der narzißtisch orientierte Mensch
verwirklicht diese partiell immer dort, wo sein überhöhtes Selbstbild am
wenigsten in Frage gestellt wird. Doch so bleibt ihm die wirkliche Erfüllung
der Liebe versperrt, da die Erfüllung der Liebe an eine authentische und
umfassende Selbsterkenntnis gebunden ist. Ein anderer Weg wäre, sich der im
Kern unstillbaren, aber nicht ohne weiteres erfüllbaren Liebe möglichst zu
entledigen, indem man sich an einer gehorsamkeitsfordernden rein ›praktischen
Vernunft‹ orientiert, von der aus die Liebe als ein die ›Realitätswahrnehmung‹
eintrübendes, minderwertiges, unterlegenes und lächerlich wirkendes Gefühl
betrachtet wird. Auf diese Weise treibt sich der Mensch seine Liebe, d.h. seine
unmittelbare Würde systematisch aus. Die Liebe zu und das Mitleid mit Tieren
wird dadurch oft zum letzten Refugium des liebes- und mitleidsbedürftigen
Menschen. Das Tier kann den Menschen geistig nicht in Frage stellen und
bedeutet von daher keinerlei Gefahr. Und gerade dies ermöglichte es den
Nationalsozialisten auf der einen Seite, mit der Einführung eines neuen
Tierschutzgesetzes sich selbst ein gutes Gefühl zu vermitteln, während auf der
anderen Seite der in ihnen durch persönlichkeitsmißachtende und -zerstörende
Verhältnisse angestaute Haß außer Kontrolle geriet und folgerichtig den
Menschen selber traf. Es traf vor allem diejenigen Menschen, die aus welchen
Gründen auch immer nicht ins überhöhte, von vielen Ressentiments und anderen
niederen Beweggründen durchsetzte Selbstbild paßten oder dieses störten oder
gar dagegen rebellierten etc.
Man muß also zwischen einer schöpferischen
›Distanzfähigkeit‹ und einer destruktiv ausgerichteten
"Distanzfähigkeit" unterscheiden. Erstere ist eine Fähigkeit der
Persönlichkeit, letztere eine aus der Abneigung gegenüber echter innerer Nähe
zu anderen Menschen entstehende Unfähigkeit, die Wahrheit der eigenen Person
schöpferisch-ethisch zu verwirklichen, d.h. die eigene Persönlichkeit zu
realisieren. Der extreme Gewohnheitsautist empfindet die existentielle Nähe zu
anderen Menschen als einen Angriff auf seine vermeintliche Integrität und will
den Weg wahrer Selbsterkenntnis nicht gehen, nicht zulassen, da sich dieser Weg
als äußerst steinig erweisen kann angesichts angesammelter und kaum noch zu
bewältigender zerstörerischer Schattenemotionen und Schattenimpulse, deren
Ausleben ihm ein perverses, wenn auch zumeist geheimes Bedürfnis ist. Und
dennoch besitzt auch der extreme Gewohnheitsautist im Kern seiner Existenz eine
Persönlichkeit, deren intuitive Fähigkeiten er mißbraucht und gegen sie wendet,
um die gefürchtete existentielle Wahrheit, die mit Nähe und echter Gemeinschaft
verbunden ist, kleinhalten und seiner Destruktivität freien Lauf lassen zu
können. Die Abwehr und Schwächung und partielle Zersetzung der Persönlichkeit
feiert unter den Bedingungen des Kapitalismus Konjunktur. Spitzt sich der
Widerspruch des Kapitalismus zu und Kompensationsmöglichkeiten und Illusionen
fallen nach und nach weg, verliert auch die autistische Abwehr an Kraft. Dann
jedoch beginnt erst der wirklich schwierige Weg in Anbetracht des gesteigerten
inneren Chaos der Menschen. Es gibt keine Garantie, daß nach einem
Zusammenbruchsszenario die Welt automatisch besser wird, der Mensch sich
sogleich freudig und schöpferisch-frei auf seine Persönlichkeit besinnt. Echte
