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Stellungnahme

Geschrieben von Dirk Hübner

 

Stellungnahme zu Klaus Bambauers († am 14.05.2002) Beitrag: „Offenbarung, Sprache und Bewusstsein nach Nikolai Berdjajew im Kontext gegenwärtiger Religionsphilosophie“

 

Lieber Herr Bambauer,

 

ich möchte einige Gedanken zu Ihrem Beitrag „Offenbarung, Sprache und Bewusstsein nach Nikolai Berdjajew im Kontext gegenwärtiger Religionsphilosophie“ loswerden. Ich weiß, daß ich mich mit meiner Sicht und meinem Verständnis Berdjajewschen Denkens nicht auf einer Linie mit Ihnen befinde. Ihr Beitrag hat mich nun dazu bewogen, Stellung zu beziehen.

 

Unter „Kenosis“ fand ich im Wörterbuch: „...theologische Auffassung, daß Christus bei der Menschwerdung auf die Ausübung seiner göttlichen Eigenschaften verzichtet habe (Philipper 2, 6ff.).“ Sie zitieren K. Nishitani (K. Nishitani, Was ist Religion?, Frankfurt 1986): „Gottes Liebe, so heisst es, ist in Christus offenbar geworden, und Christus ‚entäußerte’ sich selbst, indem er Knechtsgestalt annahm (kenosis). Diese Selbst-Entäußerung bedeutet ein In-sich-leer-Werden und daher Knecht-Werden, Leer-Werden. Der Herkunftsort der Inkarnation befindet sich in Gott selber, da, wo er, der Liebende, in sich leer wird; in jenem Ort der kenosis in Gott. Und das ‚Nichts’, welches in der Realisation der Sünde [bzw. der so empfundenen Nichtigkeit oder Kreatürlichkeit, dem Spiegelbild der Absonderung von Gott] im Menschen hervorkommt, mag als Korrelativ zu diesem ‚Sich-Entäußern’ göttlicher Liebe gedacht werden.“ – Zum Begriff „Kenosis“ sage ich, wenn Christus auf die Ausübung seiner göttlichen Eigenschaften verzichtet hätte, wäre er niemals Mensch geworden. Der „Kenosis“-Begriff deutet auf einen allmächtigen Gott. Gott als Machthaber richtet nach „göttlicher Weisheit“ – unter diesen Voraussetzungen hätte ein „göttlicher Christus“ keine Kreuzigung erleiden müssen. Doch Christus wurde gekreuzigt, nicht weil er auf die „göttliche Macht“ verzichtet hat (Kenosis), sondern gerade weil er in seinem göttlichen Wirken frei von aller niederen Machtbesessenheit war. Er hat sich dem Widerstand der vom Machtprinzip beherrschten Welt nicht gebeugt, und in diesem Sinne hat er Verantwortung, Verantwortung für das Kreuz auf sich genommen, indem er sich mit dem Kreuz nicht abfand und es nicht fliehte durch Anpassung und knechtische Hingabe an eine niedere Welt (vor allem in geistiger Hinsicht). Wenn „Leer-Werden“ gleich „Knecht-Werden“ bedeutet, so deshalb, weil wir dem Widerstand aus dem Weg gehen und die Tragik des Lebens nicht annehmen wollen. Gott will uns nicht in „Knechtsgestalt“, und um dies zu wissen, benötige ich kein theologisches oder spekulativ-metaphysisches Wissensgebäude, sondern ich verlasse mich auf meine freiheitliche Intuition, die Gott in Liebe (d. h. in Wahrheit) bei sich weiß. Und indem Christus geistig Widerstand geleistet hat, hat er überhaupt nicht gesündigt, sondern hat der Sünde widerstanden. Christus hat das Kreuz getragen schon bevor er in letzter Konsequenz ans Kreuz geschlagen wurde. Alles, was Christus getan hat, hat er für die Welt, für die Offenbarung des Gottmenschen, der Wahrheit, getan. Christus war erfüllt von Liebe zu allem in konkreter und nicht entleert von allem in unkonkreter Weise. Das Wort „Leere“ stellt für mich einen unwürdigen symbolischen Ausdruck dar in Bezug auf Gott in uns selbst; - und von dem Wort „Knechtsgestalt“ ganz zu schweigen.

 

Sie zitieren G. Scholem (Scholem, Die jüdische Mystik): „Der erste aller Akte [in dem Gott in Exil geht] ist also kein Akt der Offenbarung, sondern ein Akt der Verhüllung und Einschränkung. Erst im zweiten Akt tritt nun Gott mit einem Strahl seiner Wesenheit aus sich hinaus und beginnt seine Offenbarung oder seine Entfaltung als Schöpfergott in jenem Urraum, den er in sich selbst geschaffen hat. Ja nicht nur dies, vielmehr findet auch vor jedem weiteren Akt der Emanation und Manifestation Gottes ein neuer Akt der Konzentration und Verhüllung statt. Mit anderen Worten: der Weltprozess ist nun zweigleisig geworden. Jede Stufe des Schöpfungsprozesses enthält in sich eine Spannung zwischen dem in Gott selbst zurückflutenden Licht und dem aus ihm herausbrechenden. Und ohne diese beständige Spannung, diesen immer wiederholten Ruck, mit dem Gott sein Wesen anhält, würde kein Ding der Welt bestehen. Diese Lehre ist von bestechendem Tiefsinn. Dieses Paradoxon des Zimzum ist, [...] der einzige ernsthafte Versuch, der je gemacht wurde, den Gedanken einer Schöpfung aus dem Nichts wirklich zu denken“. – Ich frage mich, warum der beschwerliche Weg zur Offenbarung Gottes in uns? Wird unsere schöpferische Kraft ausschließlich durch unsere Identität mit dem „Schöpfergott in jenem Urraum“ hervorgerufen, so ist dies gleichbedeutend mit einer Entsagung geistig selbstbestimmten Handelns. Es sei denn, ich und jeder Mensch ist zugleich Gott und nichts als Gott. Gottes Sehnsucht, die Berdjajew beschreibt, löst sich in Luft auf. Der Mensch als ein zu Gott dialogisches freies Wesen hätte somit keine Realität. Woher kommt der Wille zur Destruktion, denn auch diese ist ein schöpferischer Akt, wofür sich zahllose Beispiele in der Geschichte anführen ließen? Hat Gott „das Weltenspiel“ nur inszeniert, um seiner Vollkommenheit Gehör zu verschaffen? Warum hat der Schöpfergott in seiner Vollkommenheit den Menschen nicht gänzlich im Augenblicke herausgeschleudert, wenn Er als Nichts in Fülle gebadet ist, wie Sie meinen: „Es ist das mystische Nichts gemeint, das Gott in seiner Fülle ist“? Warum die Evolution in der Natur und das freie Schaffen des Menschen, warum gottmenschliche und nicht bloß rein göttliche Wahrheit? Weil das mystische Nichts eben nicht Gott in seiner Fülle ist, zumal das Bewußtsein Gottes nur der Person eignet. Auf all diese Fragen kann man von einer reinen Nichts-Metaphysik keine hinweisenden Antworten bekommen, in dieser Metaphysik wird alles auf ein Wunder reduziert, an dem wir nur staunend und beobachtend teilnehmen dürfen. Aber die Wahrheit ist kein Wunder, dem ich mich beuge, sie ist mehr, sie ist schöpferische Erfüllung – die höchste Gewißheit unserer selbst als liebende Wesen. Und diese emporhebende Wahrheit ist widerstehende Tragik und nicht entsagende, resignierende Leere, d. h. nicht Selbstaufgabe bzw. das Verschwinden der Persönlichkeit. Die Realisierung der Persönlichkeit hat mit Egozentrismus nichts zu tun, diese Realisierung ist gemeinschaftlich (Dreifaltigkeit), daß hat Berdjajew in seinem Werk deutlich und überzeugend zum Ausdruck gebracht. Die höchste Gewißheit (Fülle) ereignet sich im Nichts nicht, ansonsten wäre der Weltprozeß nur eine Laune, Willkür und ein Abklatsch prädestinierender vorexistenter Wahrheitsfindung. Wenn man die Wahrheit vor dem Weltprozeß behauptet, negiert man im gleichen Atemzug das dialogische Zusammenwirken von Freiheit und Gnade, das sich erst auf der sekundären Grundlage einer dualen Subjekt-Objekt-Welt und im Durchgang durch diese ereignen kann und das eine fortwährende Bereicherung Gottes und des Menschen als Gottmensch darstellt.

