(Aus meinen Antworten
vom 2.7., 6.7. und 9.7.2002 an Herrn K.)
Den Begriff
„intersubjektiv“ verwendet auch Wilber. Deshalb wird dieser Begriff auch von
mir berücksichtigt („Berdjajew kontra Wilber“). Aber ich würde das Wort
„intersubjektiv“ durch das Wort „transsubjektiv“, wie ihn Berdjajew verwendet
hat, ersetzen. Durch die Vorsilbe „trans“ wird deutlicher auf die
Tiefendimension des Menschen hingewiesen, die eine unabdingbare Rolle spielt,
wenn sich der Mensch sinnvoll der Welt im weitesten Sinne zuwendet.
Wahrhaft
individueller Intuition liegt immer ein universaler Gehalt (Liebe, Freiheit,
Wahrheit, Mitleid, Leid usw. usf.) zugrunde. Diese Intuition ist jedem Menschen
gegeben und verlangt nach des Menschen individueller Antwort, die Intuition im
Verhältnis zur Welt (im weitesten Sinne) mit Leben zu erfüllen. Aus diesem Grunde
sprach ich in meiner ersten Mail von der Gewissensfreiheit und von der
ethischen Grundintuition bzw. Liebesintuition.
Der
Sachverhalt, daß es regnet, kann nur die Person erfahren und insbesondere der
Mensch geistig beschreiben. Der Sachverhalt des Regnens existiert außerhalb der
Person gar nicht. Für einen Stein regnet es nicht. Erkenntnis existiert nicht
unabhängig vom Existierenden. Als die ersten Wassertropfen vom Himmel fielen,
als noch kein bewußtes Leben existierte, hat niemand festgestellt, daß es
regnet. Sie trennen die Erkenntnis des „Sachverhalts“ „es regnet“ vom Menschen,
der erkennt - und das ist eine falsche
erkenntnistheoretische Darstellung. Das
läuft auf eine sogenannte reine objektive Erkenntnis hinaus – aber die gibt es
nicht. Erkenntnis ist sowohl subjektiv-ethisch-emotional als auch
subjektiv-objektivierend-rational. Verschwindet eine Komponente, existiert die
ganze Erkenntnis nicht mehr. Wenn jemand denkt, denkt er als Person, und das
schließt immer Emotionen, Ratio, Intuitionen, Gedächtnis usw. gleichermaßen
ein. Unabhängig vom Menschen als Person regnet es nicht. Es findet ein Prozeß
statt, den jedoch erst wir Menschen als Regen bezeichnen und erleben. Deshalb
sage ich: Ob etwas wahr ist oder nicht, ist vom Motiv des Suchenden oder
Finders gänzlich abhängig! Wenn Sie sagen, es regnet nur naß, auch dann werten
Sie den Prozeß des Regnens nach Ihren persönlichen Maßstäben. Schon das Wort
Regen enthält Wertungen und Beimischungen, die in der unbelebten Natur an sich
nicht existieren. Unabhängig von unserer Wertung können wir den Regen nicht
beschreiben. Indem wir Menschen den Regen als Regen bezeichnen, geben wir dem
Regen einen Sinn.
Genauso
verhält es sich mit Ihrem x. Das x als x existiert genau so nur für das
erkennende Subjekt. Natürlich schließt die Erkenntnis immer objektivierte
Elemente ein, d. h. Erkenntnis ist sowohl subjektiv-existentiell als auch
subjektiv-objektivierend zugleich. Aber was ist das x unabhängig bzw. außerhalb
vom erkennenden Subjekt? Es ist sinnlos, weil erst der Erkennende dem x einen
Sinn verleiht bzw. den Sinn in das x eindringen läßt. Doch der Sinn offenbart
sich immer nur geistig, d. h. subjektiv-existentiell. Sagen Sie mir doch, was
die materielle Substanz x unabhängig vom Subjektiven ist? Und sobald man eine
Antwort gibt, läßt man seine subjektiven Deutungen einfließen, es sei denn, man
sagt, daß das x gar nicht existiert bzw. einfach Nichts (Gottheit) ist. Aber so
negierte man den Sinn, und gerade auch das wäre eine Lüge, denn der Sinn
springt uns allenthalben entgegen – innerlich-existentiell bzw. subjektiv. Oder
etwa nicht?
Hinter
aller scheinbar reiner Logik verbirgt sich immer auch ein irrationales bzw.
arationales, d. h. alogisches Element – der geistig-existentiell motivierte
Mensch.
Das
Wort „Wahrheit“ an sich ist ein Wortsymbol (und kein definierter
Begriff) für eine höchste innermenschliche, geistige Erfahrung. Außerhalb des
Existentiell-Menschlichen ist die Wahrheit immer relativ, d. h. lügenhaft. Ich
behaupte keine „objektive Wahrheit“, sondern wende mich gegen eine solche. Ich
behaupte die existentielle Wahrheit, die einzigartig und persönlich ist, die
jeder Mensch in sich trägt und schöpferisch realisiert werden muß im Leben,
soll sie sich offenbaren.
Die
Liebesintuition ist dem Menschen immanent gegeben und bildet den wesentlichsten
Kern seiner Erkenntnis überhaupt. Ich weiß es, nicht weil ich eine vorrangig
rationale Beweisführung durchgeführt habe und ein absolutes Ergebnis
präsentieren kann, sondern weil die auf Gemeinschaft orientierte
Liebesintuition das ist, was mich in meinem Leben am meisten und intensivsten
beschäftigt hat, worauf ich intuitiv den größten Wert lege. Wenn andere
Menschen darauf nicht den größten Wert legen, so sage ich, verbauen sie sich
den Zugang zur gemeinschaftlichen Wahrheit in sich selbst. Aber im Tiefsten
drängt es jeden Menschen, geliebt zu werden und zu lieben. Oder? Es gibt keine
allgemeinverbindliche, kalte, abstrakte bzw. absolute Wahrheit, die für alle
gleichermaßen und autoritativ, d. h. äußerlich beherrschend gilt. Diese
Wahrheit ist immer ein Stück weit Lüge. Liebe ist Wahrheit ist Freiheit – die
einzig wahre Freiheit im Menschen. Im Mittelpunkt meines Erkenntnisstrebens
steht der liebende, d. h. vor allem der lebendige Mensch. Aber oftmals, gerade
in einer von Rastlosigkeit getriebenen Gesellschaft wie der unsrigen, verdrängt
der Mensch seine Liebe und ist geistig unlebendig. Darauf aufmerksam zu machen,
ist eines meiner Anliegen.
Letztens
hörte ich einen Satz, den ich hier sinngemäß wiedergeben möchte: Wahr ist das,
woran wir glauben. – Nicht einmal der Atheist kommt an dem Glauben vorbei, daß
es eben für ihn Gott nicht gibt, daß es Unsichtbares (Sinn, Geist) nicht gibt.
Daran glaubt der Atheist ( was in der Vergangenheit ein wichtiges Moment für die
Befreiung vom hierarchischen Kirchenglauben darstellte). Der Glaube ist eine
Grundtatsache des Lebens und geht der Wissenschaft voran.
Die
Wortverbindung „transzendentaler Mensch“ habe ich dem Werk Berdjajews entlehnt.
Dort finden Sie aus dem Zusammenhang heraus eine klare Erläuterung dieser
Wortverbindung. Vielleicht nur soviel: Der Ausdruck „transzendentaler Mensch“
verweist auf den ganzheitlichen, ungeteilten Menschen, der Kraft seiner
geistigen Gabe (existentieller und objektivierender Art im Verbund) die Welt im
weitesten Sinne geistig durchdringt und verändert. Dabei orientiert sich der
transzendentale Mensch schöpferisch an den transzendenten bzw. ethischen bzw.
überpersönlichen Prinzipien (Liebe, Freiheit, Gewissen, Leid, Mitleid und
Mitgefühl, innere Authentizität und Ganzheit, Fülle usw. – Menschlichkeit), die
immanent dem Menschen gegeben sind und nur immanent wirken, die er in der
Auseinandersetzung mit einer dem Menschen bedrängenden Welt realisieren, aber
auch verdrängen bzw. zudecken oder auch pervertieren kann (Entfremdung,
Fremdbestimmung, Autoritätshörigkeit durch die Schwäche der Persönlichkeit
hervorgerufen). Der Mensch ist also nicht von vornherein gut, sondern muß um
das Wahre in sich und in der Welt zugleich kämpfen. Die Welt ist keine
gegebene, sondern eine zu verändernde aus dem Verlangen der ethischen
Intuitionen heraus, für die es einzustehen gilt, die aber keine Befehle
darstellen, sondern frei angenommen oder aus Anpassungs- und
Entfremdungsgründen verworfen werden können. D. h. wiederum, es gibt keine
Garantie für die Wahrheit – es kommt auf die geistige, d. h. mündige Stärke des
Menschen an.
Der
Mensch ist physisch, seelisches und geistiges Wesen zugleich, d. h., er ist
Mikrokosmos, er trägt alles konkretisiert, ganzheitlich, geistig in sich. Er
ist als Person existentielles Zentrum – dies läßt sich vom Kosmos nicht sagen,
der keine „Empfindungsorgane“ für Freude und Leid besitzt und über kein
Bewußtsein verfügt.
Natürlich
kann jeder behaupten, er berufe sich auf
Intuitionen und will eigentlich nur Macht. Aber wenn Macht mit im Spiel
ist und der andere Mensch erniedrigt werden soll, ist dies gerade ein Indiz
dafür, daß etwas faul ist mit der Intuition. Es kommt also immer darauf an, in
welchem Zusammenhang von Intuition gesprochen wird. Ich spreche in meiner
Auseinandersetzung vom machtlosen, nichtzwingenden höchsten Prinzip, welches in
uns immanent wirkt (Einheit von Transzendenz und Immanenz). Der wahre Gott ist
nicht allmächtig im hierarchischen Sinne, sondern liebend und leidend und
mitleidend und ruft nach unserer Freiheit. Ist es nicht die Freiheit, nach der
wir streben, die wir wollen und suchen? Doch die Freiheit ist nicht leicht,
denn sie läuft nicht konform mit einer angepaßten Welt, mit einem angepaßten
Leben und verlangt Widerstand. Wer sich zur Freiheit bekennt in einer
Gesellschaft, die Anpassung fordert, unterliegt immer der Gefahr, geopfert bzw.
verstoßen zu werden. Damit bringe ich auch eigene Erfahrungen zum Ausdruck. Ich
bin, um dem Vorzubeugen, kein Verfechter absoluter Anarchie, die ebenfalls
grausam ist. Notwendigkeit und Freiheit stehen im Wechselverhältnis. Wichtig
wäre, daß uns die Notwendigkeit nicht beherrscht und zerstört (physisch, seelisch und geistig), sondern daß von der
Freiheit (im Menschen) her die Notwendigkeit schöpferisch zugelassen und
begrenzt wird.
Wenn
ich einen Menschen liebe, bin ich nicht in mich gefangen, sondern erkenne im Du
das Ich des anderen und im Du mein Ich zugleich. Du und Ich bilden zusammen das
Wir, die Gemeinschaft. Der Dialog des Liebenden und des Geliebten führt zur
Fülle der Liebenden in der Gemeinschaft. Wesentlich dabei ist jedoch, daß ich
nur lieben kann, wenn mein Ich sich nicht im anderen Ich auflöst bzw. mit dem
anderen Ich identisch wird, sondern die Selbstidentität wahrt. In der Liebe
erfüllen sich Ich und Du durch die überpersönlichen Werte, durch Gott als
immanent wirkender transzendenter Wert – Liebe, Freiheit, Schönheit, Fülle,
Wahrheit. Dafür (Liebe, innere Gemeinschaft) gibt es keine Beweise...
Ja,
ich würde sagen, es gibt auch unwahrhafte, d. h. vorgetäuschte Begeisterung. Es
gibt auch fanatische, bösartige, oberflächliche Begeisterung, Begeisterung für
das Töten usw. „Innerlich wahrhaft“ steht gegenüber, daß innere, subjektive
Prozesse auch unwahr sein können, sofern sie fremdbestimmt sind, d. h. von
außen her bestimmt werden.
Nicht der Mensch an sich, in
seiner diesseitig begrenzten Verfassung, ist das Maß aller Dinge, sondern der
Mensch, der in sich die überpersönlichen Werte (auf die ich genügend hingewiesen
habe, aber für Sie hat offensichtlich Liebe, Leid, Mitleid usw. keine
ausschlaggebende Bedeutung) im Verbund mit den anderen Persönlichkeiten
fortwährend verwirklicht. Fortwährend deshalb, da der Mensch wesentlich
dynamisch, d. h. lebendig ist, sofern er seine Persönlichkeit realisiert. Wenn
Frauen von Männern vergewaltigt werden, dann liegt es bestimmt nicht daran, daß
die Männer starke Persönlichkeiten ausgebildet haben, sondern, ganz im
Gegenteil, sich in einem geistig schwachen und zerrissenen Zustand befinden und
von niederen und/oder pervertierten Instinkten und Intentionen getrieben
werden.
Gewalt geht vor allem von den
Menschen aus, die zu grausamen Vernichtungsfeldzügen in der Lage waren und sind
(Hunger in der 3. Welt, Kriege, Machtgebaren). Wenn nicht der Mensch im
Mittelpunkt des Geschehens, unseres Denkens, unserer Philosophie stände,
sondern nur eine z. B. abstrakte Erkenntnis, die hinnimmt, wie es nun einmal
ist in der Welt, in der der Mensch halt zufällig weilt, dann wäre diese
Philosophie sinnlos. Ich glaube daran nicht und lasse mir meinen Glauben an den
authentisch-wahren Menschen nicht kaputt machen und reden, an welchem auch
philosophisch gearbeitet werden muß.
Natürlich kenne ich die relative,
objektivierte Wahrheit, die als kommunikative Übereinkunft festgelegt ist,
damit die praktischen alltäglichen Verrichtungen geleistet werden können. Aber
Wahrheit ist eben nicht gleich Wahrheit. Wenn der Mensch liebt, hat Wahrheit
für ihn eine ganz andere, außeralltägliche, außerlogische Bedeutung und ist
überhaupt nicht nützlich und praktisch, sondern überlogisch und existentiell.
Zu „konkret“: Die
Persönlichkeit erlebt die existentielle Wahrheit, d. h. die nach meinen Ansatz
höchste Wahrheit, geistig konkret bzw. real.
Zum „Geist“: Damit meine ich
mehr als die rein psychische Konstellation das spürbare Ich-Bewußtsein als
spürbares Persönlichkeitsbewußtsein (zu welchem die körperliche und psychische
bzw. seelische Komponente dazugehört), welches ganzheitlich durch die
transzendenten bzw. ethischen bzw. transzendierenden Prinzipien der
Menschlichkeit (Liebe, Freiheit, Gewissen, Leid, Mitleid usw.) wahrhaft erfüllt
wird. Die Geistwahrnehmung ist eine unmittelbare existentielle Realität.
Das Vorhandensein der „Materie“
ist relativ und begrenzt. Es geht mir aber nicht um den Gegensatz zwischen
Geist und Materie, sondern zwischen Freiheit und Notwendigkeit.
Zu „lebendig“: Steht auch in
meinen Internetseiten (Ethik u. Metaphysik). Ich unterscheide zwischen dem
geistigen Leben und dem organisch-biologischen Leben. Persönlichkeit ist eine
geistige Kategorie, und „lebendig“ bezieht sich hier also eindeutig und
unmißverständlich auf den geistigen Akt.
Okay, auch „alles fließt“ ist
ein Dogma. Ich habe nichts gegen Dogmatik, solange diese nur auf etwas über der
Dogmatik Stehendes symbolisch hinweist, solange sie von mir nicht Anpassung in
Form eines Gesetzes verlangt, sondern Freiheit gewährt in Blickrichtung auf
eine geistige, außergesetzmäßige Welt. Statik ist ein relativer, kein absoluter
Zustand. Die Welt ist im Grunde dynamisch durch und durch. Selbst die scheinbar
vollkommen erstarrte Materie ist in sich dynamisch und findet nirgendwo einen
absoluten Ruhepunkt. Der Gegensatz Dynamik und Statik ist relativ und gilt nur
in Blickrichtung auf eine gesetzmäßige Welt. Auch der Mensch kann sich so in
einer geistig erstarrten Verfassung befinden, wie Sie in mir vermuten.
„Schöpferisch“ meint hier: aus dem Nichts in
Blickrichtung des Sinns, welcher durch die Wortverbindung „liebende
Persönlichkeit“ symbolisch benannt wird.
Zu „universal“: Es besteht ein Unterschied zwischen
dem Allgemeinen und dem Universalen. Das Allgemeine ist objektivierter Art,
praktisch auf kommunikative Verständigung ausgerichtet – z. B. auch Logik,
Mathematik, Naturwissenschaft -, aber ist auch Autorität – z. B. Staat, Nation,
Gesetzesmoral. Das Universale ist der transzendente Grund in der Person und
insbesondere im Menschen, durch welchen die Person/der Mensch schöpferisch
seine Persönlichkeit/Menschlichkeit realisiert. Der Mensch, und ich betone das
immer wieder, agiert aber immer ganzheitlich, d. h. - für die Realisierung der
Persönlichkeit ist er kommunizierend und partizipierend zugleich. Mit dem
„kollektiven Unbewußten“ und den Archetypen im Sinne von Jung müßte ich mich
erst genauer beschäftigen, um darüber Aussagen machen zu können. Aber auf jeden
Fall ist das Universale dynamisch (Liebe) und nichts Statisches im Sinne von
Urbildern oder Ideen.
Gäbe es keine Gleichheit, wäre ein Verwandtschaftsgefühl
unter den Menschen ausgeschlossen bzw. nicht möglich. Ja, ja, woher weiß ich
das, wo sind Beweise... Die werden Sie niemals bekommen. Denn der Geist des
Menschen (bei Ihnen die Psyche – was ich als falsch ansehe) ist Urrealität in
ihm. Wie wollen Sie etwas beweisen, das unmittelbar Sie selbst sind? Müssen Sie
Ihre Existenz beweisen (beweisen = im logisch-rationalen Sinne) oder wird Sie
nicht als etwas völlig selbstverständlich Gegebenes angesehen, weil alle mehr
oder weniger diese Urrealität in sich wahrnehmen? Muß man immer erst (logisch)
beweisen, daß man ein Mensch ist? Und gerade auch diese Fragen berühren das
Problem der Erniedrigung des Menschen, indem er eben nicht als Mensch, sondern
vorrangig als Funktionswesen betrachtet und ge- bzw. verbraucht wird.
Unabhängig von seinem
Vorgestelltwerden ist das Subjekt existent, aber nicht das Objekt. Das Objekt
existiert nur korrelativ zum Subjekt und für ein Subjekt in der gesetzmäßigen
Welt. Wenn Sie aber daraus schließen, daß ich meine, daß die Welt, wenn der
subjektiv Erkennende nicht da ist, auch nicht mehr da ist, so verstehen Sie
mich nicht. Ich sage unter anderem nur, daß wir nicht wissen, was die Welt
unabhängig vom subjektiven Erkennen wirklich bzw. scheinbar „objektiv“ ist. Ich
will sagen, daß es im Erkenntnisprozeß auf das Subjekt ankommt, das erkennt.
Und das Subjekt nimmt eine scheinbar gegebene Welt nicht einfach nur hin,
sondern im Erkennen schon wird diese Welt verändert – ansonsten gäbe es gar
keine Entwicklung, kein Zuwachs der Erkenntnis und keine Möglichkeit,
entsprechend der Erkenntnis, die Welt zu verändern. Die Erkenntnis ist auch vom
Standpunkt des Erkennenden abhängig von seinem Glauben. Ändert sich der Glaube,
ändert sich auch die Erkenntnis(-richtung) usw. usf. Das ist eine Beobachtung,
die sich Anhand der Bewußtseinsgeschichte nachvollziehen läßt. Und es gibt auch
nicht nur eine äußere, objektivierte Welt, sondern auch eine innere, geistige
Welt.