Besinnung fördert darüber hinaus zunächst viele unbequeme Wahrheiten zutage,
die vom schwer loszuwerdenden Gewohnten her wiederum massive innere Abwehr
erzeugen kann. Sich zur eigenen Persönlichkeit zu bekennen, das erfordert
widerständige geistige Kraft gegen eine überall lauernde und im Leben der
Menschheit niemals gänzlich zu vermeidende Gefahr der inneren und äußeren
Fremdbestimmung, die insbesondere als äußere (z.B. als allgemein übergeordneter
Staat) scheinbar die Verantwortung für das Leben übernehmen kann und den
Menschen so Sicherheit suggeriert. Dagegen bedeutet Realisierung der
Persönlichkeit schöpferische Freiheit, die mit einer schwer zu meisternden
Offenheit des Lebens verbunden ist, eines Lebens, für das die Menschen dann
wahrhaft selbst verantwortlich sind, wovor sie sich jedoch bisher immer
gefürchtet haben wie vor der Gefahr der schöpferisch-geistigen Freiheit. Der
aus einem pervertierten Geborgenheits- und Heimatbedürfnis hervorgehende
übersteigerte Sicherheitsdrang führt, vor allem in der gutbürgerlichen Moderne,
zu einer verdrängenden und fetischorientierten Geisteshaltung, die die
ganzheitlich-schöpferische Freiheit des Menschen einschränkt und verhindert.
Man sollte annehmen, daß Kurz mit der Feststellung,
daß sich in
"letzter Instanz... das
männlich-abspaltungslogische Wertsubjekt als vollkommen beziehungsunfähig
(erweist)" (133 Tr),
nicht automatisch den ganzen fetischorientierten
Menschen für "vollkommen beziehungsunfähig" erklärt. Außerdem stellt
Kurz eine Seite zuvor fest:
"Wie die Individualität steht allerdings auch
die Distanzfähigkeit in ausnahmslos allen bisherigen Fetischverhältnissen unter
dem Bann einer zwanghaften gesellschaftlichen Form. Dieser Bann ist in der
modernen Subjektform nicht geringer geworden, sondern hat sich vielmehr
unerträglich gesteigert. Es geht also gerade darum, die Individualität wie die
Distanzfähigkeit von der Subjektform und damit von einer bannenden Fetischform
überhaupt zu befreien. Das ist so ziemlich das Gegenteil der Option,
ausgerechnet der Subjekt-Fetischform selbst eine zu 'rettende' spezifische
Distanzfähigkeit als positive Errungenschaft zusprechen zu wollen." (132
Tr)
Daß die "Individualität... unter dem Bann einer
zwanghaften gesellschaftlichen Form (steht)" bedeutet, daß die
"Individualität" nicht im "männlich-abspaltungslogischen
Wertsubjekt" aufgeht. So gesehen wäre nur das "Wertsubjekt" der
"Individualität" "vollkommen beziehungsunfähig". Dies gilt
jedoch nur, wenn der Begriff "Individualität" synonym für
Persönlichkeit verwendet werden würde. Doch auf die Persönlichkeit des Menschen
als eine im universal-existentiell-geistigen Sinne apriorische Vorraussetzung
des gemeinschaftlichen Lebens nimmt Kurz im Zusammenhang der hier besprochenen
Essays und innerhalb seiner Subjektkritik überhaupt keinen Bezug. Vielmehr
fordert er quasi mit der "Aufhebung des Subjekts" zugleich die
Aufhebung der ganzheitlich-apriorischen Persönlichkeit, denn die Persönlichkeit
ist des Menschen subjektiv-geistige Wesenseigenschaft. Für Kurz gibt es
neben dem allgemeinen zwangausübenden "männlich-abspaltungslogischen
Wertsubjekt" kein tieferes authentisch-freies Subjekt. Eine befreite
"Individualität" wäre demnach eine subjektlose Erscheinung, die als
solche, in geistiger Hinsicht, alles oder nichts sein kann, bloß nichts konkret
Individuelles, da "negatorisch" absolut unbestimmbar - also sinnlos.