 

Anlehnend an J. Moltmann (J. Moltmann, Gott in der Schöpfung – Ökologische Schöpfungslehre, München 1993) weisen Sie darauf hin, das man in der „kabbalistische(n) Lehre von der Selbstverschränkung Gottes... ‚den ersten Akt derjenigen Selbsterniedrigung gesehen... (hat), die im Kreuz Christi ihren tiefsten Punkt erreicht . . . Gott macht seiner Schöpfung Platz, indem er seine Gegenwart zurücknimmt.’“ – Warum ist das Kreuz Christi eine Selbsterniedrigung? Man kann das Kreuz Christi nicht nur in der versteinerten Symbolik des sichtbaren Kreuzes sehen – an diesem erscheint uns Christus der Welt erlegen. Doch zum Kreuz zählt auch die Geschichte und vor allem die unsichtbare Metageschichte, die zur Kreuzigung geführt hat. Und diese ganze Kreuzigungsgeschichte als erfahrener Weg gipfelt in der Wahrheit, die in einer machtorientierten Welt letztlich gesteinigt oder eben gekreuzigt wird. Christus hat seinen schöpferischen Weg konsequent verfolgt und die Welt erschüttert, er hat sich frei geopfert, damit sein schöpferischer Impuls in der Welt lebendig wird, damit die Menschen in der Lage sind, Gott frei annehmen zu können zur Wahrheit hin. Er hat es für uns getan. Christus hat der gefallenen Welt, der Anpassung an ihr, widerstanden und sich über sie erhoben, er hat das Kreuz und das Leiden nicht gefürchtet, weil Gott in ihm war, weil Gott in ihm frei bzw. gottmenschlich wirkte. Das Kreuz Christi war keine Selbsterniedrigung, es war der Sieg der Liebe in Christus über den Tod, und darin sehe ich meine Bestimmung. Darin liegt auch ein offenes eschatologisches Moment, das Berdjajew auf beeindruckende Weise in seinen Werken herausgearbeitet hat und welches ich aus tiefstem Herzen bejahe. Gerade die eschatologische Metaphysik Berdjajews ist in meinen Augen wert, immer wieder neu und weiterführend, aus existentieller Intuition heraus, überdacht zu werden.

 

Weiter zitieren Sie Moltmann (J. Moltmann, Gott in der Schöpfung – Ökologische Schöpfungslehre, München 1993): „Das Nichts verneint nicht nur die Schöpfung, sondern auch Gott, sofern er ihr Schöpfer ist. Seine Verneinungen führen in jenen Urraum, den Gott vor der Schöpfung in sich selbst eingeräumt hat. Als Ermöglichung der Schöpfung durch Selbstverschränkung hat das nihil diesen vernichtenden Charakter noch nicht. Es ist eingeräumt worden, um Schöpfung in Eigenständigkeit ‚außerhalb’ Gottes zu ermöglichen.“ – Wird hier ein „nihil“ proklamiert, um letztlich darauf hinzuweisen, daß wir gänzlich gottlose Wesen sind? Ist Gott nur eine „würzige Beimischung“, um das Leben lebenswert erscheinen zu lassen? Ist irgendeine Schöpfung ohne Gott möglich? Meine geistige Lebensintuition sagt mir: nein. Nichts tue ich ohne direktes oder indirektes Wirken Gottes in mir. Selbst wenn ich Böses tue, tue ich es in Hinblick auf Gott durch meine partielle Gottverlassenheit. Schon das erste Erscheinen jeglichen Seins (z.B. materielles Sein) ruft Gott als Logos unmittelbar auf den Plan. Sobald die Freiheit aus ihrem irrationalen Ungrund hervorbricht ist der Logos bei ihr. Solange die Freiheit irrational und unergründlich ist, findet keine Schöpfung statt. Jegliche (Neu-) Schöpfung ist immer vom (Un-) Grunde und von der Höhe (Sinngrund) her aus der Verbindung Logos-Freiheit oder Gott-Freiheit entstanden. Hierbei spielt das Schicksal bzw. der Zufall eine außerordentliche und verkomplizierende Rolle, worauf Berdjajew hingewiesen hat. Die Schöpfung ausschließlich im Nichts gleicht einem Wunder. Wer dieses spekulative Wunder mit Wahrheit identifiziert, will die Wahrheit der personalen Liebe des Menschen nicht wahrhaben. Wenn ich sage, daß auch das Böse schöpferisch agiert, so meine ich, daß das Böse vom schöpferischen Impuls gebrauch macht, indem es sich diesen Impuls destruktiv zunutze macht. Selbst in seinem bösen Wirken ist der Mensch auf seinen gottmenschlichen, d. h. schöpferischen Dialog angewiesen, den er mißbraucht. Und manchmal handelt der Mensch böse, um Gutes zu bewirken. Das Böse ist relativ und dynamisch zu verstehen. Es kann und muß letzten Endes vergeben werden. Und dennoch ist dem Bösen im Menschen und in diesem Leben schöpferisch zu entgegnen, damit es den Menschen nicht vernichtet, und das erfordert den ganzheitlichen Menschen, die realisierte und sich fortwährend realisierende Persönlichkeit (siehe vor allem auch Berdjajew).

 