Ist die Zeit
unaufhörlich, bin ich quasi schicksalhaft verurteilt, in einer zeitlichen
Aufsplitterung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu leben? Oder spüre
ich manchmal auch, wie ich in Momenten heraustrete aus der Zeit, wie ich im
Überzeitlichen bzw. Außerzeitlichen wirke? Und gibt es in Momenten
außerzeitlichen Wirkens (genauer: geistigen, transzendierenden bzw.
durchdringenden Schaffens) nicht auch Wandel, Prozeß, Dynamik – eben Liebe? –
Ich weiß, ich weiß – alles nur Hirngespinste – traurige Welt!
Ein „absolutes Dogma“ ist ein Unsinn - okay. Für
mich stellt es eine Überspitzung dar. Die Wahrheit ist auch kein „absolutes
Dogma“, wie ich es bei Wilber finde als „absolute Wahrheit“. Wilbers Wahrheit
ist Dogma – letztlich als ein absolutes Dogma - Dogma steht in diesem Zsh. für
eine Wahrheit, die in sich erstarrt und gefangen ist und absolutistische
Herrschaft ausübt. Wahrheit ist bei Wilber ein scheinbar mystischer Zustand in
der Art Leere-ist-Form und Form-ist-Leere, was dogmatisch als Absolutes, als
Grund und Gipfel bzw. Sein der Welt angesehen wird.
Der Sinn der „Abgeschiedenheit“
ist „leer“ werden. Und dann? Was passiert dann? Können wir beim Leerwerden
stehenbleiben? Oder müssen wir nicht zur Fülle weiterschreiten, wie ich meine?
Wenn alles leer ist, warum soll ich dann erwachen aus der Kontemplation und
„einem Bedürftigen ein Süppchen“ geben? Was treibt mich noch, um tätig zu
werden, wenn ich entleert bin?? Auf jeden Fall ist die Intuition Eckharts, zu
helfen, wahr, bloß die Frage lautet: Woher die ethische Motivation für die
Hilfe an den Armen? Das ist für mich die wichtigste Frage.
Zu „Einheit der
Persönlichkeit“: Sie ist im Grunde da. Aber jeder Mensch kann sich entfremden
(z. B. durch Verdrängung, fremdbestimmte Anpassung usw.) und seine Persönlichkeit
zerstören, daß er nicht mehr weiß, wer er eigentlich ist. Die Persönlichkeit
ist keine festgelegte Einheit im statischen Sinne. Die Realisierung der Einheit
der Persönlichkeit ist eine dynamisch-schöpferische Aufgabe und mit geistiger
Anstrengung verbunden. Auf die „Einheit der Persönlichkeit“ kommt es an.
Tiefenpsychologie und Psychotherapie sind in Frage zu stellen, solange sie zur
analytischen Zergliederung der Persönlichkeit neigen. Beide
Wissenschaftsmethoden benötigen aus diesem Grunde einen
existentialphilosophischen Hintergrund.
Ich unterscheide
zwischen Evolution und innermenschlichem, d. h. geistigem Schaffen.
Persönlichkeit ist demnach ganzheitliches Schaffen und außerhierarchisch im
Gegensatz zur Evolution. Z. B. kann der Gegensatz von Leben (im geistigen
Sinne) und Nicht-Leben nur von der selbstbewußten Person (z. T. auch Tiere)
wahrgenommen werden, indem die Persönlichkeit diesen Gegensatz innerlich
emotional-geistig primär erlebt bzw. wahrnimmt (nicht analytisch). Objektivierte
Analyse und objektivierte Erkenntnis sind sekundäre Ableitungen. Ich beweise es
Ihnen nicht, denn letztlich wäre dies ein unendliches Unterfangen, weil Beweise
immer nur relativ und niemals absolut sind. Denn die Welt ist durch und durch
dynamisch.
Gott ist selber Paradox
(Kierkegaard): Er ist sowohl das Überpersönliche als auch das Persönliche im
Menschen, Transzendenz und Immanenz im personalen Subjekt zugleich. Diese
Erkenntnis ist existentialistisch hergeleitet. Offensichtlich meinen Sie
fälschlicherweise, daß das „Überpersönliche“ etwas außerhalb des Subjekts, des
Menschen, sein muß. Vielleicht vermischen und vermengen Sie Gottheit und Gott,
was entsprechend Berdjajews zum Gottheitsmonismus führen muß und unmenschlich
ist.
Und auch Widersprüche
sind nicht nur scheinbar – in der objektivierten Welt schon gar nicht. Und die
Widersprüche, die Paradoxa, werden auch in der Persönlichkeit nicht völlig
negiert, aufgelöst, denn dann wäre absolutes Nichts, keine Bewegung mehr. In
der Persönlichkeit finden die Widersprüche ganzheitlich zusammen (im Gegensatz
zur Welt der Subjekt-Objekte-Spaltung), was wir sprachlich-symbolisch nur
unvollkommen und niemals exakt ausdrücken können. So ist z. B. die Erfahrung
der Liebe (wahrhaftes Leben) nicht absolut von der Erfahrung des Todes zu
trennen. Liebe ist aber dennoch die fortwährende Überwindung des Todes.
Die paradoxe Einheit von
Endlichem und Unendlichem ist in der Persönlichkeit geistiger Art, in
Blickrichtung der objektivierten Welt logisch nachvollziehbarer und objektivierter
Art. Ich denke, es besteht eine nicht widerspruchslos zu denkende Einheit von
Endlichem und Unendlichem. Paradox meint bei mir also, vom Denken her paradox.
Das müßte ich in meiner Auseinandersetzung deutlich werden lassen. Und wenn
zwischen Endlichem und Unendlichem keinerlei Widersprüchliches bestände, wären
beide Aspekte identisch. Und das wäre für mich ein in keiner Weise
nachvollziehbarer Gedanke – weder logisch noch existentiell. Dieser Gedanke
gilt nicht einmal für die unergründliche Gottheit – das Nichts. In
Blickrichtung des Nichts lösen sich alle Kategorien der Erkenntnis apophatisch
auf. Im Nichts existiert weder Endliches noch Unendliches.
Also erst einmal niemals
„zwei Menschendinge“. So etwas gibt es bei mir nicht. Mensch und Mensch stehen
sich auch nicht wie These und Antithese gegenüber. Das sagen Sie. Jeder
authentische Mensch ist schon höchste Synthese, vollständig und ganz. Die
innermenschliche Beziehung steht über dem Gegensatz These und Antithese.
Nehmen wir Mitleid: Sie
hatten doch schon mal Mitleid mit einem anderen Menschen oder mit einem Tier,
oder nicht? Was soll ich da aufzeigen? Aber ich kann begründen, weshalb
wahrhafte Intuitionen mit universalem
Gehalt unabdingbar sind. Ohne diese Intuitionen der Menschlichkeit hätte sich
der Mensch niemals ethisch-moralisch offenbaren können in der Welt, er hätte
niemals dem Bösen in sich selbst und dem daraus resultierenden grausamen Wirken
in der Welt über seine egozentrische Anlage hinaus widersprochen. (‚Ach, zwei
Seelen in meiner Brust.’) Und dieser Prozeß ist weiterhin voll im Gange und
verlangt geistige Hingabe und Anstrengung. Gäbe es die ethischen Intuitionen
nicht, könnten wir gewissenlos zerstören und morden. Der Mensch wäre sich
gegenseitig völlig egal – usw. Und teilweise wurden die wahrhaften Intuitionen
der Menschen so zugedeckt und pervertiert, daß so etwas wie die KZs in der
Geschichte nicht ausgespart blieben. Beispiele ließen sich nahezu endlos
anreihen. Woher nehmen wir denn die Gewißheit, daß Mord nicht vertretbar ist?
Einfach, weil wir es aufgezeigt und für nützlich befunden haben? Warum Morden
denn die Menschen immer noch, auch wenn es ihnen keinen Nutzen bringt – einfach
aus Haß, Eifersucht usw.? Die Geschichte der Menschheit hat deutlich
aufgezeigt, daß der Mensch sich nicht immer nützlich verhalten hat und verhält!
„Psychischer
Erkenntnisprozeß“ – was immer das sein soll? Aufzeigen? Ich kenne nur einen
geistigen Erkenntnisprozeß, den der Mensch (als Einheit von Körper, Seele
(Psyche), Geist) ganzheitlich vollzieht. Sie verstehen gar nicht, was ich mit
der Einheit von subjektiv-existentieller und subjektiv-objektivierter
Erkenntnis meine, die mehr oder weniger immer einen Prozeß und kein (absolutes,
feststehendes) Ergebnis darstellt (dann wäre es keine Erkenntnis mehr). Und Sie
verstehen auch nicht, worauf es mir ankommt: Es gibt kein absolut feststehendes
Resultat der Erkenntnis. Die Erkenntnis, die erkannt worden war und
niedergeschrieben worden ist, muß bei jeder erneuten Durcharbeitung neu erkannt
werden. Auf dem Blatt Papier existiert die Erkenntnis nicht wirklich, sie wird
erst im Menschen zur Erkenntnis. Der Erkenntnisprozeß an sich ist schon
Resultat und Inhalt zugleich und geht ständig, ununterbrochen (so lange z. B.
der Mensch lebt) weiter. Die geschriebenen Bücher z. B. sind Mittel und
Übermittler des Erkenntnisprozesses, das Resultat im Verbund mit dem Inhalt
jedoch muß immer wieder neu entstehen im Menschen, um erkannt zu werden. Man
spricht auch von der Erkenntnisfähigkeit der Natur, doch davon halte ich nichts
– das ist falsch, den es fehlt in der geistig-unbelebten Natur das erkennende
Subjekt. Sie versuchen die Erkenntnis analytisch aufzugliedern und zerstückeln
sie dabei. Das kann man machen, aber man muß sich bewußt sein, daß Erkenntnis
nur ganzheitlich im Menschen real vonstatten geht.
Ich schrieb:
„Unabhängig vom Menschen
als Person regnet es nicht.“ – Damit meine ich nicht, daß es den Vorgang, den
wir Menschen als Regen bezeichnen, nicht gibt. In welche Schublade wollen Sie
mich hier andauernd schieben? Das, was ich meine, bezieht sich auf die
Erkenntnis. Es ging ja ursprünglich auch um die „unabhängige Wahrheit“. Und da
gilt: „Ob etwas wahr ist oder nicht, ist vom Motiv des Suchenden oder Finders
gänzlich (= im ganzheitlichen Sinne) abhängig!“ Der Regen als ein naturhafter
Prozeß ist definierbar und gesetzlich und auch ohne den Menschen vorhanden.
Aber die Erkenntnis „Regen“ ist unsere Erkenntnis als Menschen des Vorgangs
„Regen“ und ist in uns immer subjektiv real. Nur wir bezeichnen (bzw. werten)
den Regen als Naß, weil wir entsprechende Organe ausgebildet haben, die zur
entsprechenden Wahrnehmung führen. Und erkennen wir nicht mehr im Regen als nur
seinen „objektiven Sachverhalt“? Einen Sinn (unbewußt wirkender Logos) hat der
Regen auch ohne den erkennenden Menschen im Kreislauf der Natur. Aber wo endet
dieser Kreislauf? Muß man nicht soweit gehen und sagen: Auch der Regen ist
weitestgehend auf den Menschen angelegt, damit letztlich der Mensch entstehen
und sich verwirklichen kann? Wo ziehen Sie die Grenzen? Und kann man überhaupt
Grenzen ziehen? Oder ist der Mensch nur ein reines Zufallsprodukt der
Evolution? Muß da nicht noch mehr sein – ein Sinn, Logos, welcher in Richtung
Person, Mensch, unbewußt orientiert (aber nicht zwingt – die Welt versinkt
gleichzeitig auch im Chaos)? Ich habe dazu etwas mehr und detaillierter in „B.
kontra W.“ geschrieben.
Wenn wir das Wort
„Regen“ denken, fügen sich alle möglichen Beimischung, wie Gefühle, Bilder,
konkrete Erlebnisse, naturwissenschaftliche Vorstellungen usw. usf. ein. Denken
wir das Wort „Regen“ ohne Inhalt, was möglich ist, verliert es seinen Sinn und
hört auf, Wort zu sein.
Ja, ich sage,
persönliche Maßstäbe sind auch emotional. Auch die Ratio existiert nur in einem
emotional-geistigen Zusammenhang in der Person. Die existierende Person agiert
ganzheitlich, und einzelne körperlich-seelisch-geistige Komponenten existieren
nicht gesondert.
Und Sie trennen alles,
was zu einer völlig falschen Vorstellung von Erkenntnis führt. Die Erkenntnis
muß man vor allem auch erforschen im Akt seines Geschehens und nicht vorrangig
nur durch Zerlegen des Erkenntnisaktes in seine so nicht existierenden
Bestandteile. Wenn Philosophie nur nach dem Prinzip einer aufgliedernden und
trennenden Semiotik betrieben werden darf, hat der Mensch als
ganzheitlich-lebendiges Wesen und Sinn der Philosophie verloren. Ein
Grammatiklehrbuch ist ja wichtig für den systematischen Unterricht. Aber
Systematik pur für eine Philosophie geht am Menschen vorbei. Darauf lasse ich
mich nicht ein.
Mit „Sinn“ umfasse ich sekundär sowohl den
objektivierten „Sachverhalt“ als auch primär die existentiell-intuitive
Urrealität, die in die Erkenntnis eingeht. Letztere ist mehr als
analytisch-rationales Kalkül, es ist die Schönheit der Natur, eben auch des
Regens, die/der sich für uns immanent-sinnerfüllend offenbaren kann. Die
Schönheit der Natur zu erleben, immanent, geistig, sollte normalerweise jedem
Menschen im Leben möglich sein.
Und das Wort
"Existieren" ist immer auch in zweierlei Hinsicht verwendbar: Man
kann sagen, daß eine objektivierte Welt existiert, wenn mit
"existieren" das Vorhandensein dieser Welt gemeint ist. Man
kann vom existentialistischen Standpunkt aber auch sagen, die objektivierte
Welt existiert nicht, was meint, sie ist nicht subjektiv-existierend bzw.
geistig lebendig wie die selbstbewußte Person - der Mensch. Denn die
unabhängig vorhandene Welt ist nicht der Mensch. Oder? Und vor allem,
die Welt existiert in uns Menschen als Erkanntes niemals so, wie sie
äußerlich-unabhängig existiert. Ich müßte selber ein Stein werden,
Eins-zu-Eins, um letztgültig zu wissen, was Stein ist. Und das ist unmöglich.
Es wird, was die äußere unabhängige Welt angeht, immer Unwägbarkeiten geben.
Und da der Mensch zum Teil auch irdisch, d. h. objektiviert ist, gilt das
auch für ihn. Und da der Mensch nicht einfach Gott, d. h. transzendentes
Prinzip ist, sondern schöpferisch bzw. frei Gott in sich (der Mensch als
diesseitiges und jenseitiges Wesen zugleich) realisieren muß, ist er
jeweils immer einzigartig. Und sobald der Mensch sich realisiert, wahrnimmt,
nimmt er auch Gott auf einzigartige Weise wahr, was wiederum heißt, daß auch
Gott in jedem Menschen einzigartig, unverwechselbar ist. Und dennoch ist Gott
auch das überpersönliche transzendente Prinzip - Liebe, Leid, Mitleid,
Freiheit, Wahrheit usw., was für alle Menschen grundsätzliche, überpersönliche
und in diesem Sinne universale (nicht allgemeine, d. h. gesetzliche bzw.
"objektive") Bedeutung hat.
MfG
Dirk Hübner
(Aus meiner
Korrespondenz mit Herrn H. – Juli 2002)
Ich
denke nicht, daß der Mensch dazu berufen ist, die Naturgesetze neu zu schaffen.
Das ist für mein wirkliches Wollen nach Liebe nicht von belang. Ich spüre in
mir primär kein Verlangen nach einer, wenn auch schöpferischen, Neugestaltung
der Gesetze. Eigentlich will ich über die Gesetze hinausgelangen, aber ich muß
anerkennen, daß ohne ein Mindestmaß an Gesetzmäßigkeit eine grausame Anarchie
um sich greifen würde. Von dieser Seite aus betrachtet sind Gesetze unabdingbar
bedeutsam.
Ich
denke weiterhin, daß die objektivierte Welt in gewisser Weise real vorhanden
ist, aber nicht im geistig-subjektiven Sinne. Ich behaupte den
korrespondierenden Dualismus von Subjekt und Objekt, über den der Mensch fortwährend
hinausgelangen muß (aber nicht absolut), will er leben. Die Bestimmung des
Menschen offenbart sich ihm letztlich in seiner Subjekt-Subjekt-Beziehung.
Wäre ich vollkommener
göttlicher Magier, könnte ich alle Widerstände in der Welt beseitigen und fiele
auf diese Weise in ein undifferenziertes Nichts. Wollte ich jedoch Leben, wäre
ich gezwungen, als Schöpfer das Böse in der Welt zu errichten, damit ich im
Widerstehen gegenüber dem Bösen das wahre Leben erkennen kann. Aber
weitergedacht: Wäre ich letztlich allumfassender Schöpfer in der
übereinstimmenden Schöpferkraft aller Ichs, dann wäre das ganze Leben von
meinem/unserem Ursprung aus allumfassend prädestiniert. Wo wäre da noch
Offenheit?
... ich kann Ihnen nicht
zustimmen. Ich als menschliche Person fühle mich nicht als ein Teil irgendeines
übergeordneten Ganzen. Das ist eine meiner Grundaussagen.
In
diesem Zusammenhang schließt "fühlen" "wissen" ein.
Dieses "Wissen" ist jedoch kein objektiviertes und zu beweisendes
Faktenwissen, sondern existentiell gefühltes Wissen. Ich fühle und
weiß mich unmittelbar als Persönlichkeit (als personales Ich, aber nicht
als zeitweiliges Rollen-Ich) ganz und nicht geteilt. Eine gespaltene
Persönlichkeit ist keine ganze. Die Frage nach der Persönlichkeit (nicht
gleichzusetzen mit autonomer Individualität) ist meines Erachtens die
Frage des/unseres Lebens schlechthin.
Die
Persönlichkeit des Menschen ist geistiger Art, ist geistiger Akt. Mein
menschlicher Körper ist ein ganzheitlicher Aspekt meiner Persönlichkeit, gehört
zu meinem Persönlichkeits-Ich, zu meiner Persönlichkeitserfahrung. Mein Körper
wird von mir nicht in objektivierender, sondern in existentieller Weise
erfahren. Ich erfahre meinen Körper unmittelbar geistig-existentiell. D. h.,
der personal zu erfahrende Körper unterscheidet sich wesentlich von dem geistig
bzw. subjektiv vorgestellten, objektivierten Körper. Insofern ich meinen Körper
objektivierend betrachte, ist er nicht mehr ein ganzheitlicher Aspekt
meiner Persönlichkeit, sondern Natur und unpersönlich und kann von mir nur
naturabhängig gedacht werden. Wird mein Körper von mir naturabhängig gedacht,
betrachte ich ihn als einen Teil der Natur. Doch dieser Körper ist nicht der
geistig-menschliche, sondern der natürliche Körper als Teil eines gesetzmäßigen
Zusammenhangs. Insofern ich meinen Körper nur als einen Teil der Natur
betrachte, ist er nicht mein Körper-Ich.