Insofern muß laut Kurz' Theorie die "Individualität" vollständig
"unter dem Bann einer zwanghaften gesellschaftlichen Form" stehen.
Eine vom Grunde her subjektlose "Individualität" hat nichts, was in
einer "Subjekt-Fetischform" nicht aufgehen könnte. Letztlich und
genauer betrachtet, steht somit diese "Individualität" entgegen Kurz'
Feststellung gar nicht "unter dem Bann einer zwanghaften gesellschaftlichen
Form", sondern ist mit dieser "Form" notgedrungen identisch. Und
die Beantwortung der Frage, wohin eine Befreiung dieser
"Individualität" führen würde, muß uns Kurz logischer Weise absolut
schuldig bleiben. Dazu verweist er ausweichend auf einen
"schwierigen Prozeß der praktischen
Transformation" (141 Tr),
ohne plausibel zu machen, wie das ohne
geistig-apriorische Grundannahmen überhaupt funktionieren soll. Doch laut Kurz
müssen auch diese Grundannahmen "jenseits der Fetischverhältnisse"
grundsätzlich verschwinden. Wenn Kurz also von der Beziehungsunfähigkeit des
"männlich-abspaltungslogischen Wertsubjekt" spricht, muß er gemäß
seiner bisherigen Theorie diese Beziehungsunfähigkeit automatisch auch auf den
ganzen fetischorientierten Menschen übertragen. Jedoch insgesamt und praktisch
hält sich Kurz glücklicherweise überhaupt nicht an seine eigene Subjekttheorie,
indem er aus seinem apriorisch-geistigen Hintergrund heraus und diesen aktiv
zulassend in vielerlei Hinsicht und zum Teil äußerst überzeugend,
provokativ-anregend und gekonnt (siehe insbesondere auch "Schwarzbuch
Kapitalismus", "Weltordnungskrieg", "Die Antideutsche
Ideologie") den radikal-kritischen Finger auf die himmelschreienden, aber
nicht immer leicht zu erkennenden Wunden der Moderne legt. Und mit der
folgenden Aussage widerspricht er sogar direkt seiner eigenen ›radikalen
Subjektkritik‹:
"Aber es lässt sich durchaus ein immanenter
Ausgangspunkt und ein Weg der Kritik und Transformation aufzeigen. Dass die
Individuen nicht in der Fetischform aufgehen 'wie die Ameisen im Ameisenhaufen'
(Anselm Jappe) äußert sich, und zwar eben als Leid [Hervorhebung -
D.H.]. Nicht zuletzt ist es ein ständiges Leiden am Geschlechterverhältnis der
Abspaltung, das auf Beziehungsunfähigkeit hinausläuft. Das Leiden ist der
konkrete Ausgangspunkt. Die Verarbeitung dieses Erfahrungsgehalts kann einen
zunächst virtuellen Standpunkt 'außerhalb' konstituieren: nämlich die kritische
Reflexion der eigenen geschlechtlichen und gesellschaftlichen Beziehungsverhältnisse."
(140 Tr)
Wie ich weiter oben schon erläuterte: "Das
Leiden ist kein Wesen." (128 Tr) Das stimmt, denn außerhalb der personalen
Ganzheitlichkeit existiert es nicht. Es ist der Mensch, der leidet und nicht
das Leiden selbst. Das Leiden existiert im Verbund mit dem ganzen Menschen, ist
ein Wesenszug seines Persönlichkeitssubjekts. Der Mensch leidet bewußt, d.h.,
wenn er leidet, ist daran unmittelbar, d.h. ganzheitlich, schon eine
"kritische Reflexion" gebunden, auch wenn diese die Leidensursache
noch nicht im ganzen Umfang erkennen kann, weil dazu eben auch ein Mindestmaß
an Zeit erforderlich ist, die sich in einem Geschichtsprozeß niederschlägt.