Weiterhin aus dem Zitat von Moltmann (J. Moltmann, Gott in der Schöpfung – Ökologische Schöpfungslehre, München 1993): „Der Raum, der durch Gottes Selbstverschränkung entsteht und frei wird, ist im wörtlichen Sinne ein gottloser Raum. Das nihil, in dem Gott seine Schöpfung schafft und gegen dessen Bedrohung er seine Schöpfung am Leben erhält, ist die Gottverlassenheit, die Hölle, der absolute Tod. Diesen bedrohenden Charakter bekommt das nihil freilich erst durch die Selbstabschließung der Geschöpfe, die Sünde und Gottlosigkeit genannt wird. Die Schöpfung ist mithin nicht nur von ihrem eigenen Nichtsein bedroht, sondern auch von dem Nichtsein Gottes ihres Schöpfers, d. h. vom Nichts selbst. Das macht seine dämonische Macht aus.“ – In der Tat, in der „Selbstabschließung der Geschöpfe“ liegt Sünde, sofern damit der Egozentrismus gemeint ist. Aber kann ich mich vor dem „nihil“ wirklich abschließen, das Ihnen zufolge die „unbegreifliche, undefinierbare und doch existente Quelle aller schöpferischen Prozesse“ ist? Jedwede Handlung, die ich vollführe, bricht aus diesem Quell hervor. Aber das Problem dabei ist: Wenn schon jedwede Handlung im „nihil“ prädestiniert wird, welchen Einfluß kann ich als Mensch dann noch geltend machen? Entscheidet Gott im „nihil“, aus jenem „Urraum“ heraus, für mich? Oder bin ich wesentlich schon Gott, der aus dem Nichts heraus wie ein Wunder wirkt? Warum das Verhältnis von Gut und Böse in dieser Welt, dem ich mich als Mensch stellen muß? Weiß und - vor allem - fühlt Gott schon alles, bevor etwas entsteht? Ist Gott ohne den Menschen denn überhaupt existent? Ich erinnere hier an den von Berdjajew zitierten Mystiker Angelus Silesius: „Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben; werd’ ich zunicht, er muß von Not den Geist aufgeben.“ – Dem schließe ich mich vorbehaltlos an. Überhaupt scheint es mir schleierhaft, wie Gott in einem „gottlosen Raum“ wirksam werden kann. Im gänzlich „gottlosen Raum“ ist nur Nichts bzw. die Gottheit in ihrer Abgeschiedenheit. In diesem „Raum“ an sich wird nichts geschaffen – hier herrscht keine Spannung, sondern „Nichts“ - irrationale, dunkle Freiheit. Herrschte im Nichts Spannung, wäre es schon nicht mehr das Nichts. Herrschte im Nichts Fülle, wäre es erfülltes, geläutertes Nichts – eben geistige Freiheit. Das Nichts ist unergründbare Potenz und sonst nichts. Wir erkennen die Wahrheit des Nichts (bzw. die Wahrheit der Abgeschiedenheit der Gottheit), aber niemals das Nichts im undefinierbaren „Zustand“. Nur aus unserer existentiellen Wahrheit heraus können wir Rückschlüsse ziehen auf das Nichts und sehen in diesem Nichts das Feuer (Jakob Böhme), das die Welt in Bewegung versetzt. Wenn der Logos bzw. Gott auftritt, ereignet sich Schöpfung aus dem Nichts heraus und nicht im Nichts als „Urraum“ an sich. Aber das ursächlichste ist das Nichts als irrationale Freiheit, das Feuer, das im unentwegten Drängen zum Sein auch Gott von der Höhe her sehnsüchtig in Bewegung versetzt, der wesenhaft frei bzw. gottmenschlich ist. Doch ohne Gott (Logos) würde das Nichts als Feuer sich fortlaufend selbst verbrennen, d. h. vernichten und käme nicht zur wahrhaften Existenz. Da die Freiheit vom (Un-) Grunde her Feuer ist, kann es in dieser Welt die unterschiedlichsten Richtungen einschlagen. Erst in der Liebe entfaltet das Feuer die höchste und wahrhafte Schönheit, wenn sich der Mensch zu Gott in der Liebe schöpferisch bekennt.

 

Die kabbalistische Lehre von der Selbstverschränkung und die Zimzum-Vorstellung, so, wie sich das in den kurzen obigen Zitaten darstellt, werden keine adäquat hinweisenden Antworten auf die Theodizeeproblematik geben können, welche entfällt, wenn man das Böse als etwas in der irrationalen, unergründbaren Gottheit (Nichts) wurzelndes (Berdjajew), wenn man das Böse als ein auf dem Weg zur existentiellen Wahrheitsoffenbarung unabdingbares und fortwährend zu überwindendes Erkenntnismoment begreift.

 

Sie zitieren nun wiederum K. Nishitani (Nishitani, Was ist Religion?): „So wie die Sünde als eine Realität im Selbst gewahrt werden muss, die, zusammen mit dem Selbst, vom Grund aller menschlichen Existenz oder aller ‚lebendigen Wesen’ auftaucht, muss der Glaube, der eine völlige Umkehr des Selbst von dieser Sünde, Erlösung nämlich, bedeutet, gleichermaßen eine große Realität sein. Christentum wie Buddhismus verstehen den Glauben in diesem Sinne.“ – Von welchem Christentum spricht hier Nishitani? Er spricht hier nicht vom Christentum, wie ich es verstehe, als einer schöpferisch-geistigen Gemeinschaft von Persönlichkeiten, sondern von einem Erlösungschristentum, d. h. einem Christentum, daß die Wahrheit ihres Glaubens noch nicht zu erfassen vermochte und es vielleicht auch nicht wollte. Denn die Wahrheit ist nicht leicht in dieser Welt und schon gar nicht leicht zu haben. Die Befreiung von der Sünde ist im Leben eines Menschen primär eine geistige Aufgabe, die jedoch einen ganzheitlich-schöpferischen Akt darstellt, welcher das irdisch-diesseitige gleichermaßen transzendiert, d. h. liebend durchwirkt. Die Befreiung stellt sich nicht als „Umkehr“ in einen vorweltlichen Zustand dar. Die Erlösung als solche ist nur ein Moment der Befreiung, der, wenn er nicht unmittelbar in einen schöpferischen Prozeß übergeht, den Menschen zu knechten und zu zersetzen beginnt. Wir erlösen uns immer wieder, aber wahrhafte Erlösung ist keimhaft schon ein schöpferischer Neubeginn. Erlösung und schöpferischer Aufschwung stehen in einem dialektischen Zusammenhang und dürfen nicht getrennt werden. Reine Erlösungsreligionen werden den wahrhaft ethischen Forderungen, die in diesem Leben verwirklicht werden müssen, in keiner Weise gerecht und laufen diesen sogar zuwider.

 

Wenn J. Moltmann sagt (Jürgen Moltmann, Trinität und Reich Gottes, München 1980): „Das Drama der göttlichen Liebe und der menschlichen Freiheit, das im Inneren der Gottheit beginnt und das Leben der Gottheit ausmacht, ist vielmehr der Beweis für die göttliche Vollkommenheit“. – Der Begriff „Vollkommenheit“ ist ein untauglicher, nirgends gibt es diese Vollkommenheit, weder in den Dingen noch in den lebenden Wesen und auch nicht in Gott. Gott ist nicht die Vollkommenheit, sondern die Ganzheit in uns als Gottmensch. Vollkommenheit ist Abschluß, Bewegungslosigkeit, Leidensunfähigkeit. Und wenn Berdjajew in seinem Werk hin und wieder den Begriff „Vollkommenheit“ verwendete, so bezog er sich immer auf die Ganzheit der Person und weiterführend auf die Ganzheit als einen geistig offenen Prozeß, als Ganzheit der Persönlichkeit. Und welches Drama sollte in einer Gottheit denn beginnen, in der es kein anderes gibt? Das Drama beginnt, wenn die Gottheit, sich differenzierend in Freiheit und Logos bzw. Freiheit und Gnade, in dieser Welt schöpferisch hervorbricht. Und ich denke, daß das wirkliche Drama erst in der Person stattfindet, die sich eines existentiellen Dramas bewußt wird. Das einzig wahrhaftige Drama ist ein mehr oder weniger bewußtes und dialogisch-dialektisches zwischen der Freiheit und Gnade im gemeinschaftlichen Menschen in Bezug auf die gesetzmäßige Welt.

 

In Bezugnahme auf Moltmann (Jürgen Moltmann, Trinität und Reich Gottes, München 1980) führen Sie weiter aus: „Die Erschaffung der Welt ist nichts anderes als ‚eine Geschichte der Göttlichen Liebe zwischen Gott und seinem Anderen’“. – Und auch an dieser Stelle muß ich widersprechen. Liebe ist immer gottmenschliche Liebe und entsteht aus der personalen Spannung zwischen Freiheit und Gnade. Der Logos liebt nicht, weil er sich einer Liebe nicht bewußt ist. Es liebt der Logos erst im personal-bewußten Menschen als Gottmensch. Liebe ist Wahrheit. Und die Welt war bei ihrer Erschaffung alles andere als ein Ausdruck vollkommener göttlicher Liebe. Die Welt stand mit ihrem Erscheinen am Anfang auf dem Weg zur Liebe, für die es keine Garantie gab und gibt – viel zu sehr ist dieser Weg von Zufall und Schicksal beeinflußt, und die Freiheit widersetzt sich jeglichem Zwang und insbesondere auch sich selbst – ihrem Sinn.