Weiterhin:
Die Natur meiner Seele ist primär geistig begründet und steht sekundär in einem
natürlichen Zusammenhang. Ich erfahre die Seele personal-mikrokosmisch (Einheit
von Körper, Seele und Geist) und nicht unpersonal-makrokosmisch. So ist
das bei mir, und danach richten sich meine philosophischen Äußerungen. Aber der
Mensch ist ein tragisches Wesen, denn er ist auch in den natürlichen Ablauf
eingebunden, als biologisches Wesen, und muß den daraus entstehenden Konflikt
bezüglich seines geistigen Freiheitsstrebens ein Leben lang bewältigen.
Die Bestimmung des Menschen ist meines Erachtens aber nun wirklich nicht
biologischer , sondern freiheitlich-geistiger Art.
MfG
Dirk Hübner
(Beitrag
vom 30.11.02 für KenWilber-de@yahoogroups.com)
Hallo,
nach
langer Zeit mal wieder eine Wortmeldung von mir.
Es geht
mir um das hier diskutierte Rationalitätsproblem in Anlehnung an Wilber.
Ich
möchte mal fragen: Wenn bereits ein einjähriges Kind dazu in der Lage ist,
„Mama“ zu sagen und mit diesem BEGRIFF eine eindeutige Zuordnung vornimmt, wie
kann man dann diesem Kind eine prärationale Bewußtseinstufe unterstellen, wie
Wilber es macht. Ich denke, daß ein Mensch, sobald er auf die Umwelt in
irgendeiner Weise aktiv reagiert, geistig ein rationales Moment einschließt.
Wilber
geht noch weiter:
„Hat etwa das Neugeborene die Fähigkeit, sich
kognitiv in die Rolle eines anderen zu versetzen? Nein, diese Fähigkeit taucht
erst um das siebte oder achte Lebensjahr auf. Aber ohne diese Fähigkeit, sich
in die Rolle eines anderen zu versetzen, gibt es auch keine Fähigkeit zu wirklichem
Mitgefühl, zu altruistischer Liebe oder intersubjektiver Fürsorge; es gibt
keine rücksichtsvolle Ethik und moralische Tugend und keinen Dienst am anderen.
Dieser kindliche Zustand ist nach praktisch einhelliger Meinung ein äußerst
egozentrischer und narzißtischer Zustand“ (S. 452/ 453, Das Wahre, Schöne,
Gute; Ausgabe 1999).
Zu
Rollendenken, gebe ich Wilber Recht, ist ein kleines Kind weitgehend noch nicht
in der Lage. Dazu bedarf es entsprechender rationaler Fähigkeiten. Aber wenn
ich beobachte, daß ein nicht einmal zweijähriger Junge sehr wohl die Stimmungen
seiner Eltern sehr deutlich spürt und aufnimmt und darauf (mitfühlend)
reagiert, was soll ich dann von dem obigen Zitat halten? Oder hat dies etwa mit
„wirklichen Mitgefühl“ nichts zu tun? Ist das einfach nur purer Narzißmus? -
Wilber erklärt die Kinder zu Narzißten, damit sein Evolutionsschema des
„GEISTES“ aufgeht.
Wilber
schreibt:
„Ein
kurzes Beispiel: Bei der kognitiven und moralischen Entwicklung von Jungen und
Mädchen ist das Stadium des im präoperationalen oder präkonventionellen Denkens
weitgehend durch den eigenen Blickwinkel des Individuums bestimmt
(‚Narzißmus’). Auf der folgenden, der operationalen oder konventionellen Stufe
bleibt zwar der eigene Blickwinkel bestehen, doch kommt jetzt die Fähigkeit
hinzu, auch die Perspektive anderer nachzuvollziehen. Nichts ging verloren,
vielmehr kam etwas hinzu. In dem Sinne kann diese neue Stufe mit Recht höher
oder tiefer genannt werden, nämlich wertvoller und nützlicher für eine breitere
Palette von Interaktionen. Konventionelles Denken ist wertvoller als
präkonventionelles, weil es ausgewogene moralische Reaktionen ermöglicht (und
postkonventionelles Denken bringt abermals einen Wertzuwachs mit sich)“ (S. 80;
Das Wahre, Schöne, Gute; Ausgabe 1999). – Weiterhin schreibt Wilber:
„Rationalität
schafft einen tieferen Raum von Möglichkeiten, in dem tiefere und
ausgreifendere Gefühle fließen können – nicht gefesselt durch mein isoliertes
Mögen und Nichtmögen oder durch Konventionen dessen, was offiziell als wirklich
gelten kann“ (Wilber, K.: Eros, Kosmos, Logos, Wolfgang Krüger Verlag, 1996, S.
222).
Wilber
spricht Kindern tiefe Gefühle ab, weil er Gefühle in
deterministisch-evolutionäre Abhängigkeit von Rationalität stellt. Doch ich
habe neulich erfahren können, wie ein kleiner vierjähriger Junge seinen Vater
tröstete. Der Junge spürte den tiefen Schmerz, den sein Vater erleiden mußte
und litt mit ihm, wollte ihm mitleidend helfen und äußerte dabei auch tiefe
Einsichten. Das war mitfühlender Dienst am anderen. Dazu war/ist kein
Rollenbewußtsein/-denken nötig!
Ich
persönlich hatte mich als fünfjähriger Junge im Kindergarten in ein Mädchen
unserer Gruppe verliebt. In der Nähe dieses Mädchen bekam ich rasende
Herzklopfen, fing an zu stammeln und litt unter meinem Versagen. War dieses
Liebesgefühl nur ein narzißtisches Mißverständnis? Das lasse ich mir nicht
einreden! Da Wilber den Menschen GÄNZLICH in ein evolutionäres Stufenmodell
einpaßt, wertet er die Kinder automatisch ab, da sie, Wilber zufolge, automatisch
nicht zu tiefen Gefühlen in der Lage sind. Wer eine höhere Geistesstufe
erreicht hat, ist entsprechend des obigen Zitates (S. 80) „wertvoller und
nützlicher für eine breitere Palette von Interaktionen. Konventionelles Denken
ist wertvoller als präkonventionelles, weil es ausgewogene moralische
Reaktionen ermöglicht (und postkonventionelles Denken bringt abermals einen
Wertzuwachs mit sich)“. Diese letzte Aussage trifft nur zu, wenn man das
rationale Vermögen höher einschätzt als die Liebe, als die Gefühle. Das kommt
für mich nicht in Frage! Nicht das rationale Vermögen, sondern die
Liebesintuition ist die ethisch-moralische Grundlage unseres Handelns und
unserer authentischen (d. h. nicht fremdbestimmten) Vernunft. Und daß für die
Mutter ihr Kind einen ganz besonderen Wert besitzt, wird bestimmt nicht dadurch
gemindert, daß das Kind noch nicht zu „konventionellem Denken“ in der Lage ist.
Jeder Mensch ist unabhängig von seinen Fähigkeiten zu jeder Zeit seines Lebens
von allerhöchstem Wert. Und dies gilt auch für Verbrecher, ansonsten wäre die
Todesstrafe ja kein Problem. Auch Verbrecher sind zunächst einmal Menschen. Und
da nehme ich in Vergangenheit und Gegenwart keinen Menschen aus!
Ich
habe in meinem Beitrag „Berdjajew kontra Wilber“ (siehe dazu auch diese
Diskussionsgruppe) den Narzißmus als eine Krankheit insbesondere von
erwachsenen Menschen bezeichnet. Kleine Kinder kommen für diese Krankheit in
der Regel noch nicht in Frage, da sie noch kein ausgeprägtes
Rollenbewußtsein/-denken besitzen.
Das
„irrational“ vor allem negativ mit „unvernünftig“ assoziiert wird hat nach
meinem Dafürhalten auch etwas mit unserer traditionell positivistischen
Geisteshaltung zu tun. Wilber unterscheidet quasi zwischen irrational, rational
und arational – gleichzusetzen mit prärational, rational und transrational.
Doch diese chronologische Einteilung halte ich für völlig verfehlt. Der Mensch
als ganzheitliches Wesen, als Person, operiert von Anfang an mit einem
Mindestmaß an rationalem Vermögen, und das hört, solange der Mensch lebt,
niemals auf. In der Tat kann man mit bestimmten meditativen Techniken die Ratio
nahezu ausschalten, gelänge dies jedoch einem Menschen absolut und dauerhaft,
käme dieser Zustand dem Gestorbensein gleich. Sehr wohl weist Wilber darauf
hin, daß „transrational“ das Rationale nicht vernichtet, sondern einschließt.
Aber wenn er die sogenannte „nonduale Bewußtseinsstufe“ (z. B. in „Das Wahre,
Gute, Schöne“ etc.) beschreibt, so bleibt dabei im Dunkeln, wo da eigentlich
noch Rationales zu finden ist.
Die Welt
hat einen irrationalen Grund, das Nichts. Hiermit stimme ich mit Wilber und
östlichem Denken überein. Aber dieser Grund ist nicht zugleich die Wahrheit.
Die Wahrheit ist eine ganzheitlich-persönliche, eine wahrhaft
geistig-menschliche Dimension und Aufgabe, für die sich jeder einzelne Mensch
einsetzen muß. Und Irrationalität ist nicht von vornherein unvernünftig
schlecht, sondern bedarf unserer schöpferischen Aufmerksamkeit, damit diese
Irrationalität nicht pervertiert und eine Schattenexistenz aufbaut und uns zu
sich herabzieht. Auch Gefühle sind vom Grunde her irrational und müssen über
den Verstand und unsere ethische Intuition, Gott (Grundintuition), und im
gemeinschaftlichen Leben zugleich schöpferisch gewahrt werden.
L.G.
Dirk
Hübner
P.S.:
Bei all meiner Kritik an Wilber, er war und ist für mich dennoch ein wichtiger
und anregender Denker.
Das er jetzt sehr krank ist, tut mir sehr leid!
(Aus
meiner Antwort vom 3.12.02 zur Diskussion im KenWilber-de@yahoogroups.com)
Zunächst
einmal sage ich: Irrationalität versus Rationalität, oder anders gesagt: Gefühl
versus Verstand, Ratio. Vernunft ist umfassender als Rationalität = Verstand,
Ratio. Vernunft ist eine integrale geistige Leistung und beinhaltet danach grob
gesagt irrationales bzw. arationales (für mich dasselbe) Gefühl, Ratio und
(ethische) Intuition zugleich. Gefühl, Ratio und Intuition treten immer
personal bewußt und niemals unabhängig bzw. getrennt voneinander auf.
Bei Wilber
ist Rationalität nicht völlig klar
definiert. In EKL setzt er sie mit dem Wort "Vernünftigkeit" gleich,
weiterhin mit "Wissenschaft" und erläutert z. B. auf den Seiten 455
bis 462, was Rationalität alles so bewirkt. Aber auf jeden Fall trennt er in
EKL chronologisch prärational (= präpersonal), rational (personal),
transrational (transpersonal). D. h. logisch wiederum, daß Rationalität bei
Wilber die personale Stufe meint. Die Frage lautet weiterhin, ist prärational
gleichzusetzen mit präkonventionell usw., und ist die prärationale
Bewußtseinsstufe nur eine rein gefühlsmäßige? Oder wieviel Verstand gesteht
Wilber Kindern unter dem 7. oder 8. Lebensjahr entsprechend zu? Oder können
kleine Kinder eventuell auch mal vernünftig sein? Alles nicht ganz klar bei
ihm. Und das ist auch kein Wunder, weil er die menschliche Person unter den
Begriff Rationalität subsumiert. Die menschliche Person ist nicht nur einfach
Rationalität, selbst wenn unter Rationalität Vernünftigkeit zu verstehen ist,
da die Vernünftigkeit nur ein Ausdruck, ein Produkt, eine Fähigkeit
ganzheitlichen Zusammenwirkens von Gefühl, Ratio und (ethischer) Intuition der
Person ist und nicht deren Ursache. Aber daß nun die Fähigkeit eines
einjährigen Kindes "Mama" zu sagen nicht auch eine kognitive
Verstandesleistung sein soll, will mir nicht einleuchten. Und für mich sind
auch kleine Kinder im Vorschulalter Persönlichkeiten.
Ich
habe Piaget nicht gelesen, und ich denke, daß das auch nicht notwendig ist, um
in dem Punkt, wo es um tiefgreifende bzw. tiefergreifende Gefühle bei Kindern
geht, Wilber kritisieren zu können.
Ja,
und um das eigene schematisierte Denken nicht in Gefahr zu bringen, erklärt man
kurzerhand das Gedächtnis für gänzlich unglaubwürdig bzw. untauglich. Da gehe
ich nicht mit. Ich sage: Wir interpretieren nicht nur, sondern erinnern uns
auch wirklich und lebhaft. Ansonsten hätte die Vergangenheit nur eine
sekundäre, verzerrte Bedeutung. Wir können nur in der Gegenwart leben, wenn uns
auch persönlich authentische Erinnerungen bleiben, ansonsten wären wir völlig
haltlose Wesen und nicht lebensfähig. Ich könnte zu keiner Selbsterkenntnis
kommen, gäbe es nicht einen immer wiedererkennbaren personalen Kern in mir,
mein authentisches Persönlichkeits-Ich. Wenn Wilber z. B. auf S. 459 von EKL
(1996) sagt: "Rationalität läßt aus der alten Rollenidentität eine
Ich-Identität hervorgehen", so frage ich mich entsprechend, wer ich im
Kleinkindalter eigentlich war? Offensichtlich nicht ich. Aber nach den Fotos zu
urteilen, hatte der Mensch damals schon gewisse Ähnlichkeiten mit mir heute.
Auf der gleichen Seite 459 fährt Wilber fort: "Die moralische Entscheidung
liegt jetzt beim Individuum, das für seine relativ autonomen Entscheidungen
selbst die Verantwortung tragen muß...". Und kleine Kinder sind unfähig,
eigene moralische Entscheidungen zu treffen? Sind sie denn nur Automaten und
besitzen keine Ich-Identität? Für Wilber muß das so sein, sonst geht sein
System flöten.
Stimmt
nicht. Konventionen sind Übereinkünfte, Regeln des Umgangs, Verhaltensnormen.
Kinder befolgen sehr wohl Regeln, ansonsten würde ja z. B. im Kindergarten das
reinste Chaos herrschen. Kinder sind sogar auf Regeln erpicht, bekommen Angst,
wenn etwas anders läuft, als sie konventionell gewohnt sind.
Ich
will mich nun nicht mit Dir darüber streiten, wie tief die 'Weisheit' von
Kindern geht. Und auf jeden Fall ist das kindliche Weltbild eingeschränkt. Aber
das verhindert nicht, daß sie z. B. einfühlsam die Stimmungen ihrer Eltern
erfassen können. Das sollte man nicht unterschätzen. Außerdem sind sie in ihren
Äußerungen viel unverblümter und ehrlicher, d. h. authentischer, als die
sogenannten Erwachsenen, deren personales Ich durch Rollendenken und -verhalten
oftmals vernebelt wird (z. B. Etikette wahren).
Nichts
einzuwenden. Aber das Verständnis und die Interpretation ist schon sekundär.
Die Liebe ist primär motivierend - das war für mich damals wie heute so. Und
genauso wird der Verstand und umfassender die Vernunft erst durch die
Liebesintuition wahrhaft aktiv und nicht umgekehrt, wie Wilber das sieht. Denn
ein umfassenderes rationales Vermögen muß nicht in erster Linie durch Liebe
inspiriert werden, sondern kann auch vehment einem pervertierenden Machtstreben
entspringen und für das Machtstreben genutzt werden. Liebe als ethischer Imperativ.
Die Ratio an sich ist gar nichts.
Bei
Wilber löst sich der personale Mensch (als geistiges Wesen) im
"transpersonalen GEIST" auf. Welcher Wert sollte denn in diesem
"GEIST" auch enthalten sein, wenn dieser "GEIST" per
definitionem uncharakterisierbar bzw. "leer" ist?
(Aus
meiner Antwort vom 4.12.02 zur Diskussion im KenWilber-de@yahoogroups.com)
Rollenspiele
und damit Konventionen sind im Kindergarten gang und gäbe (Friseur-,
Kaufmannsladenspiele). Kinder imitieren Erwachsenenrollen. Kinder erziehen sich
gegenseitig, und das schon im Kindergarten. Sie petzen (dem Erzieher z. B.),
wenn einer sich rollenwidrig verhält. Alles eigene Erfahrungen und
Beobachtungen. Mit Rollenspielen versetzt man sich in die Rolle eines anderen.
Das bei kleinen Kindern dies noch relativ oberflächlich geschieht, bezweifle
ich nicht. Aber insofern müßte man Wilber sogar dahingehend widersprechen, daß
die Fähigkeit, sich in die Rolle eines anderen zu versetzen, schon im
Kleinkindalter beginnt und fortlaufend vertieft wird, bis schließlich der
Erwachsene oft gar nicht mehr genau weiß, wer er eigentlich ist. Das ist dann
schon sehr bedenklich. Und es mag sein, daß im Alter von sieben oder acht
Jahren ein besonders tiefes Rollenverständnis ausgeprägt ist.
(Aus
meiner Antwort vom 5.12.02 zur Diskussion im KenWilber-de@yahoogroups.com)
Zunächst
bin ich Wilber ja zustimmend gefolgt, dann entwickelte sich in mir ein Widerspruch,
der mich auch heute noch inspiriert – zumal ich mich ja auch relativ ausgiebig
mit Wilber beschäftigt habe. Und mich auch diesbezüglich auszutauschen, ist mir
ein Bedürfnis, auch wenn der Austausch bisher eher mager und ernüchternd für
mich ausfällt – in welcher Hinsicht auch immer.
Nehmen
wir ein kleines dreijähriges Kind, daß unwirsch mit seinem Teddy umgeht, und
die Bezugsperson sagt, daß er auch den Teddy lieb haben soll, appelliert dabei
die Bezugsperson nur an den Verstand oder nicht vor allem auch an das
potentiell vorhandene Mitgefühl des Kindes?
Wenn
Du den Kinder sagst, sie sollen keine kleinen Tiere umbringen, und sie
verinnerlichen es nicht mitfühlend, werden sie es oft bald wieder tun. Aber Du
schreibst eben von kleinen Tieren, bei größeren Tieren kippt die Sache schon
um, weil die Kinder zunehmend fühlen und schließlich erkennen, daß das andere
lebende Wesen in gewisser Hinsicht ihnen ähnlich ist und Schmerzen empfindet
usw. Dazu muß das Kind keine objektivierte Vorstellung vom Tod besitzen, wobei
Todeserfahrungen auch schon kleine Kinder machen können, wenn sie sich
existentiell durch Umstände im weitesten Sinne bedroht fühlen (selbst erfahren,
aber das zählt ja offensichtlich nicht). Und spätestens kleine Kinder
untereinander bringen einander nicht arglos um. Erwachsene könnten gar nicht
soviel aufpassen, um die Kinder unbeschadet über den Tag zu bringen, hätten die
kleinen Kinder nicht schon ein eigenes Mitgefühl (ich erinnere an das Zitat:
"wirkliches Mitgefühl" bei Wilber nicht vor 7. Lebensjahr), daß sie
in eine echte authentische, innerlich-mitfühlende Beziehung zueinander
eintreten läßt – unabhängig davon, daß dieses Mitgefühl sich ständig vertiefen
kann. Aber das muß nicht sein. Erwachsene haben gelegentlich überhaupt kein
Mitgefühl mit Kindern, und das kommt sehr häufig vor – auch in der Schule
(Überforderung der Kinder vor allem zeitmäßig und durch den Lernumfang,
verstandesmäßiges Lernen steht im Vordergrund, Vernachlässigung individueller
Besonderheiten bzw. allgemeine nichtindividuelle Lehrmethoden usw. usf.).