Ich spreche hier vom primär authentischen Leiden und
nicht vom sekundär kompensatorischen Leiden, welches sich gewiß, Kurz in diesem
Aspekt zustimmend,
"in praktischer Hinsicht als Ausleben der
Abspaltung im Alltag" zeigen kann; "auf dem Feld der Theorie als
jenes Philosophenkönigtum, das sich nicht allein als Haltung manifestiert,
sondern sich im theoretischen Modus selbst objektiviert hat". (141/142 Tr)
Dennoch hat auch die leidende Hingabe des
"Wertsubjekts" ihre Grenzen, immer dann, wenn jegliche
kompensatorische Belohnung ausbleibt, ihren Dienst versagt, die auch schon als
bloße autosuggestive Belohnung funktionieren kann, z.B. durch das erhebende
Gefühl der unbeugsamen ›Treue zum Führer‹ oder des
"Bewusstsein der vermeintlichen
Überlegenheit" (142 Tr).
Das Kurz das Leiden als einen "konkreten
Ausgangspunkt... der Kritik" zuläßt, ist ein Hinweis darauf, daß eine
"negatorische" Methode allein die Kritik nicht leisten kann. Und was
sollte das Leiden auch anderes sein als ein persönlich-subjektives Grundgefühl,
das allerdings schon in sich eine schöpferisch-ganzheitliche Wertung einbindet,
d.h., alle Momente der Persönlichkeit, die Ratio eingeschlossen, zumindest
ansatzweise mitumfaßt. Der "Erfahrungsgehalt" des Leidens
"konstituiert" nicht erst nachträglich "einen zunächst
virtuellen Standpunkt 'außerhalb'...", sondern ist mit diesem und zugleich
sogar schon mit einer grundlegenden Reflexion eben unmittelbar über die
personal-ganzheitliche Existenz des Menschen verbunden. Auf der einen Seite muß
die Umsetzung von Kurz' Forderung nach der "Aufhebung des Subjekts"
logisch eine gänzlich leere "Individualität" hinterlassen, jedoch
kann diese keinen Widerstand mehr leisten. Auf der anderen Seite erkennt Kurz
quasi einen konkreten existentiell-apriorischen "Ausgangspunkt", und
zwar das individuelle Leiden, an. Der Widerstand der "Individualität"
findet im Leiden seinen ursprünglichen geistigen Halt - geistig deshalb, weil
das Leiden nicht nur ein einfaches, geistloses Gefühl ist, sondern das
Leidensgefühl an sich schon immer als ein geistiger Prozeß erlebt wird; es ist
ein Leiden der ganzen Person, im Kern ein Leiden um die Persönlichkeit, die
sich dem Angriff auf ihre authentische Integrität erwehrt. Genauso verhält es
sich mit dem personalen Leiden der Tiere. Der Widerspruch zwischen beiden
Seiten, der Forderung nach der "Aufhebung des Subjekts" und dem Leiden
als "Ausgangspunkt... der Kritik", ist unauflösbar. Und Kurz bemüht
sich auch gar nicht um die Auflösung des Widerspruchs, sondern argumentiert
immer so, wie es für seine Theorie gerade günstig ist: Zuerst leiden wir, dann
"konstituieren" wir "außerhalb" einen "virtuellen
Standpunkt". Leiden und "virtueller Standpunkt" sind ohne das
Vorhandensein eines ganzheitlich-apriorischen personal-geistigen Subjekts stets
absolut voneinander getrennt:
" 'Virtuell' in diesem Sinne ist Kritik ihrem
Wesen nach, denn es ist ja die erst einmal gedankliche Negation
[Hervorhebung - D.H.] eines realen, noch unüberwundenen Verhältnisses."
"Der virtuelle Standpunkt der Kritik...
ermöglicht, auf dem relativ eigenständigen Feld der Theorie
[Hervorhebung - D.H.] bereits die Logik der Kritik an der Subjektform ganz
grundsätzlich zu entfalten." (141 Tr)
Das existentielle Leiden wird von Kurz anerkannt,
aber abgetrennt, und gottesgleich im durchaus herrschaftlichen Sinne erhebt
sich über das Leiden eine ›kritische Theorie‹ (vergleiche auch das Zitat
210/211 SH und meine daran anschließende Entgegnung im 1. Teil dieser
Auseinandersetzung).