 

Nun zitieren Sie wieder K. Nishitani (Nishitani, Was ist Religion?): „Um der Vollkommenheit Gottes ebenbürtig zu werden, um so vollkommen zu sein wie der Vater im Himmel [Mt 5, 48], um ‚Kinder des Vaters im Himmel’ zu werden, kann diese Selbstlosigkeit [also die Kenosis bzw Ekkenosis] nur durch die Liebe zum Feind in der Tat verwirklicht werden. Der Mensch muss die unterscheidende menschliche Liebe aufgeben und sich der nicht unterscheidenden göttlichen Liebe hingeben . . Im Falle Christi besteht die Selbstlosigkeit darin, dass das mit Gott ‚Gleichförmige’ Knechtsgestalt annimmt. Diese Christus-Liebe ist eine ‚Verkörperung’ der Vollkommenheit Gottes. Im Falle eines Christen bedeutet ‚sich entäußern’ den Wandel von der menschlichen, unterscheidenden Liebe zur göttlichen, nichtunterscheidenden Christus-Liebe. In seinem Fall kann die christliche Liebe als ‚Nachahmung’ der Vollkommenheit Christi oder als Einübung in diese gelten.“ – Diese Aussage befindet sich nun im eklatanten Widerspruch zu dem, was Berdjajew will und wofür er einen geistigen Kampf ausgefochten hat. Ich verstehe nicht, wie man K. Nishitanis spekulative Metaphysik „ergänzend“ zu Berdjajews personalistischer Philosophie heranziehen kann; sie haben beide grundverschiedene Auffassungen bzw. einen grundverschiedenen Glauben. Und ich bin der Ansicht, daß Berdjajew durch Nishitanis Spekulationen nicht vertieft werden kann, sondern das Nishitani durch Berdjajews ethische Dimension (ganzheitlich-unterscheidende Liebe zum anderen als unmittelbarer Wahrheitsmoment), der Nishitani vom Ansatz her nicht folgen kann, widerlegt wird. Wer die „Christus-Liebe“ als nichtunterscheidende Liebe charakterisiert, hat diese Liebe zumindest nicht verstanden. „Die Liebe zum Feind“ ist keine Kapitulation bzw. Knechtshaltung. „Die Liebe zum Feind“ überwindet die Feindvorstellung dahingehend, daß wir den „Feind“ nicht mehr als Feind, sondern als ein vom Grunde und von der Höhe her zur Liebe bestimmtes Wesen erfahren und uns deshalb liebend für dieses aufopfern, damit auch dieses das Böse in sich und im Verhältnis zur Welt überwinden kann. „Die Liebe zum Feind“ ist somit ein Kampf um die Wahrheit im anderen, ein schöpferisch-gemeinschaftlicher Akt, ein schöpferischer Verbund mit dem anderen als Person und höchstes Opfer, die der Mensch als Gottmensch vollbringen kann. „Die Liebe zum Feind“ duldet vor allem das Böse des „Feindes“ nicht und will es mit ihm zusammen, gemeinschaftlich-liebend, überwinden. Christus wurde ans Kreuz geschlagen, weil die Menschen, die dies taten, seine Liebe nicht erkannten und deshalb nicht erwidern konnten im Augenblicke. Für die wahrhaftig-liebende Erwiderung war die Zeit noch nicht reif, doch das Kreuz hat die Menschen erschüttert. Und darin besteht Hoffnung.

 

Gerade auch im folgenden Zitat (Nishitani, Was ist Religion?) kann ich Nishitani nicht zustimmen: „Der Vollkommenheit Gottes wohnt, wie schon gesagt, wesenhaft und ursprünglich die Eigentümlichkeit des Sich-immer-schon-entäußert-Habens [im Sinne der ekkenōsis] inne, woraus dann das Werk der Liebe als Verkörperung oder als Nachahmung jener Vollkommenheit entsteht. In ihrer Relation zur Liebe als Werk oder Tat kann die Vollkommenheit Gottes auch Liebe genannt werden. Wenn aber das Werk der Liebe einen ‚personalen’ Charakter hat, dann muss die Vollkommenheit Gottes (und ‚Liebe’ als Vollkommenheit) als etwas noch Fundamentaleres als das ‚Personale’ gedacht werden, so dass das ‚Personale’ erst als eine Verkörperung dieser Vollkommenheit oder in menschlicher Nachahmung zustande kommt. In diesem Sinne wohnt Gottes Vollkommenheit eine Art Transpersonalität oder Impersonalität inne – nicht eine Impersonalität, die einfach im Gegensatz zur Personalität steht, sondern, wie oben erwähnt, eine personale Impersonalität bzw. persönliche Unpersönlichkeit. Diese Eigentümlichkeit personaler Impersonalität kann auch in der nicht unterscheidenden Liebe vermutet werden, welche die Sonne gleichermaßen über Bösen und Guten aufgehen lässt und den Regen auf Ungerechte und Gerechte fallen lässt [Mt 5, 45].“ – Die „Vollkommenheit Gottes“ wird einfach behauptet, ich lehne den Begriff „Vollkommenheit“ in Bezug auf Gott ab, wie ich das weiter oben schon dargelegt habe. Der Begriff „Vollkommenheit“ in Bezug auf die Liebe legt nahe, das Liebe leidenschaftslos ist und deshalb mit einem Zustand absoluter Ruhe identifiziert werden kann. Nach Nishitani erkennen wir ebenbürtig diese Vollkommenheit im Zustand der „Knechtsgestalt“. Nun sagt Nishitani aber, daß die „Vollkommenheit Gottes... als etwas noch Fundamentaleres als das ‚Personale’ gedacht werden (muß)...“. Die „Vollkommenheit Gottes“ wird also nicht erlebt, sondern gedacht. Erlebt wird im Höchstfall „das ‚Personale’ erst als eine Verkörperung dieser Vollkommenheit oder in menschlicher Nachahmung...“. Wenn nun unsere wahrhaft personale Liebe nur eine „Nachahmung“ göttlicher „Vollkommenheit“ sein kann, so ist ein menschlich-freier Beitrag nicht erforderlich oder gar erwünscht. Die personale (schöpferisch-neuartige) Liebe zum Geliebten in ihrer Einzigartigkeit verliert die Würde, etwas entscheidend Wichtiges zu sein, sie widerspricht sogar in ihrer Nachahmung als personale Liebe der göttlichen Vollkommenheit. Entscheidend ist nach Nishitani die „Leere“, die wir nachzuahmen und anzuerkennen haben und wollen wir (Moltmann zufolge; Jürgen Moltmann, Trinität und Reich Gottes, München 1980) „Gott aus Gnade“ werden. Doch eine Nachahmung in diesem Sinne könnte immer nur ein unschöpferischer Zustand sein. Die Begriffe „Transpersonalität“ oder „Impersonalität“ entbehren jeglichen existentiellen Erfahrungswert. Sie sind Konstrukte spekulativer Metaphysik. Wenn die Liebe meines Lebens stirbt, dann werde ich zutiefst erschüttert sein, weil diese Liebe für mich am wichtigsten und unersetzlich ist, denn in dieser Liebe bin und werde ich Gottmensch im höchsten gemeinschaftlichen Sinne. Aber nur durch die personale Liebe zu Gott kann ich die Erschütterung des Todes, der mich zusammen mit meiner Liebe erfaßt, überwinden und wiederauferstehen. Als „Impersonalität“ ist Gott nicht und niemals in mir existent, genauso wenig als „nichtunterscheidende Liebe“. Das sind alles Auswüchse unseres Denkens. Die Liebe zum Bösen an sich kann nur von einer impersonalistischen Sicht behauptet werden. Es gibt immer nur personale Wesen, die böse agieren können, sie sind deshalb vom Grunde und von der Höhe her wesenhaft nicht böse, da sie in ihrer Personalität schon partiell gelichtete Wesen sind. Und deshalb verdienen alle personale Wesen uneingeschränkt unsere ethisch fordernde Liebe, die nur frei erwidert werden kann, weil die Liebe eben personal und nicht notwendig ist im Sinne der gesetzmäßigen Welt. Das Böse ist immer etwas sekundär in der Welt Auftretendes, auch wenn sich der Quell des Bösen in der unergründlichen Freiheit, im Irrationalen, befindet. Das Böse gilt es fortwährend zu überwinden.