Darüber hinaus sage ich aber nicht, daß Kinder immer die reinsten
Unschuldsengel wären, auch bei ihnen können Gefühle pervertieren. Auch kleine
Kinder können voller Wut sein aus verschiedensten Gründen (alles schon miterlebt).
Hier
tritt ein altes Problem zutage. Gibt es überhaupt irgendeine wissenschaftliche
Methode, die völlig neutrale Beschreibungen liefern kann und das eigene
subjektive Wollen vollkommen ausschließt? Nein. Wir setzen für das wissenschaftliche
Arbeiten zunächst immer Annahmen voraus und forschen dann. Auch ein Piaget hat
Voraussetzungen und Vorüberlegungen in sein Forschen eingebracht, ansonsten
hätte er mit dem Forschen erst gar nicht angefangen. Und eine nüchterne,
neutrale Herangehensweise in der Erforschung der inneren Welt von Kindern halte
ich von vornherein weder für angemessen noch für möglich. Für die innere Welt
der Kinder ist Einfühlungsvermögen notwendig, sonst nützt das ganze einfache
Zuhören und Rekonstruieren nichts. Aber Einfühlungsvermögen ist eben auch nicht
nachweisbar, wird deshalb für das wissenschaftlichen Forschen offiziell kaum
zugelassen werden. Es läßt sich halt nicht alles beweisen.
Um
mich an frühere Gefühlsmomente zu erinnern, muß ich mich doch nicht auf mein
früheres Weltbild/Konzept zurückentwickeln. Natürlich kann ich heute eine ganz
andere Sicht an den Tag legen. Aber deshalb sind doch die Erinnerungen
gefühlsmäßig-bildhaft (was auch eine Verstandesleistung einschließt)
rekapitulierbar, nicht was die einzelnen äußeren Tatsachen betrifft, an die man
sich oftmals nur noch fehlerhaft erinnert, was aber nicht ausschlaggebend ist.
Auf die wesentlichen Erinnerungsmomente kommt es an, und die können einem
innerlich immer wieder sehr deutlich werden. Ein Trauma aus meiner Kindheit
(ich war Anfang 6) wird mir ewig im Gedächtnis bleiben, auch wenn ich heute
ganz anders damit umzugehen weiß und die Angst überwunden habe (auch Dank
meiner Eltern), die mich damals ergriffen hatte (Das waren auch Todesängste, auch
wenn ich das so nicht hätte interpretieren können. Übrigens haben meine Eltern
meine damalige Panik bestätigt). In diesem Zusammenhang ist mir das Mitleid mit
all seinen Facetten zu einem anderen Menschen immer noch gegenwärtig, wenn ich
mich an dieses Geschehen heute zurückerinnere.
Sobald
das Kind sich seiner selbst bewußt wird, hat es einen Kern wie ich auch, und da
steht es mir, mit all meiner weiteren Entwicklung, in nichts nach. Wie dieser
Kern des Kindes sich entfalten oder auch verdrängt und abgetötet (niemals
gänzlich) werden kann, das wird sich dann zeigen. Du stellst die Persönlichkeit
in eine sie fortlaufend verändernde Entwicklungslinie. Für mich ist die
Persönlichkeit paradox, d. h., sie entwickelt sich und gewinnt an Tiefe, aber
zugleich bleibt sie sie selbst. Die Dynamik des Persönlichkeitskerns ist eine
andere, außerhierarchische Dimension – so sehe und beschreibe ich das, ein
klein wenig abweichend von Berdjajew, aber im Grunde ihm nicht widersprechend.
Nur nach außen gerichtet entwickelt sich die Persönlichkeit stufenförmig in
Anlehnung an eine hierarchisch/holarchisch gegliederte Welt. Mehr auch in
"Berdjajew kontra Wilber".
Z. B.
auch in diesem Punkt verstrickt sich Wilber in Widersprüche. Das kommt zunächst
daher, daß er "ethisch" und "moralisch", wie z. B. in
"Das Wahre, Gute, Schöne" geschehen und von mir in "Berdjajew
kontra Wilber" belegt, nicht wirklich zu unterscheiden weiß. Ich hatte
Wilber zitiert: "Rationalität läßt aus der alten Rollenidentität eine
Ich-Identität hervorgehen". Und weiter: "Die moralische Entscheidung
liegt jetzt beim Individuum, das für seine relativ autonomen Entscheidungen
selbst die Verantwortung tragen muß...". Aber bevor die Ich-Identität
hervorging, war der in der Rollenidentität gefangene Mensch offensichtlich
gänzlich fremdbestimmt, auf Befehle und Anordnungen von anderen angewiesen. Ich
sage dazu, daß es solch einen Menschen nirgends gibt, denn dann wäre er kein
Mensch mehr, sondern ein, sagen wir, biologischer Computer. Jeder Mensch als
Person besitzt eine unabhängig authentische (insbesondere ethische)
Entscheidungs- und Wertungsfähigkeit, auch wenn sie noch so schwach entwickelt
ist (auch wenn der Mensch zuweilen auf viele Anordnungen angewiesen ist). Erst
auf diese Weise können wir uns WAHRHAFT moralisch (auf Grundlage der ethischen
Intuition) verhalten und überhaupt entwickeln. Wilbers Stufenmodell und seine
moralische Entwicklungslinie schließen sich gegenseitig aus. Denn wirkliche,
eigenverantwortliche Moralentscheidungen, die moralische Entwicklungslinie,
beginnt, Wilbers Konzept logisch durchdacht, erst irgendwann in der Entwicklung
des Menschen, aber offensichtlich noch nicht in der früheren Kindheit (für
Wilber präpersonal, offensichtlich sogar noch vor Rollen-Identität). (Generell
halte ich hinsichtlich der Person das Stufenmodell und die Entwicklungslinie
für kompatible.) Auch Wilber hat einen scheinbar ganzheitlichen Ausgangspunkt –
seinen absoluten "GEIST". Aber dieser ist uncharakterisierbar und
gibt uns keine Hinweise für ein konsistentes Menschenbild. Und genau auf dieses
Menschenbild kommt es mir an, welches sich bei Wilber konfus und nur
schemenhaft zu erkennen gibt, weil es nicht wirklich (sondern nur scheinbar) im
Mittelpunkt seiner Auseinandersetzung steht (auch wenn er Menschliches sehr
anrührend zu erzählen weiß wie z. B. in "Mut und Gnade", ich beziehe
mich hinsichtlich meiner Kritik vor allem auf seine philosophischen Theorien).
In diesem Zusammenhang halte ich mich an den
berühmten Ausspruch von Angelus Silesius: "Ich weiß, daß ohne mich Gott
nicht ein Nu kann leben; werd' ich zunicht, er muß von Not den Geist
aufgeben." – Und so verschwindet auch die gottmenschliche Person. Dennoch
ist die Person ewig, aber nicht im zeitlichen Sinne. Dies ist ein paradoxe
existentielle Erfahrung. Dieses Paradoxon ist logisch-rational nicht lösbar.
Wir erfahren die Wahrheit innerlich-ganzheitlich-existentiell und wissen und
erfahren doch zugleich, daß wir sterbliche Wesen sind und die Wahrheit in der
Zeit nicht unendlichen Bestand hat. Der Mensch ist eben sowohl ein zeitliches
als auch ein überzeitliches, d. h. ethisch-religiöses Wesen als ganze Person.
Mit dieser Problematik hat sich auf unvergleichliche Weise insbesondere
Berdjajew beschäftigt, dem ich bekanntermaßen (B. kontra W.) sehr zugetan bin -
das muß ich ja nicht verleugnen.
(Aus
meiner Antwort vom 16.12.02 zur Diskussion im KenWilber-de@yahoogroups.com)
Ich
frage mich immer wieder, wie sogenannte Transzendenz erfahrbar ist? Doch wohl nur
immanent, in uns als geistige Person. Wo gibt es einen freien Willen, wenn
nicht in uns als Menschen, als Personen? Für mich gibt es keine Transzendenz
ohne Immanenz, denn ich entscheide mich ethisch doch zunächst innerlich und
nicht irgendwo außerhalb bzw. fremdbestimmt. D. h. Transzendenz ist ein
Wesenzug meines Herzens in mir, Transzendenz ist mir immanent. Und Transzendenz
kann nur ethisch sein, wenn es sich auf etwas bezieht, zuvorderst auf einen
anderen Menschen, auf eine andere Person, aber auch auf die Natur usw.
"Nondualität" ist für mich ein irreführender Begriff (vor allem auch
so, wie ihn Wilber definiert), der mit der innermenschlichen, existentiellen
Realität nicht zu vereinbaren ist. Der immanente nichtobjektivierte Prozeß gestaltet
sich nach meiner Überzeugung immer
zwischen einem Ich und einem Du in einem Wir, d. h. in der Zwei-Einheit und
nicht in der absoluten Einheit, die Wilber als "Nondualität"
bezeichnet. Und nichtegozentrische, nichtnarzißtische Liebe des Menschen zu
sich selbst ist nur möglich, wenn er immanent in Zwei-Einheit mit dem
Göttlichen vereint, wenn er mit seinem Wesenskern in sich existenzdialektisch
verbunden ist (siehe auch Berdjajews Buch: Existentielle Dialektik des
Göttlichen und Menschlichen, - Kopie z. B. über Unibibliothek erhältlich).
Wilber
kann aus seinem nondualen Ansatz heraus gar nicht erklären, wie die ethische
Intuition in uns als Personen real werden soll. Das habe ich auch in meinem
Beitrag "Berdjajew kontra Wilber" besprochen.
Der
Dualismus bezeichnet das Nebeneinanderbestehen zweier verschiedener, nicht zur
Einheit führbarer Zustände, Prinzipien, Denkweisen, Weltanschauungen,
Willensrichtungen, Erkenntnisprinzipien (laut Philoso. Wörterbuch).
Gelegentlich spricht man auch vom absoluten bzw. strengen Dualismus. Gegenüber
stehen sich die Welt der Ideen und die Welt der Wirklichkeit (Platon),
weiterhin gut und böse (Augustinus), jenseits und diesseits, irdisch und
himmlisch, Objekt und Subjekt usw. Das Duale ist also
philosophisch-weltanschaulich kein irdisches Problem, sondern ein
Irdisches-versus-himmlisches-Problem. Der Idealismus wollte alles monistisch
dem absoluten Geist (übergreifende Einheit der Gegensätze - Hegel) zu- bzw.
unterordnen. Berdjajew dagegen kämpfte sowohl gegen den strengen Dualismus als
auch gegen den absoluten Monismus und erkannte im Dualismus ein notwendiges und
ethisch zu überwindendes Durchgangstadium des gottmenschlichen Erkenntnis- und
Wahrheitsprozesses (die Welt darf nicht hingenommen, sondern muß
schöpferisch-ethisch verändert werden = ethischer Imperativ, Herz, ethisch
motiviertes Gewissen). B. sprach vorsichtig von einem ethisch-eschatologischen
Monismus nicht als das Absolute, sondern als eine im persönlichen Leben
fortlaufend zu verwirklichende Aufgabe. Den Dualismus gänzlich zu überwinden
bedeutet, den Menschen zu überwinden bzw. zu vernichten, denn dieser ist immer
sowohl irdisch-physisch als auch himmlisch-geistig, d. h. unser Bestimmung ist
eine ganzheitliche und nicht nondual.
Übrigens
ist auch der rein diesseitig bzw. irdisch orientierte Materialismus Monismus
reinsten Wassers und nicht Dualismus.
Eine
Integration ist m. E. nur durch das existentielle Zentrum (die ganzheitliche
Persönlichkeit) möglich, die in sich Transzendenz und Immanenz vereint. Das
Spekulieren über das "Nonduale" entsprechend Wilbers Theorie kann
ethisch-moralisch überhaupt gar nichts bewirken, weil es nicht das menschliche
Herz zur Grundlage hat und sprachlich nur zu Abstraktionen führt, die mit dem
Leben nichts zu tun haben.
(Aus
meiner Antwort vom 18.12.02 zur Diskussion im KenWilber-de@yahoogroups.com)
Ich
habe mir mittlerweile die von U. empfohlenen Links angesehen und möchte auf
folgende Zitate daraus eingehen:
(Aus "Die redaktionellen Tricks des Gehirns Florian Rötzer 20.03.2000")
"So meint er (Benjamin Libet) beispielsweise,
dass angesichts der Verzögerung des bewussten Willens die Funktion des Bewussteins
wahrscheinlich nicht darin liege, Handlungsketten zu initiieren, sondern
willensbestimmte Ereignisse zu selektieren, was auch heißt, dass sich
Handlungspotentiale, die vor dem Erleben des bewussten Willens einsetzen, DURCH
EINE ART VETO-AKTION ABGEBROCHEN WERDEN KÖNNEN (Hervorhebung von mir)."
"
Dieses Ich, dieses Bewusstsein, ist für das Bewertungssystem nur ein besonderes
Hilfsmittel, das genau dann eingesetzt wird, wenn komplexe neuartige
Situationen auftauchen, für die die bisherige Erfahrung nicht sagt, was zu tun
ist." - " Wenn die Entscheidungssituation frei und wenn wenig
emotionale Vorbelastung da ist, wenn wenig Vorgaben durch meinen Charakter und
meine Persönlichkeit, dann hat dieses Ich große Gestaltungsmöglichkeiten."
- "Das Ich steigt aus dem Unbewusstenn auf, und was es macht, ist mit dem
limbischen System konform oder nicht. Die Konflikte werden MEIST (Hervorhebung
von mir) zu Gunsten des limbischen Systems, zugunsten der Emotionen
gelöst." - " Jeder Mensch wird von diesem WEITGEHEND (Hervorhebung
von mir) unbewusst arbeitenden Bewertungssystem getrieben. Dieses System geht
nur nach der Regel vor: wiederhole das, was für dich günstig, positiv,
erfolgversprechend ist und vermeide das, was für dich schlecht ist,
schmerzhaft."
Diese
Zitate widersprechen der Feststellung, daß GÄNZLICH "alles ganz einfach
geschieht". Aber Herr Roth schränkt die Freiheit (insbesondere
Willensfreiheit) des Menschen schon ganz schön ein. Typisch ist für seine
evolutionär-reduktionistische Sicht, daß er das Menschenbild zerpflückt und
davon ausgeht, daß die jeweiligen Komponenten des Geistes unabhängig
voneinander existieren könnten. Persönlichkeit wird mit dem "limbischen
System" gleichgesetzt ("Limbische Persönlichkeit" - was auch
immer das sein soll?). Das Ich-Bewußtsein gesellt sich dann irgendwann während
der Kindheit zu dessen Persönlichkeit dazu, zuvor war die Persönlichkeit
weithin unbewußt. Aber was versteht man allgemein eigentlich unter einer
Persönlichkeit? Dazu schaue ich mal in das philosophische Wörterbuch (Kröner):
", im Unterschied zur Person, das innere Eigensein des Einzelnen, so wie
er sich subjektiv als unvergleichbar und daher als einmalig erlebt, dieses Eigensein
vollbewußt reflektiert." - Das steht im Widerspruch zu den Aussagen von
Herrn Roth. Herr Roth hat offensichtlich eine andere Vorstellung von
Persönlichkeit, die er weitgehend auf unbewußte Prozesse einschränkt. Ich kann
ihm das Gegenteil nicht beweisen, aber muß ich ihm deshalb glauben, wenn ich
mein Menschsein innerlich ganzheitlich erlebe und nicht zerpflückt - dort meine
Persönlichkeit, hier mein Ich? Herr Roth gesteht ein, daß für komplexe
Situationen eine übergeordnete Wertungsinstanz, das Ich, unerläßlich ist. Aber
was ist dieses "Ich", nach welchen Maßstäben kann es werten - etwa
rein rational durch denken und abwägen nach kausalen Richtlinien? Dem hat schon
Kant eine Abfuhr erteilt - das funktioniert nicht. Kant führte entsprechend den
Begriff "Ding an sich" ein und entwickelte die Antinomienlehre.
(Kant: Kritik der reinen Vernunft.) Herr Roth sagt: "Unser
Bewusstseins-Ich ist wesentlich sprachlich und sozial vermittelt, und unser
Bewertungssystem biologisch-egoistisch." - Und was ist einerseits unser
Bewußtseins-Ich und andererseits unser Bewertungssystem angeblich
"unwesentlich"? Eventuell frei, nichtdeterminiert, persönlich
wollend?!
In allem ist immer auch ein bißchen Wahrheit. Für
richtig halte ich, daß wir als Menschen auch biologisch-physische Wesen sind
und völlig überfordert wären, wollten wir unsere unbewußten Abläufe immerzu im
einzelnen bewerten bzw. kontrollieren. Es können willkürliche in unwillkürliche
Handlungen übergehen. Der Mensch ist auch ein "Gewohnheitstier". Aber
das Wesen des Menschen, was ihn wesentlich zum Menschen macht, sind ja auch
nicht in erster Linie seine unwillkürlichen physischen Prozesse und seine
gewohnheitsmäßigen Automatismen (die der Mensch entwickelt, um sich Freiräume
zu schaffen), sondern sein selbstbewußter, d. h. authentischer und nicht
fremdbestimmter Geist, den Herrn Roth offensichtlich weitgehend für eine
Fiktion bzw. Illusion hält. Wenn Herr Roth sagt: "Jeder Mensch wird von
diesem weitgehend unbewusst arbeitenden Bewertungssystem getrieben. Dieses System
geht nur nach der Regel vor: wiederhole das, was für dich günstig,
positiv, erfolgversprechend ist und vermeide das, was für dich schlecht ist,
schmerzhaft." - Unerklärlich bleibt dann aber, weshalb Menschen Wege
gehen, die diesen utilitaristischen Prinzipien, d. h. den
Nützlichkeitserwägungen, nicht automatisch folgen. Weiterhin Roth: " Das
Konzept, das ich vorgestellt habe, erklärt, dass es auch den klügsten Leuten
nicht gelingt, aus den Denk- und Gefühlsschemata ihrer Zeit
herauszuspringen." - Und wie steht es da mit ihm? Weshalb gab es denn so
etwas wie eine Bewußtseinentwicklung? Warum konnte überhaupt Geschichte
stattfinden? Weiterhin Roth: " Und das zweite ist auch richtig: die
Naturwissenschaften können immer nur den Grad der Plausibilität maximieren,
nicht Wahrheiten verkünden." - Und wie plausible ist seine Theorie, ist
sie denn wahr?
Aber das Duale ist eben nicht nur ein
philosophisch-weltanschauliches Problem, sondern natürlich auch im alltäglichen
Leben erkennbar - jedes "Ja" existiert nur im Zusammenhang mit einem
möglichen "Nein" (oben - unten, rechts - links usw.). Und das meinte
D. offensichtlich zunächst, als er von der "irdischen Realität"
sprach. Die Frage lautet nun aber: Ist das Duale auf diese "Realität"
beschränkt? Ich sage: nein. Das Duale ist ein Grunderlebnis der personalen
Existenz und setzt sich bis in die Tiefe und Höhe des geistigen Herzens fort.
Darüber hinaus möchte ich deshalb auch sagen: Z. B. lieben wir, wenn es einen
anderen gibt, den wir lieben können. Liebe verbindet, aber sie identifiziert
nicht. So erlebe ich das existentiell - und ich kann in diesem Zusammenhang
nicht für andere sprechen. Andere können dazu ja sagen oder es auch ablehnen.
Ich lehne dagegen Konstrukte allgemeiner, alles umfassender, undifferenzierter
Einheitsliebe ab, denn es gibt auch sehr viele Erscheinungen in dieser Welt,
gegen die sich mein Herz, mein ethisches Gewissen auflehnt. Ich kann nicht
alles und jeden gleichermaßen lieben, sondern ich mache sehr wohl unterschiede,
und Liebe ist vor allem auch eine Frage konkreter realisierter Gemeinschaft
(Ich und Du im Wir), die nicht von vornherein in Vollkommenheit gegeben ist.