Sinn macht die "Individualität" des
Menschen nur dann, wenn sie im Kern durch des Menschen Persönlichkeit getragen
wird, die unter anderem eine schöpferische ›Distanzfähigkeit‹ umfaßt, welche
wiederum durch den "Bann... der modernen Subjektform" in destruktiver
Weise pervertiert und eingeschränkt werden kann. Für Kurz dagegen ist
"Individualität" bezogen auch auf den Menschen offensichtlich und
ausschließlich nur ein
"gesellschaftliches Wesen". (183 SH)
Die Befreiung dieser "Individualität"
gipfelt in einer von Kurz so benannten
"gesellschaftlichen Selbst-Bewußtheit"
(210 SH),
wobei das "Selbst" hier scheinbar irgendwie,
auf wundersame Weise, gesellschaftlich entsteht und eben nicht vom
konkret-universalen apriorischen Persönlichkeitskern her. Authentische
Unbestechlichkeit des Menschen ist so unmöglich. Der einzelne Mensch ist, Kurz'
Theorie logisch folgend, schließlich nur ein ausführender Teil von etwas
größerem ›Ganzen‹. Das hieraus entstehende Menschenbild wurde bisher jeder
sozialen Bewegung immer wieder zum Verhängnis und ist mit dem monistisch
vereinheitlichenden System des objektiven Idealismus durchaus kompatibel - der
Mensch als Medium des ›absoluten‹ Geistes, des Weltgeistes. Ein unbeirrtes
Vorgehen im Sinne einer
"Logik der Negation" (137 Tr)
ist angebracht, aber nur, wenn
"es sich genau darum (handelt), Tabula rasa zu
machen mit der kapitalistischen Tabula-rasa-Logik."
"Die Wert-Abspaltungsgesellschaft stellt an
sich ein Tabula-rasa-Programm dar; sie ist an sich eine Negation, nämlich
letzten Endes die brutale Negation aller sinnlichen und sozialen Welt. Es kann
sich nur darum handeln, die Welt von dieser objektivierten diabolischen
Verneinung zu befreien." (137 Tr)
Ja, zumal die "brutale Negation", wenn
auch niemals absolut möglich, es noch wesentlicher auf die geistig-ethische
Welt, auf das authentische Gewissen abgesehen hat. Aber ebenso "Tabula rasa
zu machen" mit dem Subjekt an sich würde bedeuten, den Menschen als primär
geistiges Wesen überhaupt zu verneinen - eine unsinnige Forderung, die uns
lediglich zur "brutalen Negation" zurückführen würde. Tabula rasa im
subjektiven Bereich sollte man nur mit dem spezifischen
autistisch-individualistischen "Wertsubjekt" machen, das mit dem
Kapitalismus korreliert. Doch diese Tabula rasa ist keine bloße Negation,
sondern sie muß eingebunden werden in den ganzheitlich-schöpferischen Akt der
sich seit Urzeiten immer wieder konkret realisierenden Persönlichkeit des
Menschen.
Kurz ist sich der Kritik an seiner ›radikalen
Subjektkritik‹ sehr wohl bewußt:
"So könnte man gegen die bisherige
Argumentation mit einigem Recht geltend machen, dass sie so tut, als wäre sie
nicht selbst noch die Argumentation eines Subjekts..." (139 Tr)
Was dann folgt ist der Versuch, diesen Einwand von
seinem Standpunkt aus zu entkräften, was ihm im Hinblick auf die Aporie seiner
Theorie und speziell auf seine generelle undifferenzierte Grundbehauptung:
"Je subjektiver, desto objektiver" (144
Tr),
nicht gelingen kann, auch wenn er sich bemüht, den
Eindruck zu erwecken, daß er dies könnte, indem er vor allem auch behauptet,
das Subjekt "negatorisch" gegen das Subjekt selbst wenden zu können:
"Das heißt, negativ-transformatorisch subjektiv
zu werden...: Also Subjekt allein noch in dem Sinne, das Subjekt
abzuschaffen". (144 Tr)
Richtig dagegen ist die kritische Distanzierung von
denjenigen
"chinesischen Strategemen und Philsophemen, die
etwa 'Handeln durch Nichthandeln' propagieren". (145 Tr)
Leider sieht Kurz hier jedoch nicht den Zusammenhang
mit den Konsequenzen, die sich aus seiner eigenen Subjektkritik ergeben. Denn
gerade die "Aufhebung des Subjekts" würde eine entleerte und
handlungsunfähige "Individualität" hervorbringen.