 

Und weiter zu Nishitani: „... ‚In dem, was man die biblische Gottesidee nennen möchte, konvergieren also zwei heterogene Betrachtungsweisen. In der Vergangenheit hat das Christentum gewöhnlich nur dem personalen Aspekt von Gott Aufmerksamkeit geschenkt. Nur selten wandte die Aufmerksamkeit sich dem impersonalen Aspekt zu’ (S. 119). Mit seiner Diagnose, die nicht einer gewissen Logik entbehrt, dürfte Nishitani Recht behalten: Ich glaube nicht, dass die Geschichte der christlichen Dogmatik eine Gottesvorstellung bereit hält, die diesem Problem gewachsen ist’ (S. 120).“ – Und ich denke, daß Berdjajew das Problem der „Impersonalität“ erkannt und überwunden hat. Nishitani sagt: „Nur das Absolut-Leere ist wahrhaft grundlos, Ungrund . . . Die wahre Freiheit besteht in einer solchen ‚Grund-losigkeit’“ (Nishitani, Was ist Religion? S. 83, A. 8). Die wahre Freiheit sieht Berdjajew nicht im Ungrund (als „Grundlosigkeit“), sondern in der gelichteten Wahrheit, die gottmenschlich ist und aus dem Ungrund, aus der unergründlichen Gottheit, dem Nichts, schöpft. Doch dieses Nichts erhält erst seine einzigartige und fortwährend völlig neuartige Existenz eben in jener gottmenschlichen Wahrheit. Die Wahrheit ist die Konkretisierung, die sich differenzierende Einheit und mystisch-existentiell erfaßbare Fülle des Nichts im liebenden personalen Wesen. Im Nichts herrscht weder Wahrheit noch Lüge. Das Nichts als solches ist absolute Potentialität von allem und nicht mehr. Und Fülle ist insofern mehr, daß es eben nicht einfach nur Nichts ist. Fülle ist lebendige Existenz. Berdjajew ist wahrhafter Existentialphilosoph, Nishitani ist spekulativer Metaphysiker (zumindest was das Buch „Was ist Religion?“ angeht), darin unterscheiden sich beide Denker grundlegend.

 

Im nächsten Zitat lassen Sie Aurobindo (Sri Aurobindo, Das göttliche Leben I, 1, Gladenbach 1991) zu Wort kommen, mit dem Sie u.a. Berdjajews Sicht zum Verhältnis von Gott und Mensch ergänzen wollen: „Universum und Individuum brauchen einander zu ihrem Aufstieg. Tatsächlich existieren sie immer füreinander und haben voneinander ihren Nutzen. Das Universum ist eine Ausbreitung des göttlichen Alls in die Unendlichkeit von Raum und Zeit. Das Individuum ist dessen Konzentration innerhalb der Grenzen von Raum und Zeit. Das Universum sucht in unendlicher Ausdehnung nach der göttlichen Totalität, die zu sein es fühlt, ohne sie völlig verwirklichen zu können.“ – Das Universum, daß fühlt, ist doch in uns. Das äußere Universum in seiner unendlichen Ausdehnung hat, wie Berdjajew sagt, gar keine Organe für Freude und Leid. Wie soll es etwas fühlen? Und das äußere Universum kommt auch ganz gut ohne den Menschen aus. Für das Universum ist ein Wesen wie der Mensch überhaupt nicht von „Nutzen“. Von „Nutzen“ ist für ein äußeres Universum gar nichts, es besteht einfach aus individuellen Komponenten, die in einem gesetzmäßigen Verbund das äußere Universum bilden. Die äußerliche, scheinbar unendliche Ausdehnung verliert sich in einer nichtfühlenden Unendlichkeit. Dagegen besitzt das personale Individuum (Mensch) ein in sich konzentriertes geistiges Universum, das einzig eine wahrhafte Unendlichkeit (Ewigkeit) in sich fühlen kann. Das Dilemma besteht doch gerade darin, daß der Mensch die äußere Unendlichkeit des Universums zu einer innerlich objektivierten und dahingehend schlechten Unendlichkeit (Berdjajew) transformiert, daß sich der Mensch von dieser äußeren Unendlichkeit innerlich-geistig vereinnahmen und (fremd-) bestimmen läßt und sich in dieser schlechten Unendlichkeit verliert. Aurobindos Aussage ist keine tiefgründige. Zu unterscheiden wäre einerseits zwischen einem evolutionistischen Verhältnis von äußerem Universum und äußerlich-individueller Komponente und andererseits zwischen einem geistig-schöpferischen, d. h. personal-ganzheitlichem Verhältnis von innerlich gefühlter Universalität (existentielle Unendlichkeit) und individueller ganzheitlicher Einzigartigkeit. Und wenn ich sage, daß hier „zu unterscheiden wäre“, meine ich nicht, das Äußeres und Inneres zu trennen wäre; Äußeres und Inneres bilden jedoch erst in der selbstbewußten Person eine existentiell-wahrhafte Einheit. Das Verhältnis von Gott und Mensch ist ein geistig-schöpferisches und kein evolutionistisches, - dazu habe ich mich eingehender in meinem 6. Teil „Berdjajew kontra Wilber. Von der personalen Wahrheit.“ geäußert.

 