Das meditative Einüben eines undifferenzierten Leerheitszustandes führt zur
Lähmung unseres authentischen Wollens und macht den Mensch stumm und unethisch.
Wenn Wilber letztlich sagt: Alles ist in Ordnung, wie es ist, so kann ich
dieser Aussage, solange ich lebe, nicht zustimmen, was in keiner Weise dazu
führt, daß ich nicht immer wieder Momente innerer Harmonie und Freude erleben kann
trotz einer immer wieder auftretenden Tragik im Leben.
(Aus meiner Antwort vom
20.12.02 zur Diskussion im KenWilber-de@yahoogroups.com)
Ich
sehe kein Problem darin, mich mit solchen Fragen nach der Möglichkeit
authentischer Willensfreiheit auch gedanklich, diskursiv auseinanderzusetzen.
Wichtig dabei ist bloß, daß ich den Boden unter den Füßen nicht verliere, und
damit meine ich, daß wir den Verstand nicht losgekoppelt von unserem ganzen
Menschsein gebrauchen dürfen, daß wir nicht (ethisch-gefühlsmäßige) Intuitionen
unterdrücken, ohne die der Verstand eben haltlos in die Irre geht. Wir brauchen
einen inneren Halt. Doch das Komplizierte und Problematische dabei ist, zu
erkennen, daß dieser Halt wirklich unserem authentischen Wesen entspringt und
sich nicht an eine verinnerlichte Fremdbestimmung (Über-Ich) anlehnt. Und noch
weitergehender heißt das, daß dieser Halt nichts Festgelegtes,
Prädestinierendes bzw. Allmächtiges ist, sondern nach meiner Überzeugung nur
unser sich bewegendes schöpferisches Herz sein kann. Und ich will mich an
dieser Stelle doch noch erklären angesichts Deines Nichtverstehens meines
Begriffsgebrauches: "Existentialdialektisch",
"Zwei-Einheit" meint genau dies, daß der Mensch schöpferisch sein
kann, weil er das "Ich", das Menschliche, nur spürt bzw. wahrnimmt,
weil in ihm, im Herzen, auch zugleich ein "Du", das Göttliche,
vorhanden ist. Der Mensch ist nicht nur einfach begrenzter und monistisch
eindimensionaler Mensch, sondern zugleich auch unendlicher Gottmensch. Zu
dieser Überzeugung gelange ich im Leben (seit meiner bewußten Kindheit)
fortwährend, da sich das Göttliche in mir als Gewissensintuition immer wieder
offenbart - gerade in Momenten der inneren Auflehnung gegen die allenthalben
auftretende Unmenschlichkeit, aber auch in der Wahrnehmung meiner persönlichen
Schwächen (die auch Stärken sein können) und Gewohnheiten, Bequemlichkeiten,
Verführbarkeiten und auch meiner gelegentlichen Ungerechtigkeiten anderen
gegenüber usw. usf. Selbsterkenntnis rührt auch daher. Der Mensch ist nicht nur
gut, sondern auch böse, aber weder das eine noch das andere grundsätzlich und
ein für allemal bzw. vorausbestimmt. Das Göttliche im Menschen ist die
Möglichkeit, das er das Böse in sich schöpferisch überwindet, daß er im Leben
schöpferisch an sich und an der Welt im weitesten Sinne arbeiten kann (dafür
gibt es keine Erfolgsgarantie). Aber das Göttliche hört auf göttlich zu sein,
wenn es autoritär uns zu bestimmen beginnt, wenn es machtvoll eben nicht mehr
göttlich ist. Das Göttliche in uns bedarf unseres Menschseins, und d. h.
wiederum, unserer Freiheit. Der Mensch ist ein freies Wesen, das seine
wesenhafte Freiheit dem Göttlichen in sich entgegenbringen muß bzw. das sich
frei auf das Göttliche bezieht. Das Wichtigste dabei ist, das der Mensch
während seines ganzen selbstexistenten Lebens immer schon sowohl göttlich als
auch menschlich ist - also in einem höheren Sinne dual und dieses in sich
niemals gänzlich getrennt. Und der authentische Prozeß zwischen dem Göttlichen
und Menschlichen ist ein Dialog, ist dialektisch (wechselseitig schöpferisch
religiös-ethischen Humanismus schaffend - nicht im objektivierenden Stil,
sondern als ursprünglich gottmenschlicher, d. h. zwei-einheitlicher Wille),
genauer existenzdialektisch (weil wir Menschen wesenhaft existierend sind). Die
Verabsolutierung von Gott und dessen Erhebung zur Allmächtigkeit läßt aus ihm
ein menschenverachtendes Monstrum werden (monotheistische Kirche). Letztlich
geht es im Leben um die Freiheit, die jedoch, und das will ich auch mal sagen,
nicht nur einfach Willensfreiheit im Sinne von Entscheidungsfreiheit ist.
Berdjajew sagt an verschiedenen Stellen sinngemäß, daß die Freiheit erst dort
beginnt, wo die Entscheidung getroffen worden ist. An einem Beispiel
verdeutlicht heißt das, wenn ich mich für die Freiheit der Liebe zu einem
geliebten Menschen entscheide und gegen den Erfolg einer den gesellschaftlich
niederen Zwängen angepaßten Karriere, so beginnt die eigentliche Freiheit erst
nach dieser (letztlich über-, außerchronologischen) Entscheidung bzw. die
Freiheit ist diese Liebe an sich. Die Liebe ist jedoch keine endgültige
Erlösung von allem Schmerz, sondern gerade den Liebenden wird die Diskrepanz zu
einer Welt der (partiellen) Erniedrigungen und Entwürdigungen schmerzhaft
bewußt, einer Welt, die man schöpferisch bewältigen muß, der sich jedoch
niemand im Leben entziehen kann. Die Liebe ist ständig in Gefahr (tragischer
Prozeß der Liebe) und geht oft zugrunde, aber niemals gänzlich. In jedem noch
so verknöcherten Herz schlummert die Liebe - eine urchristliche Wahrheit
(Ethik) ungeachtet vieler unchristlicher Dogmen und Verbrechen des sogenannten
Christentums und seiner Adepten, eines Christentums, das diesen Namen nicht
immer, oft oder gar meist nicht verdient hat bzw. verdient. Der Name
"Christentum" macht uns wahrlich noch nicht zu besseren Menschen,
sondern ist von seinem ursprünglichen existentiell-wahren Wesensgehalt her eine
hohe ethische Verpflichtung. Und der Verstand spielt dabei keine unerhebliche
Rolle - ganz im Gegenteil. Und z. B. auch der Buddhismus hat, soweit ich das
beurteilen kann, ebenfalls einen hohen ethischen Anspruch hervorgebracht, doch
gerät er ebenfalls in die Falle von Verabsolutierungen, die den Menschen
nichten bzw. dabei untergehen lassen - so sehe ich das derzeit auch und vor
allem im Zusammenhang mit Wilbers Theorie.
Hallo
D.,
zunächst
einmal ist gegen das Spekulieren nichts einzuwenden. Z. B. die
Naturwissenschaft ist letztlich auch Spekulation, wenn sie an ihre Grenzen
stößt, auch wenn diese immer weiter hinausgeschoben werden. Naturwissenschaft
ist objektivierende Erkenntnis. Anders verhält es sich mit der ursprünglich
nichtspekulativen existentiellen Offenbarung (Gewissen, Herz, Liebe, Freiheit),
deren bewußte Verdeutlichung jedoch zugleich auch ein objektivierendes
Erkenntnismoment umschließt. Und die
Offenbarung ist im hohen Grade eine leidenschaftliche, ansonsten würde sie in
unserem Bewußtsein keinen Eindruck hinterlassen und uns motivieren, das
Bewußtsein an sich ist auch immer schon leidenschaftliches Selbstbewußtsein.
Mein Bewußtseins-Ich ist in mir eine mit nicht immer gleichbleibender
Intensität erlebte leidenschaftlich-emotionale Wahrnehmung, das hilflos bliebe,
könnte es nicht seine unterschiedlichen partizipierenden (einfühlenden) und
kommunizierenden Bestrebungen mittels des Verstandes ordnen. Dabei entstehen im
Laufe des Lebens vernünftige Einsichten, die jedoch schon im nächsten Moment
unvernünftig sein können - dies ist eine Frage der Tragik des konfliktgeladenen
Lebens (Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit) und letztlich der personalen
Liebe, die nicht immer vernünftig erscheint und im Verhältnis zum alltäglichen
Leben oft nicht "vernünftig" ist ("Liebe macht blind" [?]).
Vernunft an sich ist eine schwankende Angelegenheit und richtet sich nach den
Prioritäten, für die sich ein Mensch mehr oder weniger schöpferisch
entscheidet. Der Maßstab kann meine Liebe sein, aber auch die Liebe kann sich
verkehren und zur Tyrannei werden, wenn ich nicht akzeptieren will, daß ich die
Liebe nicht mit Macht verwirklichen kann. Liebe vergeht dann augenblicklich und
war doch der Auslöser meines entsprechenden Handelns. An der Tragik des Lebens
und der Liebe scheitert letztlich die Vernunft. Das Verhältnis von Freiheit und
Notwendigkeit läßt sich in unserem Leben niemals ein für allemal optimal lösen.
Es gibt keine absolute bzw. allumfassende Harmonie. Harmonie ist alleinig ein
existentielles Moment der ganzheitlichen Persönlichkeit, weil nur in ihr
Ganzheit geistig real erfahren werden kann - davon gehe ich aus. Ohne Momente
der Harmonie, in denen wir uns auch mit der Welt eins fühlen können, würden wir
keine Ruhe finden, um uns zu besinnen. Aber eine immerwährende Harmonie dagegen
führt uns ins Aus, in die Leere des Unerfülltseins. Ich finde es auch immer
wieder schizophren, wenn man sagt, daß man nun gelassen auf die Dinge, die da
geschehen, (von einer nondualen Bewußtseinsverfassung aus) herabblickt und sich
plötzlich doch wieder über dies und jenes zu echauffieren beginnt. Dies gilt
auch für Wilber, auch wenn er betont, z. B. beim Schreiben seines Buch EKL die
sogenannte "Schau-Logik" verwendet zu haben, so beschreibt er
zumindest seine Einheitserfahrungen aber als einen nicht mehr wollenden, sondern
einfach als einen irgendwie nondual wahrnehmenden Zustand ("Alles ist in
Ordnung, wie es ist." - und dies ist der Weisheit letzter Schluß -
absolute bzw. destruktive Harmonie). So, wie Wilber "Nondualität"
beschreibt, erkenne ich darin einen panentheistischen Zug (Enthaltensein des
Weltganzen in Gott = Monismus - u. a. Plotin), den ich ablehne.
Wann
spekulieren wir eigentlich? Spekulieren wir, wenn wir lieben, wenn sich uns das
Gewissen offenbart, wenn sich ein innerliches Freiheitsgefühl einstellt, wenn
wir mitleiden, wenn wir uns verbunden fühlen mit einem anderen Menschen? Ich
denke nicht. Aber wir spekulieren im gewissen Grade darüber, was einen Menschen
bewogen hat, sich so zu entscheiden und zu verhalten, wie er sich entschieden
und verhalten hat, weil die Lebensgeschichte eines Menschen eben auch einen
diesseitig-objektivierten Tatbestand umfaßt, der so komplex ist, das wir diesen
rational niemals gänzlich zu umfassen vermögen, um daraus sichere logische
Rückschlüsse ziehen zu können. Aber unser existentielles Einfühlungsvermögen,
unsere Fähigkeit, innerlich zu einem "Du" zu transzendieren, erlaubt
uns die geistige Verfassung eines anderen Menschen zu erschließen (unter
Einschluß der zugänglichen Tatbestände), um darüber hinaus erkennen zu können,
wer er wesentlich ist und wie er handeln würde oder weshalb er so und nicht
anders gehandelt hat (wobei man erwähnen muß, daß es auch hier niemals eine
endgültige Sicherheit gibt, weil der Mensch im freiheitlich-geistigen Sinne
letztlich unendlich ist). Dies wiederum ist eine Frage persönlich realisierter
Gemeinschaft, durch die wir uns einander erschließen bzw. jemanden erschließen
können. Auch Hitler mit seiner zerrissenen Persönlichkeit besaß dieses Vermögen
des Transzendierens (Liebe) wie jeder Mensch, welches jedoch durch seine
narzißtischen, menschenverachtenden, machtkalkulierenden Orientierungen und
Handlungen verdrängt und zugedeckt wurde. Hitler hat sich selbst, er hat den
Menschen verraten und zertreten, aber, und das darf man nicht einfach
ignorieren, er war auch ein gebranntes Kind seiner Zeit und Verhältnisse (siehe
z. B. Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität; und es gibt bestimmt
noch mehr aufschlußreiche Bücher zu diesem Thema).
Noch
einmal zum Spekulieren: Wie verhält es sich diesbezüglich nun mit der
Nondualität? Wird sie rein spekulativ angenommen, z. B. weil ja alles eins ist
- sagt uns der Verstand (aber nicht nur), oder ist sie eine reale geistige
Erfahrung? Vor allem auch deshalb habe ich "Berdjajew kontra Wilber"
geschrieben. Ich sage, die Nondualität ist ein rein spekulatives Konstrukt,
zumal in ihr entsprechend spekulativer Behauptung alle Konturen zwischen mir
und dem anderen verschwinden, man identisch wird und es so nichts mehr zu
erfahren gibt. Mir hält man vor, daß ich dies einfach behaupte ohne die
entsprechenden Injunktionen (Wilber) durchgeführt zu haben - d. h., ich habe
keine Leerheits-Meditation durchgeführt und bin deshalb auch nicht glaubwürdig.
Dies läßt sich nicht widerlegen, zumal man mir bei jedem Versuch, eine
Leerheits-Meditation durchzuführen, meine Unfähigkeit vorhalten könnte - vom
Standpunkt "sicherer Erkenntnis" aus natürlich. Ein weiterer
Kritikpunkt meinerseits an der sogenannten nondualen Bewußtseinsverfassung, der
entscheidender und der deshalb auch mein Hauptargument ist, ist ihr völlig
unklarer ethischer Inhalt. In "Das Wahre, Gute, Schöne" werden die
Konsequenzen ersichtlich, die sich aus der sogenannten Nondualität ergeben, die
unethisch bzw. gar nicht ethisch sind - das habe ich in meiner Arbeit (auch
wenn sie vielleicht nicht gerade perfekt ist) belegt und erläutert. Wilber
vermischt Ethik und Moral und wird vor allem auch deshalb unklar in seiner
Argumentation.
Wie
komme ich nun darauf, zu behaupten, daß Wilber Immanenz und Transzendenz
voneinander trennt? Für mich zunächst hat Transzendenz eine andere Bedeutung
als für Wilber. Mit Transzendenz verbinde ich überpersönliche Wert (Liebe,
Freiheit, Gott - Du, Gewissen - damit verbunden die ethische Grundintuition,
Menschlichkeit, Gemeinschaft - Wir, [schöpferische] Gerechtigkeit), die sich
nur immanent, in der geistigen Person, verwirklichend offenbaren können. Diese
Bedeutung bespricht Wilber im Zusammenhang mit der Transzendenz nicht. Für
Wilber ist Transzendenz ein Akt des evolutionären Überschreitens (unter Einschließen)
von einer Bewußtseinsstufe zur nächst höheren. Höhere transzendente Stufen sind
verbunden mit Transpersonalität. Das schwierige bei Wilber ist, daß er
theoretisch zwar sagt, daß die transpersonale Bewußtseinsstufe die Person nicht
nichtet, sondern ihr etwas hinzufügt, aber bei seiner Beschreibung nondualen
Gewahrens, nondualer Meditation, genau diese Person nicht mehr zu erkennen ist,
weil das Ego, das Ich, sich im Kosmos verliert, was wiederum als Segen
dargestellt wird, weil Wilber das Ich ausschließlich mit Egozentrik und
Narzißmus gleichsetzt und die Fähigkeit zu wahrhaftem Transzendieren
(Überschreiten) diesem Ich quasi abspricht. U. a. dadurch herrscht bei Wilber
ein heilloses Durcheinander (obwohl er dieses Durcheinander erstaunlich genial
zu handhaben weiß), das ich vielleicht nicht immer zufriedenstellend entwirren
kann - das fällt mir auch sehr schwer. Also noch einmal: Ich sage von meinem
Transzendenzbegriff aus, daß Wilber Transzendenz von Immanenz trennt, da in der
sogenannten Nondualität nach meinem Verständnis nichts Transzendentes zu finden
ist, welches sich immanent in der Person offenbaren könnte - z. B. ethische
Grundintuition, während für Wilber Nondualität letztlich nicht charakterisiert
werden kann. Bei meiner kurzen Recherche vorhin habe ich aber weder in EKL noch
in WGSchöne eine konkrete Erörterung von seiten Wilbers zur Einheit von
Transzendenz und Immanenz gefunden. Im Register von EKL findet sich nicht
einmal der Begriff Immanenz.
Noch ein
Wort zu den Freiheitsgraden der Holone. Ich halte auch nichts davon, das Wilber
u. a. die Holontheorie auf den menschlichen Bewußtseinsbereich
unverhältnismäßig ausweitet, d. h., daß die Bewußtseinserweiterung primär unter
einem evolutionären Schema betrachtet wird. In diesem Zusammenhang halte ich
auch nichts von der Einteilung der Bewußtseinstufen in die psychische, die
subtile, kausale und die nichtduale Ebene. Was auch immer mit diesen Ebenen
beschrieben wird, die Einteilung führt dazu, daß der Mensch als ganzheitliches
Wesen in evolutionärer Weise auseinandergerissen wird. Meine Beobachtung ist
nämlich, daß Kinder oft mehr Freiheit haben als Erwachsene, vor allem auch
deshalb, weil sie noch nicht durch rollenverhaftetes Schablonendenken, durch
Etikette u. a. egozentrischen Auswüchsen verdorben sind - sie sind dazu meist
noch gar nicht so in der Lage und sprechen die Dinge, die sie bewegen noch
unverblümter aus, was für Erwachsene auch schon mal unangenehm sein kann und
die Erwachsenen dazu veranlassen kann, dieser Unverblümtheit über alle Gebühr
Einhalt zu gebieten. Für mich persönlich muß ich sagen, daß ich empfinde, daß
die Wahrheit meiner Kindheit auf einer erweiterten Bewußtseinsstufe, die für
mich zum einen eine sekundäre Anlehnung an die äußeren hierarchischen
Strukturen z. B. in Natur und Kultur ist, wieder stärker in mir hervortritt -
die Authentizität meiner Gefühle, mein Persönlichkeits-Ich, stärkeres
Zurückdrängen überflüssigen Rollendenkens, Freiheit in meinem Wollen und
Freiheit in meinem Empfinden, um nur einige Beispiele zu nennen. Damit will ich
andeuten, daß ich die Bewußtseinserweiterung primär nicht hierarchisch
einteile, weil ich spüre, daß mein Persönlichkeitsempfinden und -Ich mir immer
geblieben ist, nur die Intensität dieses Ichs schwankt von Zeit zu Zeit. Und Bewußtseinserweiterung
hat für mich zwei Aspekte, zum einen primär nichthierarchisch als Zunahme an
Lebensgefühl, -fülle bzw. innerlich-existentieller Lebensintensität und
existentiell-gemeinschaftlicher Nähe zu den Menschen meiner Umgebung bis hin
zum Kosmos usw., zum anderen sekundär in Anlehnung an eine hierarchisch
strukturierte Welt. In der Person wirken beide Aspekte stets zusammen.