Kurz plädiert dafür,
"die alte Autonomen-Parole 'Gefühl und Härte'
zu mobilisieren: Gefühl für die Inhalte und Beziehungen, Härte gegen die
Subjektform - und das eine bitte nicht mit dem anderen verwechseln!" (146
Tr)
Wenn jedoch mit der "Subjektform" das
ganze Subjekt gemeint ist, wendet sich die Härte letztlich gegen den Menschen
selbst. Demzufolge hat die "Härte" als Mittel radikaler Kritik ihre
Grenzen und kann schnell über das Ziel hinausschießen, nämlich immer dann, wenn
nicht mehr klar zu erkennen ist, ob die
"harte Negation" (146 Tr)
nur die "Subjektform" des Menschen oder
den Menschen an sich hinwegfegen soll, der sich eben halt noch im Dunstkreis
der "Fetisch-Konstitution" befindet.
Kurz bestimmt das Subjekt ausschließlich in der
korrelativen Abhängigkeit vom Objekt: So gesehen begreift sich das Subjekt nur
über die objektivierende Erkenntnisweise, d.h. über das Objekt der Erkenntnis:
"Je subjektiver, desto objektiver". Kant wird bemüht, um zu zeigen,
daß das Subjekt immer an eine starre Erkenntnisform gebunden ist (obwohl man
damit dem ambivalenten Denker Kant nicht gerecht wird). In der heutigen Moderne
ist es die Form der kapitalistischen "Fetisch-Konstitution".
Existentiell-apriorische primär intuitiv-erkennende Inhalte des Subjekts, z.B.
das Leiden, werden nicht ausdrücklich als solche in Betracht gezogen, sind für
Kurz so nicht vorhanden. Wer nach der "Aufhebung des Subjekts"
erkennt, bleibt unbegreiflich. Wenn man entgegen Kurz' Subjektkritik davon
ausgeht, daß das Subjekt zunächst eine der Subjekt-Objekt-Spaltung
vorausgehende personale Ganzheit geistig umfaßt, welches einen intuitiven
sinngebenden Charakter trägt, das infolgedessen primär nicht wie ein
"abstrakt-allgemeines Muster der Aussortierung" (115 Tr) funktioniert
bzw. keinem objektivierenden, sondern einem schöpferischen Wesenskern
entspringt, dann wird die Forderung nach der "Aufhebung des Subjekts"
überflüssig, ja aberwitzig. Kurz' monistische Herangehensweise erlaubt keine
wechselseitig zusammenhängende Zweigliedrigkeit der Erkenntnis im Sinne von
primärer sinngebender existentieller und sekundärer objektivierender
Erkenntnis. Das Zusammenwirken beider Erkenntnismomente ist ein ganzheitlicher
geistig-realer Prozeß. In bezug auf den sinngebenden Erkenntnisakt wiederum muß
unterschieden werden zwischen einem primär wahrhaften,
persönlichkeitsbezogenen, auf die Fülle des Lebens orientierten und einem
sekundär destruktiven, persönlichkeitszerstörenden bzw. -schwächenden,
letztlich auf den Tod zusteuernden Erkenntnisakt. Die existentielle
Erkenntnisweise beruht primär vor allem auf der Liebes- und Freiheitsintuition,
dem originären Gewissen, dem Leiden und Mitleiden etc., aber sekundär
beispielsweise eben auch auf Haß, dem Rachegefühl, in vielerlei Hinsicht auf
Angst, Furcht, Eifersucht, Neid. Alle diese existentiellen Erkenntnisakte
ereignen sich schöpferisch-impulsiv. Erst wenn der primäre existentielle
Erkenntnisakt ursprünglich vollzogen worden ist, kann der sekundär-destruktive
wirksam werden und sich gegen den primären wenden, aus diesem indirekt seine
destruktiv gerichtete Bestimmung ableiten. Aus Liebe wird nicht Haß, sondern