Auch der Titel von Heschels Buch „Gott sucht den Menschen“ orientiert m. E. zu einseitig. Sie zitieren Heschel: „Unser Ausgangspunkt ist nicht das Bekannte, das Endliche, das Gesetzmäßige, sondern das Unbekannte innerhalb des Bekannten, das Unendliche im Endlichen, das Mysterium mitten im Gesetzmäßigen.“ – Ich würde sagen, unser Ausgangspunkt ist nicht das subjektiv-geistig objektivierte Bekannte des Sichtbaren und Gesetzmäßigen. Das gottmenschliche Mysterium (Liebe) ist nicht etwas sichtbares Bekanntes. Aber als Liebesintuition ist es geistig sehr wohl erfahrbar und in diesem Sinne als höchstes Mysterium bekannt. Die Liebe ist quasi ein offenes Geheimnis. In der konkreten Liebe zum Geliebten (zu Gott und Mensch zugleich, aber auch zu den Dingen der Welt) wird uns der wahrhafte tiefe Sinn des Geliebten schöpferisch offenbar. Ich glaube nicht, daß es jemals irgendeinen Menschen gab, der überhaupt keine Liebesintuition gespürt hat, und wenn sie auch noch so schwach war. In der Tiefe schlummert die Liebe in jedem von uns und bricht immer wieder hervor, selbst im Haß. Hört die Liebe gänzlich auf, stirbt die Person als selbstbewußtes Wesen. Auch in bezug auf das Zitat von Aurobindo in Ihrer Anmerkung 23 (Sri Aurobindo, Das göttliche Leben I, 1, Gladenbach 1991, 84f) möchte ich sagen: Wir nehmen die Liebe nicht als etwas abgesondertes wahr, sondern sie durchwirkt bzw. durchzieht das ganze Leben. Verhüllt ist die Liebe nur insofern, da sie keine sichtbare bzw. geistig-objektivierte Erscheinung darstellt. Sie tritt dennoch immer ganzheitlich in Bezug zur Welt der Erscheinungen im personal-gemeinschaftlichen Wesen auf und wirkt auf die Erscheinungen zurück. Wenn man das „Unbekannte“ entsprechend Nishitani spekulativ-metaphysisch interpretiert, gelangt man zum absoluten Nichts-Punkt. Die Behauptung, der Nichts-Punkt sei der schöpferische Urquell an sich, ergibt sich formal aus der Logik des Denkens, doch hat diese Behauptung keinen existentiell-wahrhaftigen Glauben zur Grundlage. Ich frage mich immer, was die Menschen in die spekulative Metaphysik treibt; ist es vielleicht eine Form des Nichtverantwortenwollens? Sri Aurobindo sagt (von Ihnen zitiert in Anmerkung 23): „Die höchste intuitive Erkenntnis schaut die Dinge im Ganzen, im Umfassenden, und die Einzelheiten nur als Seiten des unteilbaren Ganzen. Sie tendiert zu einer unmittelbaren Synthese und zu Einheit der Erkenntnis.“ – Ich sage, die höchste intuitive Erkenntnis offenbart uns den Sinn der Welt im ganzen, in den Dingen, in den lebenden Wesen und vor allem in uns selbst. Doch diese Offenbarung ist keine metaphysische Zusammenschau des Intellekts, der eine denkende „Synthese“ bemüht, sondern liebende Durchdringung bzw. Transzendierung, die konkret das Wesenhafte des Geliebten erfaßt, d. h. erlebt. Höchste intuitive Erkenntnis ist kein bloßes Schauen, keine Zusammenschau der Einzelheiten als ein irgendwie geartetes Ganzes, sondern es ist unmittelbare gottmenschliche Sinnerkenntnis und Sinngebung. Und die Sinnerkenntnis ist verbunden mit einer Ganzheitserfahrung, die wiederum die Menschen nur allzuleicht auf ein sich verflüchtigendes äußeres Universum projizieren. Ganzheit kann nur in uns als personale Wesen existieren und nirgendwo sonst.

 

Verwickelt wird es nun in Ihrem Zitat von A. J. Heschel (Heschel, Gott sucht den Menschen): „ ‚Alles schöpferische Denken kommt aus einer Begegnung mit dem Unbekannten’, [psychologisch gesprochen: aus dem Unbewussten, das in uns ist, uns aber auch wie eine unendliches Feld umgibt und wo wir nicht mehr von einer Trennung von ‚Innen’ und ‚Außen’ sprechen können]. Wir haben kein Interesse an einer Erforschung des Bekannten, es sei denn, wir entdecken plötzlich, dass das, was wir als längst bekannt ansahen, in Wahrheit ein Rätsel ist. Daher muss der Geist aus dem Gehäuse des Wissens heraustreten, um zu spüren, was uns zum Wissen hindrängt. Wenn wir aber wieder anfangen, die Wirklichkeit unserem Denken anzupassen, dann kehrt der Geist in sein Schneckenhaus zurück. Wissen ist nicht nur eine Frucht des Denkens. Nur extreme Rationalisten oder Solipsisten könnten behaupten, Wissen käme ausschließlich durch die Kombination von Begriffen zustande. Jede echte Begegnung mit der Wirklichkeit ist eine Begegnung mit dem Unbekannten, ist intuitive Wahrnehmung des Objekts, ist rudimentäres vorbegriffliches Wissen. In der Tat ist kein Objekt wirklich bekannt, wenn es nicht zuvor in seiner Unbekanntheit erfahren wurde. Es ist eine tief bedeutsame Tatsache, dass wir mehr fühlen, als wir aussprechen können. Wenn wir vor der Großartigkeit der Welt stehen, dann erscheint jede Formulierung unserer Gedanken blass und dürftig. Alles schöpferische Denken beginnt mit dem Innewerden, dass das Geheimnis, dem wir gegenüberstehen, unvergleichlich tiefer ist als alles, was wir kennen.“ – Als richtig empfinde ich die Quintessenz des Gedankens, daß wir nur am Rätsel des scheinbar Bekannten wahrhaftig interessiert sind, wenn mit dem Rätsel das offene Mysterium der Liebe gemeint ist. „Daher muss der Geist aus dem Gehäuse des Wissens heraustreten, um zu spüren, was uns zum Wissen hindrängt.“ - Ich würde eher sagen, wir dürfen nicht versuchen, die existentielle Quelle unseres Wissens verdrängen bzw. abschnüren zu wollen, wie dies z. B. die Positivisten versuchen. Aber falsch ist die Behauptung: „Jede echte Begegnung mit der Wirklichkeit... , ist intuitive Wahrnehmung des Objekts...“. – Das Objekt als solches können wir nur empirisch bzw. objektivierend erkennen, intuitiv echt bzw. authentisch nehmen wir den Sinn des Objekts wahr. Und der Sinn offenbart sich immer subjektiv-existentiell-ganzheitlich. Und wie gesagt, wir kennen auch das Mysterium der Liebe, doch diese Erkenntnis ist absolut dynamisch und völlig anders geartet als unsere objektivierte Erkenntnis. An sich gibt es nichts Unbekanntes im religiösen Sinne. Die Liebe ist nicht etwas Bekanntes in ihrem Abschluß, sondern eine bekannte existentielle Erfahrung als etwas fortwährend Neuartiges und Beginnendes, Unermeßliches, Ewiges und in uns nicht Versiegendes, solange wir lebendige Wesen im weitesten Sinn des Wortes sind.

 

Weiter im Text schreiben Sie nun: „Zunächst einmal ist es nach A. J. Heschel das vorbegriffliche Denken, das der Verbegrifflichung als der Symbolisierung vorangeht, weil lebendige Begegnung mit der Wirklichkeit sich auf einer Ebene abspielt, die vor der Begriffswerdung liegt. Für den Bereich der Religionsphilosophie muss deshalb festgehalten werden: Innere Erkenntnis im Sinne eines Widerfahrnisses, einer ‚geistigen Erfahrung’ (Berdjajew) wird stets erst im ‚Nachher’ zur Sprache gebracht, weil wir ‚Transzendenz’, die uns als ‚Immanenz’ widerfährt, auch nicht ‚begreifen’, sondern ihrer zunächst einmal inne werden.“ – Sie behaupten somit, alles käme aus der Transzendenz, und die begrifflich-symbolische Sprache ist ein reines Erzeugnis dieser Transzendenz. Damit verneinen Sie die schöpferisch-ganzheitliche Wechselwirkung von Jenseits und Diesseits im Menschen und in seinem Verhältnis zur symbolischen Welt. Am Beispiel der Sprache läßt sich aber sagen, daß diese auf uns eine chronologisch nachfolgende mystische Wirkung ausüben kann, die jedoch existentiell-überzeitlich ist. Über die Sprache, die schon da war, als ich persönlich z. B. noch nicht da war, erfahre ich innerlich geistig-schöpferische Anregungen und Bereicherungen im nachhinein. Auch über die Sprache erfahre ich quasi zwischen den Zeilen die Metageschichte der Menschheitsgeschichte (z. B. Philosophie). Ohne diese Anregungen „aus fernen Zeiten“ wäre mir meine Existenz in vielerlei Hinsicht unverständlich geblieben. Doch wichtig ist, daß ich diese Anregungen schöpferisch weiterführe und Gott in mir bereichere, erweitere bzw. intensivere. Das kennzeichnet ja gerade die geniale Philosophie von Berdjajew, daß er auf diese ganzheitliche Wechselbeziehung von existentieller und objektivierender Erkenntnis („Das Ich und die Welt der Objekte“ z. B.) tiefgründig aufmerksam gemacht hat. Ganzheitliche Erkenntnis schließt sowohl das Zeitliche als auch das Überzeitliche gleichermaßen ein. Erst durch diese Wechselbeziehung kann Gott im Menschen offenbart werden, wird Gott als Gottmensch existent. „Transzendenz“ ist von der Höhe bzw. Tiefe her nichts Fertiges, der Mensch als irdisches und geistiges Wesen muß sich ihr schöpferisch zuwenden, damit sie immanente Wahrheit wird zu allem und für alle. Ich sage: Die Begegnung mit der höchsten Wirklichkeit (Wahrheit) durchdringt (transzendiert) gleichermaßen alle Ebenen und spielt sich nicht nur auf einer Ebene ab.