Soweit
l. G.
Dirk
Hübner
(Aus
meiner Antwort vom 22.12.02 zur Diskussion im KenWilber-de@yahoogroups.com)
Warum
gehst Du davon aus, daß hinter meiner "Wahrheit" eine Autorität
steht? Dem habe ich genügend widersprochen. Ich beziehe mich auf die
schöpferische Freiheit, was nichts mit Autorität zu tun hat.
Natürlich
gehe ich von meinen Überzeugungen aus und entwickle mein entsprechendes
Weltbild - was soll ich sonst auch tun? Soll ich mir selbst widersprechen und
sagen, alles nicht richtig, was ich sage, oder alles ist richtig, was gesagt
und gedacht wird, damit man mir keinen absoluten Wahrheitsanspruch vorwerfen
kann? Aber ich verlange an keiner Stelle (Wilber auch nicht), daß die Menschen
meine Argumentation unkritisch für wahr halten. Ich argumentiere gegen ethisch
unakzeptable Konsequenzen Wilberscher Theorie und gehe da von meinen
Überzeugungen aus und begründe sie auch.
Ich
sage doch nicht einfach, ich habe diese Meinung, und wer dem nicht zustimmt,
der hat unrecht. Sondern ich habe einen Ausgangspunkt und Wilber hat einen Ausgangspunkt.
Nun kommt es doch darauf an, zu welchen Konsequenzen in humanistischer und
religiöser Hinsicht diese Ausgangspunkte jeweils führen. Darf ich nun nicht
mehr sagen, daß ich den Gedanken "Alles ist in Ordnung, wie es ist",
von meinem Gewissen her nicht akzeptieren kann, zumal ich das ja auch begründe?
Versteh ich nicht. Für mich ist das alles nicht nur ein Wortspiel, tut mir
leid.
L. G.
Dirk Hübner
(Antwort
vom 16.1.03 auf Anfrage)
Hi
Dirk, hier ein Textauszug:
"Aus dem Nichts heraus entsteht immer etwas noch nie Dagewesenes, etwas
Neuartiges und keine Projektion" Wie kann sich der Mensch dieser Aussage
nähern...haben wir einen Zugang zu solch einer Erkenntnis? Nicht die blose
Bestätigung, weil wir ein Buch gelesen haben...gibt es eine Möglichkeit für das
menschliche Bewußtsein, aus dem NIchts zu schöpfen, das neuartige zu schöpfen.
Was könnte das Bedeuten...können wir uns diesen Fragen nähern?
Gruß S.
Hallo
S.,
Deine
Fragen zielen auf sehr Wesentliches ab. Nicht umsonst habe ich die oben zitierte
Aussage fettgedruckt hervorgehoben. Sie entsprang meinen Überlegungen, die sich
im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung zu „B. kontra W.“ und in
Übereinstimmung mit meiner persönlichen Lebenswahrnehmung und –geschichte
ergeben haben.
Ein
Buch kann mir nichts bestätigen, solange ich es nicht selbst innerlich
nachvollziehen kann. Das ist für mich ganz wichtig. Zur Zeit versuche ich
gerade (und immer mal wieder), mich Jakob Böhme anzunähern. Ein wirklich nicht
leicht verständlicher Autor, das Lesen seines ersten Werkes habe ich mittendrin abgebrochen. Den Zugang zu Böhme
erlange ich jedoch immer wieder über Berdjajew. Berdjajew selber neigt
eigentlich eher dazu, nicht viel zu zitieren – Böhme bildet da bei ihm eine der
wenigen Ausnahmen. Wenn Berdjajew Böhme zitiert und deutet, sage ich immer
wieder ja! Ich sage ja, weil die Deutungen mich in meinem Streben nach einem
selbstbestimmtem freien und authentischen Existieren bestärken und nicht
schwächen bzw. Gefolgsamkeit verlangen. Keiner kann letztlich über mein Leben
bestimmen, ich selbst muß mich realisieren, will ich leben (das setzt auch
Widerstand gegen die Herrschaftsversuche anderer über mich voraus). Dazu gehört
aber vor allem auch die Gemeinschaft mit anderen, die jedoch nicht immer
möglich ist. Die Verwirklichung der Gemeinschaft ist für mich eines der
kardinalen Probleme des Lebens – immer und zu jeder Zeit. Gerade auch in dieser
Hinsicht krankt unsere Gesellschaft, und dieser Umstand betrifft jeden Menschen
ganz konkret. In einer Gesellschaft, in der sich Individualismus und – damit
verbunden – Isolation, leere Einsamkeit, des weiteren Funktions- und
Anpassungsdenken breitmachen, wird es dem Menschen sehr schwer fallen, zu sich
selbst zu finden.
Ich
schreibe Dir das, um noch einmal klarzustellen, daß ich keine konkreten
Lösungen anzubieten habe, sondern daß ich nur aus meinem eigenen Wollen heraus
darauf hinweisen kann, daß jeder Mensch
freie Anstrengungen zur Selbsterkenntnis unternehmen muß, um Antworten auf all
die mehr oder weniger weitreichenden Lebensfragen zu finden. Doch eine absolute
Antwort wird es nicht geben – dies bedeutete Stillstand und nicht Dynamik des
Lebens. Und das Ringen um Selbsterkenntnis ist zugleich auch ein Kampf für eine
echte Gemeinschaft. Konkrete Lösungen können nur dort angestrebt werden, wo
auch konkret gelebt und im höheren Sinne gekämpft wird (dafür gibt es keine
Garantie – das bestätigt sich mir im Leben immer wieder). Ein Guru wird diese
Aufgabe nicht lösen können, jeder Mensch ist gefragt, auch wenn dies noch so
aussichtslos erscheint.
Ich
erfahre immer wieder, daß Selbsterkenntnis primär nicht durch das Lesen von
Büchern erlangt wird, sondern in erster Linie eine fortwährende Vertiefung in
die eigene Existenz und Lebensgeschichte (z. B. das Hervorrufen lebendiger
Erinnerungen – sowohl freudvoller als auch tragischer Art) ist, die wesentlich
immer mehr umfaßt als nur rein Individuelles – eben auch Gemeinschaftliches und
Überpersönliches. Die Bestätigung von Büchern kann nur geschehen, wenn ich
schon Selbsterkenntnis erlangt habe und weiterhin erlange. Dann erst kann ich
über Bücher in eine gemeinschaftliche Beziehung mit dem Autoren treten, auch
wenn dieser nicht mehr lebt, dann erst erhalten Bücher für mein Suchen eine
sehr große und unabdingbare Bedeutung. Und wie gesagt, mir gelingt die
gemeinschaftliche Beziehung z. B. zu einem Autoren nicht immer oder auf Anhieb
– es ist ein Prozeß und oft sogar ein mühevoller. Und manchmal erkenne ich erst
nach und nach, daß sich unter bestimmten Bedingungen Gemeinschaft nicht
wirklich herstellen läßt. Deshalb auch meine Kritik an Wilber. Ob sie
berechtigt ist, das muß jeder Mensch, der sich mit meiner Kritik
auseinandersetzt, selber entscheiden. Ich habe bisher relativ wenig Zustimmung
erfahren. Damit kann ich leben.
Nun konkreter
zu Deinen Fragen (ich bringe hier meine persönlichen Überzeugungen zum
Ausdruck, die sich auch aus meinen intuitiven Wahrnehmungen ergeben):
Mit dem Wort „Nichts“ weise ich symbolisch auf
einen Quell hin, ohne den sich die Existenz der Welt und unsere persönliche
Existenz nicht denken läßt, ohne den die Welt letztlich auch nicht erfahrbar
wäre. Wichtig dabei ist jedoch, daß ich nicht der Ansicht bin, daß das „Nichts“
als solches eine Wesenheit wäre, die eine eigenständige Existenz hat, in der alles
schon Gestalt annimmt und aus der wir uns nur noch zu bedienen bräuchten. Wäre
es so, gäbe es keine Freiheit in unserem Handeln, wir wären vorbestimmt, alles
wäre schon im Nichts festgelegt. Das sogenannte „Nichts“ ist meiner Ansicht
zufolge reines Potential von und zu allem in der Welt. Erfahrbar ist niemals
das „Nichts“ an sich, sondern die auch durch den Menschen erfahrbaren Phänomene
des „Nichts“. Das menschliche Bewußtsein speist sich demnach aus diesem
Potential fortlaufend. Das menschliche Bewußtsein bezeichne ich zugleich immer
auch als Selbstbewußtsein, welches es wesentlich ist. Ich behaupte, daß das
„Nichts“ sich phänomenal wesentlich als mein selbstbewußtes Ich offenbart. Ich
erfahre das Nichts also zuvorderst als mein Persönlichkeits-Ich. Ich behaupte
dies, weil ich erkenne, das mein Ich nicht einfach eine feste, starre
Bewußtseinserfahrung ist, sondern daß ich mein Ich mit einer Art existentiell
erfahrbarer Bewegtheit (Dynamik) unmittelbar wahrnehme. Diese Bewegtheit
(Dynamik) wiederum kann jedoch nur vonstatten gehen, wenn sie immer wieder
neuartig und noch nie dagewesen ist. Komplizierter wird es nun dadurch, daß ich
mein Ich niemals wiedererkennen würde, würde es fortlaufend durch ein völlig
neuartiges ersetzt bzw. ausgetauscht werden. Das Paradoxe für unseren Verstand
ist in diesem Zusammenhang (wie ich dies auch in „B. kontra W.“ angedeutet
habe), daß ich mein Persönlichkeits-Ich als ein bewegtes und sich veränderndes
und zugleich als ein wiedererkennbares und bleibendes erfahre. Meinen Ich-Kern
nehme ich noch so wie früher wahr und doch nehme ich auch wahr, daß ich mich
verändert habe im Laufe meines Lebens. Ich bin immer noch ich und doch habe ich
mich auch verändert. Und ich habe mich immer auch gefragt, wer ich denn
eigentlich bin. Man kann niemals gänzlich sagen, man ist genau dieser
beschreibbare Mensch. Selbsterkenntnis kommt niemals zum Abschluß, sondern ist
ein Weg zu immer tieferer Authentizität. Mit anderen Worten, ich bin ich und
kämpfe zugleich um mein tieferes und authentischeres Ich (immer in Gemeinschaft
als unabdingbare Voraussetzung). Aus dem „Nichts“ entsteht nach meiner Ansicht
keine Projektion. Aus dem unergründlichen „Nichts“ bzw. Potential bzw. der
unergründlichen Freiheit (alles synonym) heraus lebt der Mensch seine Existenz
fortwährend neu. Ansonsten wäre er tot bzw. nicht existent. Man sagt auch, ein
Mensch sei unlebendig bzw. geistig tot. Dies ist jedoch immer nur eine relative
Feststellung, denn ein jeder lebende Mensch trägt den Funken des (geistigen)
Lebens in sich – ist er auch noch so klein oder wird er auch verdrängt,
verzerrt, pervertiert usw.. Das Gefühl an Lebendigkeit ist immer dann am
größten, wenn wir uns der Welt im
weitesten Sinne (bzw. auch einem uns nahestehenden Menschen usw.) schöpferisch
nähern, wenn wir die Zeit transformierend überwinden, wenn wir uns ganz auf
unser existentielles Wesen konzentrieren und dabei Gemeinschaft stiften. Hier
entstehen Momente schöpferischer Fülle aus dem Nichts, aus der Freiheit. Wir
nehmen das „Nichts“ als Fülle unseres ganzheitlichen Menschseins wahr. Wenn
sich mir in Momenten das Gefühl offenbart, jetzt bin ich ganz und gar Mensch –
hier und jetzt – dann schöpfe ich zugleich auch aus der unergründlichen
Freiheit, aus dem sogenannten „Nichts“. Aber, und das ist für mein Existieren
und mein darauf aufbauendes philosophisches Denken sehr wichtig, das „Nichts“
ist nicht Gott, das „Nichts“ als solches ist noch nicht meine ethische (Grund-)
Intuition, mein Gewissen, an welchem ich geistig-ganzheitlich arbeite und
arbeiten muß, will ich Mensch bleiben und fortwährend werden. Das „Nichts“, die
unergründliche Freiheit, ist mein Quell aus dem ich frei und in Verbund mit
meiner ethischen Intuition (Gott) schöpfe. Die Richtung meines authentischen
Wollens, meines authentischen Handelns bestimme ich aus dem Verbund mit meiner
Intuition und meiner Freiheit zugleich, deren Quell das „Nichts“ ist. Im
wahrhaften, authentischen Handeln eines Menschen wirken alle drei
existentiellen Aspekte zusammen. So deute ich meine existentielle Wahrnehmung.
Das „Nichts“ ist danach also die unergründliche Freiheit, im
Persönlichkeits-Ich verwirklicht sich die göttliche Freiheit, deren
schöpferischer Quell das „Nichts“ ist. Wir erkennen das „Nichts“, weil sich
unser Leben fortlaufen erneuert – mehr oder weniger spürbar, letzteres ist eine
Frage der aktuellen Realisierung der Persönlichkeit. Gäbe es diese
Voraussetzung des unergründlichen „Nichts“ nicht, wäre jede Veränderung
ausgeschlossen, da sich nichts erneuern könnte, da nichts entstehen könnte, was
vorher noch nie dagewesen ist. Das widerspricht meiner persönlichen
Lebenswahrnehmung und wäre auch logisch nicht zu erklären.
Ich
hoffe, daß ich mich Deinen Fragen etwas nähern konnte.
MfG
Dirk
(4.5.06)
Lieber Herr ...,
vielen Dank
für Ihre Post. Ich kann diese erst heute beantworten.
Einem Gedankenaustausch steht
von meiner Seite nichts entgegen.
Seit dem Tod von Klaus Bambauer
vor 4 Jahren ist es ziemlich ruhig um die Beschäftigung mit Nikolai Berdjajews
Werk im deutschen Netz geworden. Damals noch existierte im Netz das deutsche
Forum "Russische Spiritualität" mit umfassenden und anregenden Texten
von und zu Berdjajew und anderen russischen Denkern (Solowjew z.B.). Mein Text "Stellungnahme" (zu
finden auf meiner Seite) hatte ich in der Auseinandersetzung mit einem Beitrag
von K. Bambauer geschrieben. Der entsprechende Text von K. Bambauer wie auch
andere wertvolle Texte von ihm (unabhängig meiner kritischen Einwände) sind
leider heute im Netz nicht mehr zu finden, oder zumindest, ich habe etliche von
ihnen bisher nicht wieder gefunden. Dennoch, eine Diskussion mit mir zu
Berdjajew kam nie wirklich richtig in Gang. Aus meiner Sicht bemühte man sich
im Forum "Russische Spiritualität" zudem, z. B. im Sinne von Ken
Wilber die Unterschiede von christlichem und buddhistischem Denken zu verwischen. Das entsprach nicht meiner
Intention.
Ich biete keine Seminare an und
weiß auch von keinen. Sie, Herr ..., sind z. B. einer der ganz wenigen, die
sich über email speziell zum Thema Berdjajew an mich wenden. Wenn Sie schreiben,
"ich bin... (nur) Naturwissenschaftler", so kann ich von meiner Seite
sagen, ich bin nur arbeitslos, damit meine ich, Berdjajew hat sich an uns
Menschen, unabhängig von unserer Profession gewandt, nicht an uns als gelehrte
Philosophen, zu denen ich auch nicht gehöre.
Leider ist es so, daß die
geistige Atmosphäre in meinem Lebensumfeld eher in einer skeptischen und
ablehnenden Haltung gegenüber allem Christlich-Religiösem verharrt.
Christliches wird meist mit der Institution Kirche gleichgesetzt und abgelehnt.
Das Christliche, wie es Berdjajew gedacht und gelebt hat, wird nicht verstanden
oder will man nicht verstehen. Zu mir hat ein Bekannter gesagt, daß ich, da ich
mich doch nun so intensiv mit Berdjajew etc. beschäftigt habe, endlich mal
öffentlich wirksam werden solle. Aber damit wäre ich in einer Atmosphäre, in
der letztlich vor allem dem autorisierten Gelehrten Glauben geschenkt wird und
in der die Freiheit des Geistes schnell verlorengeht, völlig überfordert.
Derzeit rufe ich oft eher Angst und Ablehnung mit meinem Anspruch geistiger
Freiheit hervor. Was ich mir vorstelle und wünsche, das sind zunächst freie
Gespräche unter geistig freien Menschen, die es unter anderem vermögen, unsere
gegenwärtige Lebenssituation im umfassensten bzw. tiefsten Sinne in Frage
stellen zu können.
Mit freundlichen Grüßen
Dirk Hübner
Greifswald
(26.5.06)
Lieber Herr ...,
nun doch noch vor Pfingsten eine
schnelle Reaktion auf Ihre Einwürfe.
Ich habe mir nun auch wiederum
das Kapitel "Sein und Freiheit..." (Berdjajew: "Von des Menschen
Knechtschaft und Freiheit") durchgelesen.
So wie ich es sehe, hat
Berdjajew ja nicht in der Art zu einer Subjektivierung aufgerufen, die sich von
jeglicher Objektivierung radikal abwendet. Dies würde letztlich eine absolute
Weltentsagung nach sich ziehen. Berdjajew selbst war ein Kämpfer in dieser
Welt, der jedoch eine höhere jenseitig-geistige Welt (Freiheit, Wahrheit)
vehement in der diesseitig-symbolischen Welt der Objekte schöpferisch zur
Geltung bringen wollte. Dabei betonte er, daß die Symbole ein Ausdruck der,
aber nicht die Wahrheit selbst seien, was wiederum heißt, daß sämtliche
menschliche Kultur immer ein Moment des Scheiterns beinhalten, weil die Kultur
nicht Existenz ist, sondern eben nur Symbol, Ausdruck der Existenz sein kann.
Berdjajew hat niemals die Subjektivität gegen die Objektivierung ausgespielt,
sondern sie ins Verhältnis gesetzt und sich zur Subjektivität als
existentielles Zentrums bekannt, von welchem aus "der Weg und die Wahrheit
und das Leben" einzig ihren unergründlichen (im rationalen Sinne) bzw.
schöpferischen Ausgang nehmen können und in welchem "der Weg und die
Wahrheit und das Leben" letztlich verwirklicht werden. Die Welt der
Objekte wird nicht verdammt, aber sie kann nur Mittel und sollte nicht Zweck sein.
"Die
Objektivierung geistiger Inhalte", wie Sie es schreiben, ist unumgänglich.
Sie ist ein Tribut, den diese Welt zum einen von uns fordert, sie ist zum
anderen aber auch der notwendige Aspekt der Verwirklichung des ganzen Menschen
(u.a. auf der praktisch-notwendigen Basis von Kommunikationsmitteln). Das
Problem ist jedoch, und dagegen kämpfte Berdjajew an, daß der Mensch schnell
dazu neigt, sich den sichtbaren, objektivierten Dingen, sich den
Objektivationen materieller und ideeller Art götzendienerisch zu unterwerfen.
Sinngemäß schrieb Berdjajew im oben genannten Kapitel, daß der Mensch seine
innere Existenz in die Objektivierungen projiziert und diesen Objektivierungen
dann den Schein allgemeingültiger Wahrheit verleiht, der sich die menschliche
Existenz als ein Teil unterzuordnen hat bzw. der sie untergeordnet wird.
Dagegen ist jede noch so kleine Existenz unendlich mehr Wert als jegliche
Objektivierung - auch das Berdjajew - aber diese Sicht ergibt sich ebenfalls
einzig und allein aus der Willensausrichtung des Bewußtseins, welches
persönlich erworben wird, wobei die sozialen Einflüsse dabei in der einen oder
anderen Weise eine gewichtige Rolle spielen. Der materielle Wahnsinnsanspruch
eines weitverbreiteten westlichen Bewußtseins praktiziert eine Vergötzung der
Welt der Objekte.