aus der Zurückweisung der Liebe bzw. der von Liebe getragenen Persönlichkeit in
einer lieblosen, persönlichkeitsfeindlichen Welt kann Haß entstehen. Dabei
erhalten sowohl die Liebe als auch der Haß den schöpferischen Impuls aus der
Urpotenz - aus der unergründlichen Freiheit, aus dem sogenannten Nichts. Wäre
umgekehrt jedoch der Haß primärer als die Liebe, so hätte kein Mensch, nicht
einmal irgendein Tier mit personalem Wesenskern entstehen können. Die Liebe ist
Leben, der Haß tendiert immer zum Tod, auch wenn der Haß dem Menschen zuweilen
›Lebendigkeit‹ suggeriert, die einzige, die er mitunter noch deutlich fühlt,
weshalb selbst der Haß zur Sucht werden kann, die letztlich eine Sucht zum Tode
ist. Zuerst jedoch war die Liebe im Menschen, in einem jeden personalen Wesen!
Die Liebe ist die Urkraft des Lebenssinns.
Unser Verhältnis zur Welt im weitesten Sinne wird
nicht nur durch einen primären sinngebenden existentiellen, sondern auch durch
einen sekundären objektivierenden Erkenntnisakt hergestellt. Wir Menschen sind
ganzheitlich sowohl geistig-seelische als auch physische Wesen. Insbesondere
die Befriedigung unserer physischen und materiellen Bedürfnisse verlangt, daß
wir über einen objektivierenden Erkenntnisakt Zugang zur Welt der Objekte
finden, ihre Struktur und Gesetze verstehen, um die Dinge und materiellen
Prozesse zielgerichtet beherrschen zu können. Das Wort ›beherrschen‹ hat hier
eine positive Bedeutung, sofern das Grundmotiv unseres Handelns wahre
Menschlichkeit ist. Niemals kommen wir ohne den sinngebenden Akt aus, der die
unabdingbaren Grundmotive unseres Handelns überhaupt erzeugt und jeder
Objektivierung, jedem objektivierenden Erkenntnisakt notwendig vorgelagert ist.
Aber genausowenig können wir die Notwendigkeit eines objektivierenden Aktes für
die Gestaltung unseres Lebens außer Acht lassen oder gar gänzlich aufheben. Der
ursprünglich sinngebende Akt kann jedoch von einem niederen fetischorientierten
Motiv zurückgedrängt und in perverser Weise mißbraucht werden, begleitet und
angestachelt von destruktiven Wesenskräften des Menschen und der entsprechenden
Einbindung seines schöpferischen Vermögens. Radikale Kritik muß meines
Erachtens vor allem diesen letztgenannten Zusammenhang berücksichtigen.
Es ist die Liebe, durch die wir fortwährend über die
Welt der Objektivation hinausgelangen. Die Liebe ist das grundlegendste Motiv
unseres Lebens. Kein Ding der Welt, ob Erkenntnis-Ding oder materielles Ding,
kann die Erfahrung der Liebe aufwiegen. Jede Objektivierung, jeder
objektivierende Akt ist immer nur zweitrangig, abhängig von der existentiellen
sinngebenden Wahrheit des Menschen, seiner wahrhaft umwertenden, umbildenden
Schöpferkraft. Eine Lüge ist die einseitig objektverhaftete Erkenntnis-,
Lebens- und Produktionsweise. Die Moderne ist dadurch gekennzeichnet, daß an
die Stelle des existentiellen originären Gewissens das lebensfremde,
kapitalistisch orientierte Fetisch-›Gewissen‹ tritt mit all seinen Forderungen
nach Disziplin und Gehorsam, nach Anpassung an eine prozessuale und sich im
starken Maße selbstregulierende Systemordnung hin zum Tode.