 

Das Meister Eckharts Gottheitsmystik von Nishitani dankbar angenommen wird, ist einleuchtend, läßt sie sich doch sehr gut in sein System einbauen (Leere – Abgeschiedenheit der Gottheit).

 

Sie zitieren erneut Heschel (Heschel, Gott sucht den Menschen): „Wir entziehen uns dem Staunen, wir verweigern die Antwort auf die Präsenz. Das ist unser aller Tragödie: ‚Wir verdunkeln jedes Wunder durch Gleichgültigkeit’. Leben ist Routine, und Routine ist Widerstand gegen das Wunder. ‚Voll ist die Welt von göttlichem Glanz, voll von erhabenen und wunderbaren Geheimnissen. Aber eine kleine Hand, über das Auge gelegt, verdeckt alles’, sagt Baal Schem . . . Die Wunder sind täglich um uns, und dennoch ‚wird das Wunder nicht von dem erkannt, der es erfährt’. Es handelt sich nicht um eine physische Wahrnehmung. ‚Was nützt ein offenes Auge, wenn das Herz blind ist?’. Man kann viele Dinge sehen, ohne sie wahrzunehmen – ‚sein Ohr ist geöffnet, aber er hört nicht’ (Jes 42, 20).“ – Die Welt ist nicht voll von göttlichem Glanz. Die Welt ist kein Symbol göttlicher Vollkommenheit. Das ist eine Lüge und eine Herabwürdigung der leidenden Kreatur. Es gibt auch viel Häßlichkeit (insbesondere was den Menschen und sein äußeres Schaffenswerk angeht) und gerade davor verschließen wir die Augen, damit wir uns mit ihr nicht auseinandersetzen müssen, damit unsere spießbürgerliche kleine Welt nicht in Frage gestellt wird. Die Welt stellt sich in Wahrheit für den Menschen als eine Leidensgeschichte dar. Der Mensch ist dazu berufen, gottmenschliche Schönheit aus sich heraus in sie hineinzuwirken. Es gibt in Wahrheit keinen göttlichen Glanz, sondern nur personale, d. h. gottmenschliche Schönheit. Die Welt soll zum Symbol dieser Schönheit werden, haben wir sie einmal wahrhaft in uns als unser eigentliches Wollen erfahren. Erst die Schönheit in uns überwindet den Widerstand der Welt und geht unermeßlich weit über ein einfaches Betrachten eines Wunders hinaus.

 

Für mich stellt die folgende Aussage von Simone Weil (Simone Weil, Die Gottesliebe und das Unglück, in: Zeugnis für das Gute, München 1990) eine Verneinung der schöpferischen Freiheit des Menschen dar: „Nur Gott ist fähig, Gott zu lieben. Wir können nur unsere Einwilligung geben, aller Eigengefühle ledig zu werden, damit diese Liebe ungehindert durch unsere Seele hindurchgehen kann. Das heißt sich selbst verneinen. Nur dieser Einwilligung wegen sind wir erschaffen.“ – Gerade von diesem Zitat ausgehend ist es mir wichtig, zu betonen, daß man Buddha und Jesus vom Ansatz her nicht in einen Topf werfen darf (siehe Ihre Anmerkung 26) – man muß die Unterschiede sehen, sonst verliert man die Wahrheit aus dem Blick. Auch die Interpretation z. B. der Evangelien hängt entscheidend davon ab. In dieser Hinsicht ist der Gedanke von Kurt Hübner (K. Hübner, Glaube und Denken – Dimensionen der Wirklichkeit, Tübingen 2001) richtig, daß die Worte Jesus als „Schöpfung von Wirklichkeit“ in uns („im Hörenden“) nicht einfach eine „verstehende ‚Abbildung’ oder eine ‚Übereinstimmung mit ihr’“ ist. Es kommt also ganz auf den „Hörenden“ an, ob er den Mut zu der Freiheit in sich hat, die auf Gottes Ruf Antwort geben kann. Gott allein kann nicht lieben (ich denke hier auch an Angelus Silesius Aussage oben).

 