Fortlaufend geht die Existenz in
Objektivierung über, und das ist gut so, aber auch immer problematisch und
gefahrvoll, weil man sich schnell in überwiegender Hinwendung zu den Dingen
verlieren kann. Im geistigen Leben des Menschen befinden sich Existenz und
Objektivation im Wechselverhältnis. Schlecht ist es, wenn man die Objektivation
zum Primären erklärt.
Weiterhin: In der Existenz
ereignet sich das Konkret-Universale, im Gesetz drückt sich das Allgemein-Universale
aus. Beide Aspekte gehören grundlegend verschiedenen Dimensionen an. Und die
Metapher ist Symbol und ist geistig-objektivierter Natur, auch wenn wir mit ihr
Existentielles assoziieren. Doch ohne Existenz gibt es keine Metapher. Sehen Sie
das auch so?
Was meinen Sie mit dem
"heiklen Thema des Elitären im Bereich der Spiritualität"?
Von dem, was ich gelesen habe,
ist Biographisches über Berdjajew vor allem zu finden bei Klaus Bambauer,
Einführung zu "Wahrheit und Offenbarung" (1998, im Buchhandel
erhältlich, sehr lesenswert), bei Stefan G. Reichelt, B. in Deutschland 1920 -
1950 (sehr interessant, aber meines Erachtens mit Abstrichen), wenn ich mich
jetzt richtig erinnere etwas auch (bin mir aber unsicher) bei Wolfgang
Dietrich, N. B. - Provokation der Person (Bd. 1 bis 5 - überhaupt sehr, sehr
empfehlenswert). Eventuell sind die beiden letzteren Werke über ZVAB (http://www.zvab.com/SESSz97015419211094751008/gr2/de/index.html)
zu bekommen. Soweit meine Erinnerung auf die schnelle. Vielleicht fällt mir
später noch was ein, was ich mal über Berdjajew gelesen habe.
Herzliche Grüße
Dirk
Hübner
(5.6.06)
Lieber Herr ...,
ich habe mich sehr gefreut, daß
ich Ihnen weiterhelfen konnte. Es ist offensichtlich die Objektivierung, wie
sie von B. herausgearbeitet wurde, eine nicht unbedingt einfache, sondern eher
eine komplexe Problematik. In der letzten von Klaus Bambauer angeführten
Anmerkung zu dem 1998 erschienenen Buch "Wahrheit und Offenbarung"
kommt Georg Koepgen mit einem kritischen Zitat zu Wort, in welchem B. indirekt
ebenfalls subjektivistische Einseitigkeit vorgeworfen wird (vergleichend können
Sie dazu auch meine Rezension http://www.oocities.org/de/dirkhuebner66/wahrheitoffenbarung.htm lesen). Aber B. denkt dynamisch und nicht statisch.
Deshalb, so finde ich, sollte man ihn auch dynamisch verstehen, d. h., auch wenn
B. im Subjekt das existentielle Zentrum annimmt, so ist dieses für ihn nichts
Feststehendes und Abgekoppeltes, sondern nur in der Gerichtetheit auf das
Andere hin, sowohl auf die andere Existenz als auch auf die manifeste Welt hin,
zu verstehen.
Aber dennoch schließt dies nicht
aus, daß auch B. nicht immer folgerichtig in seinen Formulierungen gewesen ist.
Ich selbst jedoch habe nichts Gravierendes in dieser Hinsicht finden können.
Wenn Sie Ihrer Ansicht nach Ungereimtheiten finden sollten, so bin ich an einer
Diskussion darüber immer sehr interessiert.
Vielleicht gibt es eine Sache,
die ich im Denken Berdjajews für etwas zu einseitig halte: Es ist eine nach
meiner Meinung zu starke Verlagerung des Problems der Hysterie auf die Seite
der Frau. An irgendeiner Stelle, ich weiß jetzt nicht mehr wo, hat er sich dazu
geäußert. Aber andererseits betont er gerade die außerordentliche und stetig
wachsende Bedeutung der Frau, welche ihr für ein freiheitliches Leben in einer
zu verwirklichenden Gemeinschaft zuteil werden wird etc. Wenn also B. zuweilen
einen einseitigen Eindruck vermittelt (vermitteln sollte), so relativiert er
diesen an anderer Stelle. Je mehr und umfangreicher man B. gelesen hat, um so
mehr erschließt sich sein ganzheitliches Denken. So erfahre ich das jedenfalls.
"Von der Bestimmung des
Menschen." ist eines der beeindruckensten Bücher Berdjajews. Und vor allem
auch das in seiner Art einmalige Buch "Selbsterkenntnis". ...
Herzliche Grüße
Dirk
Hübner
(10.6.06)
Lieber Herr ...,
Ihre Gedanken bezüglich der
Metapher regten mich dazu an, noch einmal intensiver darüber nachzudenken. Ich
möchte folgendermaßen antworten:
Archetypen sollen nach Jung die
im Menschen angelegten transzendenten Urformen sein, "die sich in
Vorstellungen, Bildern, Mythen, Märchen, Phantasien, Träumen und Wahnideen
äußern (Jung: Über die Psychologie des Unbewußten, 1948; Von den Wurzeln des
Bewußtseins, 1954)" in Enzyklopädie, Philosophie...
Bilder sind nur eine Möglichkeit
der Urformen, und sie sind selber Formen, also schon Festgelegtes. Die
Bildersprache beruht demnach auf etwas in Form gebrachtes. Der Hintergrund
sollen die Archetypen sein. Doch reichen Archetypen als Urformen aus, Bewegung
und schließlich Ganzheit des Geistes hervorzurufen? Es muß etwas noch
Ursprünglicheres geben, welches die Urformen und dann die Bilder in Bewegung
bringen, damit diese wirksam werden können. Man kann das Ursprüngliche den
Urwillen bzw. Urimpuls, die Intuition, die Freiheit, den schöpferischen
ganzheitlichen Geist nennen - das urschöpferische Potential der Existenz. Von
sich aus geraten die Archetypen, sofern es sich um (statische) Urformen
handelt, nicht in Bewegung, aber sie fließen in die Vorstellungen (Metapher)
mit ein. Nicht die Archetypen drücken sich aus, sondern der integrale bzw.
'transzendentale Mensch' (B.) mittels der Archetypen. Das Urpotential des
Menschen ist zuvorderst emotional-leidenschaftlicher und somit irrationaler
Art, ist aber nichts, sofern es sich nicht mit des Menschen ganzheitlicher
Existenz verbindet, welche wiederum ein rationales Vermögen mit einschließt,
das die Grundbedingung der Objektivierungsfähigkeit des Menschen ist.
Man könnte auch von
emotional-leidenschaftlichen Archetypen sprechen, welche jedoch keine Urformen,
sondern besagte Urimpulse wären. Dann, würde ich sagen, handelt es sich um
dynamisch-schöpferische Archetypen (z. B. Liebe, Freiheit, Wahrheitsintuition
usw.). Inwieweit diese Sicht mit Jung's vereinbar ist, das überschreitet meine
Kenntnis. Aus meiner Sicht ermöglichen grundsätzlich erst diese Art dynamischer
Archetypen die Beziehung zum anderen, des Ich und Du im Wir. Urformen treten
dann im ganzheitlichen Akt der personalen Existenz hinzu.
Die Subjektiv-Objekt-Spaltung
wird erst durch das rationale Vermögen hervorgerufen, und insofern gehen die
Archetypen dieser Spaltung voraus bzw. überschreiten diese, wie Sie es
schreiben. Aber zum Reich des Geistes gehören die Archetypen erst, wenn der
Geist z. B. im Menschen existiert.
Nicht die Metapher fühlt die Gemeinschaft,
sondern ich nutze die Metapher, um fühlbar Gemeinschaft zu erzeugen. Ich habe
existentielle Beweggründe und konstruiere im nachhinein die Metapher im Geiste
und lehne meine Beweggründe an sie an. Die Existenz bin ich, die Metapher meine
im subjektiven Geist erzeugte objektivierte Vorstellung davon. So gesehen
könnte ich Ihnen zustimmen: "Daher sehe ich die Metapher als
geistig-objektiv und geistig-subjektiv zugleich...". Zum Problem wird die
Metapher, wenn wir in ihr vermuten, was nur in uns existentiell gelebt werden
kann wie Freiheit, Wahrheit, Liebe... Es besteht die Gefahr der Hervorbringung
eines Götzen. Die Metapher an sich lebt nicht, hat keine Subjektivität. In der
Beziehung des Menschen zur Metapher kommt die existentielle Aktivität allein
aus der lebendig-schöpferischen Tiefe des Menschen hervor. Die Metapher bleibt
passiv und verschwindet ohne existentiell-schöpferische Uraktivität. Erst von
einem personalen Wesen zu einem anderen, welches auch ein Tier sein kann, ist
die Beziehung beiderseitig existentiell-schöpferisch-aktiv. Für diese
beiderseitige Beziehung kann ich bezogen auf den Menschen auch auf die Metapher
zurückgreifen. Die Metapher ist hermetisch, vieldeutig, aber ich deute
(bewerte) sie von meiner Intuition aus im Wechselspiel mit meinen Erfahrungen
etc. Oder ich mache etwas zur Metapher von meiner intuitiven etc. Motivation
aus, lege einen geistigen Wert in die Metapher. Ein erhebendes Naturerlebnis
geht nicht von der Natur aus, sondern die Natur wird zum Gleichnis unseres existentiellen
Erlebens. Nicht die Natur an sich ist göttlich, sondern wir Menschen haben die
Fähigkeit, das Göttliche aus uns heraus und durch unsere Ganzheitlichkeit mit
der Natur zu verbinden. Entsprechend könnten wir auch zu einem achtungsvollen
Umgang mit der Natur zurückfinden, weil sie vom Standpunkt des Göttlichen aus
ein Teil von uns ist und nicht umgekehrt. Aber wir Menschen neigen dazu, die
überwältigende Sichtbarkeit der Welt als ein von menschlicher Wahrnehmung
unabhängiges Ganzes zu bewerten. Wir schaffen uns so die Möglichkeit, uns von
der Natur zu distanzieren und sie entweder zu vergötzen oder nur als Rohstoff
zu betrachten. Wir projizieren unsere Vorstellungen in die äußere Welt hinein.
Doch dort existieren diese Vorstellungen nicht als solche, und schon gar nicht
existiert dort ein personales Ganzes, wie es der Mensch erlebt. Pygmalion, wie
Sie es schreiben, konnte sich in die Statue nur deshalb verlieben, weil er dort
etwas vermutete, was dort nicht war. Das Aphrodite sie zum Leben erweckte, wie
ich es im mythologischen Wörterbuch nachlesen konnte, zeigt, daß etwas fehlte.
Oder?
Hoffe, daß ich verständlich
geblieben bin.
...
Herzliche Grüße
Dirk
Hübner
Greifswald,
20.3.07
Lieber ...,
ich habe Ihren Aufsatz gelesen und möchte kurz Stellung
beziehen.
"Wahrheit scheint eher etwas zu sein, das man sich
zumuten muß..." – also hier könnte ich mich mit Ihnen, wenn Sie dieser
Ansicht sind, sofort einigen. Aber wenn es darum geht, sich darüber zu einigen,
was denn nun die Wahrheit ist, so glaube ich, dann wird es schon schwer.
Ich muß gestehen, daß ich meine geistig-religiöse
Glaubenshaltung in Ihrem Aufsatz nicht wirklich wiederfinde, obwohl Sie eine
sehr umfassende Auflistung verschiedener Glaubensrichtungen angeben. Das liegt
aber meines Erachtens nicht daran, daß Sie den religiösen Typ meiner
Ausrichtung schlicht vergessen haben, sondern daran, daß Sie durch Ihre
objektivierende und analysierende Herangehensweise eine Interpretation des
Religiösen vornehmen, die meinem religiösen Erleben und meinem Verständnis vom
Religiösen nicht gerecht werden kann. Das Grundproblem Ihrer Herangehensweise
besteht für mich vor allem darin, daß Sie dem Diskurs zunächst nicht den
Menschen als ein ganzheitlich-religiöses, personales Wesen, sondern statt
dessen eine mehr oder weniger starke Gegenüberstellung von Ratio oder Vernunft
und Religiosität voranstellen. Aber vielleicht habe ich diesbezüglich Ihren
Aufsatz auch falsch in den Blick genommen? Wenn Sie sagen: "Es gibt hier
nichts, was eine unüberbrückbare Kluft zwischen einem (angeblich)
wabernd-irrationalen Glaubensleben und einer (angeblich) nüchtern-sturen
Vernunft aufreißen würde.", so frage ich, ob denn überhaupt eine Kluft
aufreißen kann? Ist denn nicht jede Form der Vernunft in der einen oder anderen
Weise gleichermaßen direkt oder vor allem gegenwärtig auch indirekt religiös
motiviert? Ich würde diese letzte Frage eindeutig mit ja beantworten. (Und ich
spreche hier von Vernunft und nicht vom praktischen Verstand, um ein defektes
Fahrrad zu reparieren.) Es kommt nun bloß darauf an, wie ich als Mensch auf
mein religiöses Erleben reagiere, ob ich vor diesem angstvoll (der göttliche
Abgrund, unter Umständen eine Leere, tut sich innerlich auf) zurückweiche, es
zurückdränge und ihm gegenüber in einer
quasioppositionellen Haltung verharre (materiell orientierter Sichtbarkeitskult
etc.), ob ich es mißbrauche, pervertiere oder es zur Stärkung meiner göttlichen
Ebenbildlichkeit als gottmenschliche Persönlichkeit, die wir, d. h. ein jeder,
voraussetzungslos im Grunde sind, zuführe. Ebenbildlichkeit: Das authentisch
Menschliche ist das Göttliche, das Göttliche ist das authentisch Menschliche in
Ewigkeit - daran hängen alle wahrhaft menschlichen (mitmenschlichen) bzw.,
paradox ausgedrückt, überpersönlichen Werte, die in mir immanent durch meine
schöpferische Zugabe zur Existenz kommen. Hier auch der Bezug zu einer der
bedeutendsten Aussagen, die je ein Christ zum Wirken Gottes gemacht hat:
"Ich weiß, daß ohne mich
Gott nicht ein Nu kann leben;
werd ich zunicht,
er muß von Not den Geist aufgeben."
(A. Silesius: Cherubinischer Wandersmann)
Auf jeden Fall gehe ich zunächst davon aus, daß ein jeder
Mensch einen religiösen Kern besitzt, auch wenn er noch so geschwächt erscheint
– Letzteres kann sich in Grenzsituationen des Lebens ganz schnell ändern. Es
handelt sich hierbei um unser grundlegendes Motivationszentrum, ohne das kein
Mensch existiert. In meiner "Existentielle Kritik kontra 'negatorische'
Kritik" zitiere ich am Anfang Berdjajew: "Der Mensch ist unrettbar
religiös". Davon ausgehend sehe ich den Menschen als ein ganzheitliches
Wesen, erfahre mich selbst auch so, als eine mikrokosmische Konkretisierung der
unergründlichen Gottheit, als ein die Freiheit und Gott immanent umspannendes
und aus diesem Grunde ein zur Vernunft
fähiges Wesen. Dies bedeutet für mich jedoch nicht, daß mein
existentiell-immanenter Dialog mit Gott ein pragmatischer ist, daß das Wirken
aus Gott letztlich einen utilitaristisch ausgerichteten Endzweck verfolgt. An
dieser Stelle könnte ich mich auf Kant berufen (Kritik d. r. V.) und sagen, daß
die Welt auf keine Letztbegründung im rein rational-logischen Sinne
zurückgeführt werden kann (endloser Ursache-Wirkung-Regress). Gott ist im
Gegenteil für jede utilitaristische Weltsicht und Lebensweise/praxis eine große
Gefahr, d. h., sofern man sich auf die dialogische Seite Gottes stellt, ist man
der Gefahr der Kreuzigung (wenn auch nur z. B. durch psychischen Terror)
ausgesetzt. Aus diesem Grunde ist die Wahrheit (auch ein Attribut meiner
Gotteserfahrung) auch aus meiner Sicht eher eine "Zumutung". Gott ist
kein Garant für ein gutes Leben. Mit Gott streiten wir für das wahre Leben. Ich kann dies hier nicht weiter ausführen,
da dies dann nahezu die Größe des Umfangs meiner Kritiken erfordern würde.
Darum habe ich die Kritiken ja auch geschrieben, auch wenn ich heute nicht mehr
mit allem Gesagten so "glücklich" bin. Berdjajew hat es außerdem, so finde ich, sowieso schon genial auf
den Punkt gebracht.
Für mich kann sich also gar nicht die Frage stellen,
"wieviel Vernunft der Glaube braucht". Auch die rein
wissenschaftlich-experimentell orientierte, angeblich vollkommen areligiöse
Vernunft bedarf grundlegend eines Glaubenspostulats – z. B.: Nur das Sichtbare
hat Realität. Ohne den Glauben an den Atheismus gäbe es diesen als solchen
nicht. Also jede Vernunft ist an Glauben gebunden. Zudem stehen religiöser
Glaube und vernünftige Einstellungen, entsprechend Ihrer Äußerung am Schluß des
Aufsatzes, immer in einem Wechselverhältnis, weil sie dies schon angesichts
ihrer einzigen Existenzmöglichkeit in einer Person, so im Menschen, auch anders
gar nicht können. Aber nicht jeder religiöse Glaube führt zur ethisch motivierten
Vernunft. Dies ist ein Problem in unserer Welt. So könnte man die Vernunft der
Nationalsozialisten im sogenannten dritten Reich, aus deren Blickwinkel und
vorausgesetzten Glaubenspostulaten heraus, auch als eine solche wie jede andere
bezeichnen. Aber aus dem religiös-authentisch-ethischen Motiv heraus ist dies
nicht möglich, ein Motiv, welches den Menschen als ein existentiell-dynamisches
Kriterium im Kern erfüllt. Entscheidend für das Verhältnis von Glaube und
Vernunft ist die religiöse Verfassung des Menschen.
Der Mensch ist und wird grundlegend Mensch durch das
authentisch Religiöse in ihm. Aber der Mensch kann auch nicht ohne ein
Mindestmaß an Vernunft existieren. Ist der Glaube niedrig, und dies meine ich
qualitativ, so ist die Vernunft niedrig und umgekehrt. Ist der Glaube hoch, so
ist auch die Vernunft hoch und umgekehrt. Der Mensch als Mikrokosmos durchlebt
letztlich in sich alle Kreise des Seins. Ohne Glaube existiert keine Vernunft
und ohne welche auch immer niedere Form von Vernunft kommt kein Glaube zur
Existenz. Mit dem Menschen ist immer beides. Dies gilt auch für Kinder. „Wenn
ihr nicht glaubt, werdet ihr nicht erkennen“ (Jesaja 7, 9). Letztlich gibt es kein Mehr-aus-Glauben oder
Mehr-aus-Vernunft. Es erscheint uns zuweilen nur so. Dies ist eine Frage
unserer Aufmerksamkeit.
Die Gefahr, die Sie im Zusammenhang mit dem
subjektiv-expressiven Glaubensformen verbunden sehen, ist nicht von der Hand zu
weisen. Dazu habe ich insbesondere "N. Berdjajew kontra K. Wilber. Von der
personalen Wahrheit" geschrieben. Sie können auch mich unter die Rubrik
dieser Glaubensformen stellen. Jedoch trifft auf mich Ihre negative
Beschreibung nicht zu, obwohl ich darauf bestehe, daß ich als Persönlichkeit
(d. h. nicht als gattungsmäßiges Individuum) kein Teil der Gesellschaft,
sondern ein eigenes Ganzes bin, das sich gegen eine versklavende
Funktionalisierung wehrt, welches aber primär gemeinschaftsstiftend wirkt. Es
kommt hier also darauf an, was die menschliche Persönlichkeit in ihrem
unzaustilgbaren (sozialen) Bezug zur Welt ausmacht, welchen Weg sie zusammen
mit anderen Persönlichkeiten in Gemeinschaft zu beschreiten hat, soll sie nicht
kaputtgehen. Davon handeln im Prinzip all meine Texte. Das war eine der
Kardinalfragen Berdjajews, der meines Erachtens die Persönlichkeitsproblematik am konsequentesten und
schlüssigsten durchdacht hat. Ich verweise auch auf Dostojewski oder auf Max
Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Werteethik. Auch Erich
Fromm würde ich hier einreihen, um nur einige wenige zu nennen, die ich auch
gelesen habe.
Was mich in bezug auf die s.-expressiven Glaubensformen
irritiert, das ist, daß Sie den Begriff "Gottesbeweis" positiv
verwenden. Den Gottesbeweis kann es doch nicht geben, oder? Oder habe ich Sie
da falsch verstanden?
Ich zähle mal jetzt noch ein paar Punkte auf, die ich für
problematisch halte:
Religiöse Erfahrungen sind eine besondere Art der
Wirklichkeitserfahrung, ein Objektivitätsgehalt kann sich dabei immer nur
sekundär-symbolisch ergeben. Denn die Erfahrung selbst ist genuin
geistig-subjektiv, d. h., sie befindet sich außerhalb bzw. oberhalb der
Gegenüberstellung von einer korrelativen Subjektivität und einer korrelativen
Objektivität. Sie stellt eine geistige Realität dar und ist gegenüber einer
sogenannten "objektiven Realität" (dies für mich ein unsauberer
Begriff) dem Menschen wesentlich. Und nur als subjektiv-leidenschaftliche
Erfahrung erhebt das Religiöse im Menschen einen starken Geltungsanspruch, dies
jedoch nur in bezug auf ein Anderes, ein Anderen (Gott, Mensch), ein Gegenüber.
Es gibt ja auch keine objektive Erfahrung, sondern nur die subjektive Erfahrung
eines in der Person vollzogenen Objektivierungs- bzw. Denkprozesses.
Eine wahrhaft sensibilisierte Öffentlichkeit in
Demokratiefragen kann für mich nur unter der Voraussetzung von Persönlichkeiten
mit hohen ethischen Bewußtsein wirksam werden. D. h., auch hier wieder ist die
Richtung des Religiösen eines jeden einzelnen Menschen als existentielles
Zentrum ausschlaggebend. Die Vernunft wird dadurch natürlich keineswegs
ausgeschlossen, sie ergibt sich. Die Demokratie als solche existiert nicht und
vor allem nicht als existentielles Zentrum. Sie existiert subjektiv nur als
sozialer Bezug im einzelnen Menschen, der sich dann nach persönlicher Wertung
und Umwertung des sozialen Bezugs im Zusammenschluß mit anderen Menschen auch
zum praxisorientierten Handeln entschließen kann, aber nicht muß.
Wenn Sie nun den Fideismus dadurch abschwächen wollen, daß
er sich "nicht schlechterdings auf alle Lebensbereiche übertragen
läßt", so meine ich, überstrapazieren Sie eventuell den Gehalt dieser
Erkenntnishaltung. Auch wenn der Fideismus den Glauben als einzige
Erkenntnisgrundlage betrachtet und ihn über die Vernunft setzt, so erstreckt
sich diese Erkenntnishaltung noch nicht zwingend auf Bereiche, deren
kurzfristige und spezielle Bewältigung praktische und nichtreligiöse Mittel
erfordern. Aber sieht man genauer hin, ist es der Mensch, der tätig ist. Und
egal, was er tut, immer fühlt er sich motiviert, und dies primär nicht aus rein
praktischen Erwägungen und Hinwendungen – z. B. bei der Reparatur des Fahrrads
etc. Auch dies ist eine Frage unserer Aufmerksamkeit.
Zur Konzeption 3: Hier ergeben sich ein paar wichtige
Gesichtspunkte. Glaubensinhalte sollten nicht autoritätshörig hingenommen
werden. Genau der Ansicht bin ich auch. Aber man unterliegt einer Illusion,
wenn man meint, die Umwertung der Glaubensinhalte könnte durch reine
Vernunftmittel geleistet werden. Zunächst ist es so, daß das Religiöse nicht
die Vernunft ist und umgekehrt, daß beide Aspekte im Menschen, wie oben gesagt,
im unabdingbaren Verhältnis zueinander stehen. Die Umwertung der
Glaubensinhalte geschieht wiederum, im Wechselspiel zum weltlichen Bezug, durch
andere, neue Glaubensinhalte, die ständig in uns schöpferisch aufsteigen. Wir
tragen in uns kein statisches Glaubensmaterial, sondern wir sind als Ebenbild
von Gott und wie Er zum Schöpferischen berufen und erschaffen so fortlaufend
neue Werte. Dies spürt der Mensch deutlich. In Wahrheit will der Mensch schaffen,
um den religiös erlebbaren Sinn zu erfüllen, um nicht der Apathie und
Depression anheimzufallen. Darum ist letztlich die Vernunft sekundär, auch wenn
sie unabdingbar ist. Denn die reine Vernunft an sich motiviert zu nichts. Dies
gilt vor allem auch für Kants kategorischen Imperativ, der ohne
Wertehintergrund (hier vor allem Liebe) nicht zum Tragen kommt. Das hat Scheler
sehr deutlich im oben genannten Buch herausstellen können. Oder auch schon
Schiller z. B. Nicht der Glaube steht im Dienst der Vernunft, sondern
umgekehrt, die Vernunft im Dienst des Glaubens. Aber, und hier wieder das
Autoritätsproblem, der wahre Glaube kann kein autoritärer sein, weil er so die
Freiheit nicht zulassen könnte. Und Glaube ohne Freiheit ist autoritärer Glaube
– Götzendienst. In diesem Punkt kommt die Umwertung des Christentums als eines
erlösungsbedürftigen hin zu einem schöpferischen zur Geltung, eine Umwertung,
die Berdjajew philosophisch einzigartig herausgearbeitet hat. Auf der Grundlage
einer neu zu begreifenden Freiheit, die als unerschaffene, meontische Freiheit
Gott vorausgeht (Vergleichen Sie dazu u. a. Berdjajews Buch: Von der Bestimmung
des Menschen.), kann in diesem Zusammenhang auch die Theodizeefrage völlig neu
gestellt werden: Die Quelle des Bösen liegt in der meontischen, unerschaffenen
Freiheit und nicht in Gott. Aber ohne diese Möglichkeit zum Bösen kann Gott
nicht in die personale Existenz eintreten. Denn erst durch die Möglichkeit zum
Bösen, das wesentlich das Nichtsein ist, ist dem Menschen die Möglichkeit der
freien schöpferischen Hinwendung zu Gott als inniglich Geliebten, zur Fülle des
Lebens eröffnet.
Ich kann hier nur andeuten, was Berdjajew, ich glaube, in
allen seinen Büchern mehr oder weniger thematisiert und dann ausgearbeitet hat.
Übrigens wird durch die neu zu begreifende Freiheit auch
Ihre Forderung erfüllt, ich zitiere Sie: "Die Wahrheit erhält ihren vollen
Wert erst dann, wenn jemand ihr aus freier Einsicht zustimmt." Gott ist
nicht allmächtig, er offenbart sich uns über die überpersönlichen Werte als
Einheit von Eros und Agape, als liebens- und leidensfähiger Partner. Er will,
daß wir uns frei, in Freiheit seiner Gnade (Hingabe) schöpferisch zuwenden.
Der Glaube ist nicht "nicht mehr als eine
unzulängliche Form der Wahrheitserfassung". Der Glaube an sich kann mit
Wahrheit nicht identifiziert werden, sondern er stellt lediglich ein Aspekt des
Menschen neben den überpersönlichen Werten, der Seele, der Vernunft, den Ideen,
dem Verstand, den Sinnen, dem Körper dar. Die Wahrheit an sich ist der ganzheitlich-religiöse,
kurz, der ganze Mensch. Berdjajew sprach in bezug auf Kants transzendentalem
Bewußtsein vom transzendentalen Menschen als Träger der Wahrheit – genuin in
Christus, dem Gottmenschen, inkarniert. Daraus ergeben sich weitreichende
Konsequenzen für das Verhältnis von Persönlichkeit und Gesellschaft.
Sie sagen: "Religiöse Erfahrungen können durchaus
rationale Argumente von hohem Gewicht liefern." Hierin stimmen wir
überhaupt nicht überein. Für mich sind religiöse Erfahrungen die eine,
rationales Vermögen die andere Seite einer personalen Existenz. Beide Aspekte
brauchen einander wie oben schon im Verhältnis Glauben und Vernunft erläutert.
Das schöpferisch-ethisch-religiöse Moment macht den Verstand menschlich. Es
entsteht entsprechende Vernunft auch im pragmatischen Bezug auf die Umwelt.
Entsprechend des Silesius–Zitates oben ist zu sagen, daß
Gott mit dem Menschen wächst, d. h., daß die Frage nach einem
beständig-invarianten Gott nur eine Frage nach dem monotheistischen Gott und
nicht nach einem neuerlebten trinitarischen Gottesglauben sein kann. Der
trinitarische Gottesglaube erwächst aus einer dynamisch-dialogischen bzw.
existenzdialektischen Gotteserfahrung.
Sie sagen: "Im wohlverstandenen Sinn stellt
Urteilskraft ein Vernunftvermögen dar, das zu einer überlegten,
adressatengerechten, akteurrelativen, einzelfallbezogenen und kontextsensitiven
Einheit aus Erfahrungs-, Erkenntnis- und Bewertungsleistungen imstande ist. Für
den Einsatz der Urteilskraft zu plädieren, heißt also eine lebensweltliche Sättigung
der Vernunft vorzuschlagen." Hierbei wird aber nicht gesagt, daß das
Moment des religiösen Glaubens nicht doch den elementaren Ausschlag innerhalb
dieser gesättigten Vernunft zu geben vermag, welches z. B. als ethisches Moment
in der Bewertungsleistung erscheint.
Auch diese Stellungnahme verstehe ich für Sie als
Anregung, wenn auch mit provokativem Einschlag. Sie können sich nun vielleicht
auch von meiner Herangehensweise ein genaueres Bild machen.
Beste Grüße
Ihr
Dirk Hübner
05.2007
Hallo ...,
...
Wie soll ich das von der "übertriebenen ...
Freiheit" verstehen?
Wahlfreiheit ist nicht die ursprüngliche Freiheit, von der
Berdjajew in erster Linie spricht und sich dabei interpretierend auf Böhme bezieht. Genauer genommen ist
Wahlfreiheit keine Freiheit, sondern die Notwendigkeit, sich zwischen
verschiedenen vorbestimmten Optionen entscheiden zu müssen. Wahlfreiheit ist
ein sekundärer Akt. Ursprüngliche Freiheit ist demnach schöpferische Freiheit.
Wir schaffen frei vollkommen NEUE Werte (aus dem Nichts, Ungrund), wenn wir uns
schöpferisch verhalten. Im Grunde verlangt jede echte Verantwortung im Leben
schöpferische Freiheit, also ein nicht vorherbestimmtes Verhalten in
entscheidenden bzw. wichtigen Lebenssituationen. Was wichtig ist, wo es drauf
ankommt, auch das sollten wir frei, intuitiv, persönlich-authentisch, gegebenenfalls
sittlich bestimmen. Jeder einzelne sollte sich nicht fremdbestimmen lassen. Das
sagt sich so leicht daher, ist aber eines der schwerwiegendsten Probleme der
Menschen. Wann bin ich beispielsweise authentisch? Und welche Probleme ergeben
sich aus meinem Anspruch, authentisch sein zu wollen?
Außerdem fühle ich mich auch gar nicht wirklich frei, wenn
ich wählen muß, besonders dann nicht, wenn ich nur die Wahl zwischen lauter
äußerst fragwürdigen Alternativen habe. Das ursprüngliche Gefühl, die Intuition
der Freiheit ist ein religiös-mystisches Erlebnis höherer Ordnung. Aus Freiheit
schaffen wir, die Wahlfreiheit setzt bereits Geschaffenes voraus.
Zur Transzendenz: Habe ich Dich richtig verstanden? Du
gehst anscheinend davon aus, daß das Bewußtsein der Transzendenz nur eine
Illusion ist und im Grunde für den Geist, durch sein Hineinragen in alles
(Mensch, Materie), diese Barriere nicht existiert. Ist der Mensch befangen, so
schlummert in ihm der Geist. Ist er erleuchtet, so ist in ihm der Geist
offenbar und die Transzendenz verschwindet.
Meine Ansicht: Es ist wahr, der Mensch hat Barrieren, hat eine mitunter unüberwindliche Kluft
zwischen sich und Gott geschaffen. Darin liegt Lüge. Denn so wird Gott sinnlos,
so ist er für den "einfachen" Menschen unerreichbar oder im
Höchstfall nur anzubeten oder zu bewundern etc. Eine devote Haltung gegenüber
einem Gott erniedrigt den Menschen und ist mit einer authentischen
Gewissensintuition unvereinbar.
Aber, es besteht eine Gefahr darin, die Transzendenz
gänzlich auflösen zu wollen. Genau hier berühren wir ein Kernproblem, mit dem
sich insbesondere Berdjajew intensiv auseinandergesetzt hat. Gibt es keine
Transzendenz mehr, dann fällt zugleich auch die höhere Dimension, die höhere
Ordnung weg. Wenn alles gleichermaßen Geist wird, wird zugleich unser
schöpferisches Zutun überflüssig. Wenn die Transzendenz wegfällt, dann gibt es
keinen Gegenüber, keinen Anderen mehr, wir werden mit Gott unerkennbar eins –
Gott als Dialogpartner ist nicht mehr erreichbar, denn er ist gänzlich mit uns
verschmolzen, der Unterschied zwischen Mensch und Gott ist nicht mehr
erfahrbar. Das wiederum heißt, es gibt keinen Gott mehr, es gibt kein Gewissen
mehr, es ist keines mehr nötig, da alles in Ordnung ist, wie es ist.
"Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" fällt ohne ein Gegenüber
hinweg, ist nicht mehr möglich. Wir können schließlich nicht mehr unsere
besagte Authentizität wahren, es gibt sie nicht mehr im vollkommenen Eins.
Transzendenz ist unabdingbar. Aber es muß diejenige
Transzendenz sein, zu der wir Menschen immanent dialogischen Zugang haben. An
anderer Stelle habe ich sinngemäß geschrieben, daß im Grunde der Mensch mit
Gott streiten will für eine bessere Welt.
Der Geist weht nur da, wo er sich in Beziehung setzen
kann, aber nicht in irgendeine Beziehung, sondern eben in eine
geistig-schöpferische. Kann dies die Materie? Ich denke nicht. Hierher gehört
auch das im Gastbeitrag von Regina erwähnte Zitat von Silesius: "Ich weiß,
daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben; werd ich zunicht, er muß von Not
den Geist aufgeben." D. h., der existentielle Geist ist an die lebendige
Existenz gebunden und kann nur in ihr offenbar und verwirklicht werden. Das der
Geist auch in die Materie hineinragt, ist unsere weitgefaßte Auslegung des
Begriffes Geist. Dies ist eine Ausfassung, die ich in ihrer Pauschalität nicht
teile. Zumal, erfahrbar ist jenes Hineinragen nicht, und das ist für mich
entscheidend, denn dazu müßten wir selber gänzlich nur Materie sein. Unmöglich.
Aber: In der Materie ist für mich als Erkennender der
Geist auf einer niederen Realitätsstufe symbolisiert. Dies wiederum ist für
mich erkennbar, erfahrbar. Doch was ist überhaupt Materie? Je tiefer die
objektiv orientierten Wissenschaftler in die sogenannte Materie theoretisch
eindringen, um so mehr entschwindet sie ihnen. Soviel ich weiß, spricht man
heutzutage zunehmend auch schon nicht mehr von Materie als solche, sondern von
Energieschleifen als kleinste zusammenhängende Einheiten des Universums – was
man auch immer davon halten mag.
Du schriebst: "So ist dieser Geist auch dort,
schlummert und kann erwachen, hat sogar das Potential, den Wesensschwerpunkt
des Einzelnen in den geistig-himmelsverbundenen Seelenanteil zu verlegen."
Wenn ich davon
ausgehe, daß der Geist in seinem Wesen meine Persönlichkeit und der in ihr
wirkende Dialogverbund mit Gott ist, dadurch Liebe, höhere Freiheit, Gewissen
zum Tragen kommen, so ist es nicht ein allgemeiner Geist an sich, der mich
"geistig-himmelsverbundener" machen kann, sondern ich bin es, der dem
Ruf Gottes nach mir als einem authentischen Menschen Antwort geben muß. Ich muß
meinen schöpferischen Anteil an meiner Vergeistigung, an meiner innersten
gottbezogenen Menschwerdung leisten. Gottbezogen heißt hier, sich auf das
wahrhaft Menschliche als auf das wahrhaft Göttliche beziehen (Liebe, Freiheit,
Wahrheit). Dennoch muß der Unterschied bleiben zwischen dem Menschlichen und
Göttlichen als Garant einer wesenhaften geistigen Bewegung zwischen zwei
existentiellen Dialogpartnern – eine Voraussetzung, ohne die wir nicht zu
existieren vermögen und sinnvoll wirksam werden können in dieser Welt.
Ich gehe nicht von einem "Seelenanteil" aus.
Entweder die Seele als ganze, eingebettet im ganzen Menschen, wird vom Menschen
den geistig höheren Ansprüchen zugeführt oder von diesen abgekoppelt. Dies ist
ein Frage der Ausrichtung unseres schöpferischen Potentials, das auch niederen,
zerstörerischen Zwecken dienen kann.
Weiterhin schriebst Du: "Askese (die sehr
verschiedene Formen hat!!) kann sehr wohl zu Welt-Wirksamkeiten führen, die
mitunter der Welt sehr viel gibt."
Ich meinte auch nicht, daß Askese an sich schlecht sei.
Ich halte nichts von einer weltabgewandten Askese, die sich schadlos, schuldlos
halten will. Grundsätzlich jedoch ist Askese unverzichtbar, auch wenn sie
problematisch ist. Sie ist wesenhaft die Übung, schöpferisch-geistige Kräfte zu
sammeln für, zu konzentrieren auf das Wesentliche der eigenen Berufung. Das
Problematische liegt in ihrer Ausrichtung: Woraufhin bin ich in Askese? Was
sind die persönlichen Beweggründe meines Handelns, so beispielsweise der Haß
oder die Liebe? Selbst als hassender Mensch kann ich durch und durch asketisch
sein.
"Ich bin übrigens für einen an sich dringend zu
schaffenden liberalistischen Sozialismus (damit darin auch sozialistische
Liberalisten Chancen zur Entfaltung haben)".
Ich schließe mich eher Berdjajews Begriff eines
personalistischen Sozialismus an. Im Mittelpunkt steht hier der einzelne,
konkrete, gemeinschaftsorientierte Mensch in seinem authentischen Werden. Ein
jeder einzelne Mensch muß vor allem authentische Selbsterkenntnis gewinnen,
damit die Konflikte innerhalb der Gesellschaft (insbesondere auch der
gegenwärtig anstehende Konflikt mit der Natur) von den Menschen verstanden und
bewältigt werden können etc. Der Kapitalismus ist dem authentischen
Selbstverständnis und den entsprechenden Konsequenzen vehement abträglich.
Freundliche Grüße,
Dirk