Sie sagen, „...dass das schaffende Wort Jesu Christi neue Wirklichkeit aus sich heraussetzt, zum schöpferischen Wort wird, d. h. die Weltschöpfung jeweils neu nachvollzieht und damit auch unsere eigene Sprache der Banalität der Nur - Zeichenhaftigkeit oder ihrer nur auf flache, inhaltslose Kommunikation reduzierten Funktion entrissen wird.“ – Ich möchte Ihnen hier insofern zustimmen, daß das Wort Jesu Christi erst dann schaffendes Wort wird, wenn der Mensch, jeder einzelne Mensch persönlich, seine Zustimmung in sich diesem Wort (welches in uns in lebendiger Beziehung zu Gott steht) schöpferisch verleiht und das Wort bereichert und vertieft. Das Wort ist nicht fertig, sondern dynamisch. Von dieser Warte aus trifft auch das Zitat von Max Picard („Die Sprache ist keine Sammlung von Zeichen,... [bis]... An die Wirklichkeit des Wortes kann man nur glauben, wenn man an die Wirlichkeit und an den Wert des menschlichen Lebens glaubt.“ [M. Picard, Der Mensch und das Wort, Erlenbach-Zürich, 1955]) eine wahrhaft existentiell nachvollziehbare Aussage. Aber ich meine nicht, daß der Mensch – wie Sie sinngemäß Picard wiedergeben – einfach nur „am Akt der Liebe Gottes“ teilnimmt, sondern der freie Akt des Menschen ist ein schöpferisches Zusammenwirken von Gott und Mensch gleichermaßen und verwirklicht sich in der Liebe. Wenn Gottes Liebe – wie sie schreiben - „auf sein trinitarisches Wesen zurückgeht“, so meint die Trinität, daß Gott und Sohn den Heiligen Geist als Liebe erfahren. Man könnte anstelle „Gott-Sohn-Heiliger Geist“ auch sagen: „Gott-Freiheit-Wahrheit“. Der Mensch ist in der Trinität die Freiheit im liebenden Zusammenwirken mit Gott, der wiederum auch durch den Menschen zum geistig-ganzheitlichen Leben hin befreit wird. Gott und Mensch befreien sich gegenseitig in ihrer Liebe zueinander. Und „Verstehen“ ist eben nicht nur „Teilnehmen am göttlichen Überfluß“ (M. Picard, Der Mensch und das Wort), sondern wahrhaft erschütternde gottmenschliche Neuartigkeit, die sich der zur Starrheit tendierenden symbolischen Welt widersetzt. Falsch ist, wenn A. von Speyr sagt (Adrienne von Speyr, Das Wort wird Fleisch): „Wenn Gott ihm [dem Menschen] wirklich zeigt, was Leben ist, wenn er ihm einen Zipfel dieser Herrlichkeit enthüllt, dann wird er hinausgeschleudert und zu Boden geschmettert von dieser alles überragenden Übergewalt.“ – Hier wird von Speyr ebenfalls eine verzerrte Gottesvorstellung gezeichnet. Gott zeigt uns nicht, was Leben ist, sondern wir müssen uns frei zum Leben aufschwingen, eben zu Gott, damit sich in unserer Beziehung zu Ihm gottmenschliche Wahrheit ereignen kann. Erschütternd ist die Wahrheit, die alles Gewohnte und vermeintlich Gesicherte nicht beläßt. Aber zugleich ist diese Wahrheit auch unermeßlich befreiend, und darin liegt ihre religiös erfahrbare Kraft. Nur weil Speyr diese gottmenschliche Beziehung nicht begreift, kann sie sagen: „Nachfolge des Lebens Gottes kann nur heißen: sich von diesem Leben überfluten lassen, und Schau des Lebens Gottes kann nur heißen: wie vor Scham die Blicke senken angesichts eines solchen Übermaßes an Leben“ – In diese Aussage hat sich ein autoritäres Moment eingeschlichen, welches einem reinen Erlösungssuchen innewohnt. Wenn Sie nun in der Anmerkung 32 meinen, daß die „phänomenologische Beschreibung“ von Speyr sich „mit Aussagen von Berdjajew“ trifft, so bin ich ganz anderer Ansicht. Berdjajew hat in keiner Weise vor den „Urrealitäten“ und dem „Leben“ „vor Scham die Blicke“ gesenkt, sondern hat sich ihnen schöpferisch und wahrhaft selbstbewußt zugewandt. Die Zitate von Berdjajew (in Ihrer Anmerkung 32) sind im personalistischen Sinne zu interpretieren, wenn man ihm gerecht werden will, und müssen vor allem in einem etwas größeren Zusammenhang seines Werkes gesehen werden. An dieser Stelle möchte ich gleich an das nächste, von Ihnen ausgewählte Zitat (Ruben Habito, Barmherzigkeit aus der Stille) anschließen: „Dieser Prozess [des Leerwerdens] ist vergleichbar mit der Suche des reichen Jünglings nach dem ewigen Leben (Mt 19). Jesus ruft ihn dazu auf, alles, was er liebt, aufzugeben und ihm ins Unbekannte hinein zu folgen. Ein Akt völliger Selbstentäußerung ist notwendig, um das ewige Leben, das er sucht, zu empfangen. Der Weg zum Leben führt durch ein Nadelöhr, bei dem wir unser überflüssiges Gepäck, unsere Anhänglichkeiten, die Vorstellungen, die wir von uns selbst haben, die Überzeugung von unserer eigenen Wichtigkeit, unser rationalistisches Denken usw. als das zu erkennen, was sie sind: Hindernisse, von denen wir uns lösen müssen, um das zu erreichen, was wir suchen . . . Und diese Quelle ist ewiges Leben. Das ewige Leben ist nicht das, was wir uns gewöhnlich darunter vorstellen: etwas von unendlicher Dauer, eine Erweiterung der Zeit ins Unendliche oder sogar ein Zustand ewiger Unsterblichkeit. Es ist eher ein Bereich, in dem unsere gesamten Vorstellungen von Zeit, Geburt und Tod, Veränderung und Zerfall usw. hinfällig werden, ein Bereich, in welchem alle uns vertrauten Vorstellungen verschwinden und alle Gegensätze konvergieren oder zur Deckung kommen. Dieses Zusammenfallen der Gegensätze ist keine bloße Vorstellung, sondern ein Ereignis, ein Prozess, dem wir uns im Leerwerden unterziehen.“ – Das Komplizierte ist, daß in diesem Zitat ein wahres Moment enthalten ist (Überwindung des Egozentrismus), aber dieses Moment durch die Grundhaltung (ewiges Leben = Leerwerden) verfälscht wird. Im Sinne von Berdjajew ist zwischen der unergründlichen Ewigkeit, dem Nichts, und dem ewigen Leben, der Wahrheit, zu unterscheiden. Äquivalent ist die Unterscheidung zwischen dem Nichts und der erfahrbaren Fülle des Nichts. Das Opfer, von dem Berdjajew spricht (zitiert in Ihrer Anmerkung 32), ist ein Aufgeben des gewohnten Sicherheitsbedürfnisses, der Sicherheit eines durchorganisierten Lebens, eines scheinbar völlig kalkulierbaren Lebens. Das Opfer ist bei Berdjajew ein Durchbruch durch den Tod der gesetzmäßigen Welt zur schöpferisch-lebendigen Welt. Es ist die Verwirklichung des Nichts in der gottmenschlichen Wahrheit. Egozentrismus ist Liebesentsagung, und die Überwindung des Egozentrismus ist ein Durchbruch zur, der Liebe, die jedoch nur Liebe ist, wenn sie personal erlebt wird. „Leerwerden“ ist höchstens ein Erlösungsmoment, aber nicht Liebe, sondern nur eine Vorbedingung, die in sich – wie weiter oben schon einmal gesagt – keimhaft den schöpferischen Aufschwung zur Liebe mitenthalten muß, soll dieses Erlösungsmoment nicht unweigerlich in einen destruktiven Zustand entgleiten. Und der Begriff „Selbstentäußerung“ sagt eigentlich aus: sich in die Welt, in den Kosmos hinein verlieren. Doch in einer absoluten „Selbstentäußerung“ wird nichts mehr gefühlt (kein Leiden und keine Freude). Ich möchte hier noch hinzufügen, daß nach meiner Ansicht neben Berdjajew auch Dostojewski (siehe Ihre Anmerkung 32) nicht einfach in ein buddhistisch orientiertes Schema gepreßt werden kann. Wenn Sie hinsichtlich des „völlige(n) Leerwerden(s)“ (Habito, Barmherzigkeit aus der Stille) sagen: „Es ist weder allein im Innen noch ist es im Außen. Es gibt nun keine Spaltung mehr zwischen Innen und Außen...“, – so ist dies reine Spekulation, denn in der „Leere“ zeigt sich kein anderes, das geliebt werden kann. Liebe ist eben die wahrhafte Überwindung der Spaltung zur Wahrheit hin als Liebe zum anderen (Zwei-Einheit von Ich und Du im Wir, Trinität) und nicht die Auflösung in das unergründliche Nichts. Wenn sie weiterhin sagen: „Die ‚normale’ Wirklichkeit als solche wird zum ‚Reich Gottes’ transformiert.“ – so muß ich ergänzen, daß dies nicht nur durch Betrachtungen geschieht, sondern geistige Taten, die wiederum Eingang in die Welt finden, folgen müssen. Wahrheit ist ein ganzheitlicher Akt und läßt nichts unverändert – auch nicht die von uns zu schaffende äußere Welt, in der wir leben. Zur Wahrheit gehört alles dazu, auch wenn sie primär ein geistiger Akt ist. Die „normale Wirklichkeit“ ist graduell immer eine Unwirklichkeit. Die „normale Wirklichkeit“ bedarf immer unserer gottmenschlichen Veränderung. Gerade in dieser Hinsicht fehlt einer Nichts-Metaphysik der wahrhaft problembewußte Zugang. Sie beziehen sich nun auf Kakichi Kadowaki (Kakichi Kadowaki, Zen und die Bibel, Salzburg 1980): „Die Zen-Erfahrung ist für ihn ‚ein erstmaliges Gewahrwerden unseres wahren Selbst durch eine Umkehr der ganzen Person’.“ – Wenn die ganze Person umkehren muß, um das „Selbst“ zu realisieren, wo bleibt dann die erfahrene Geschichte des „Selbst“? Hier wird ein entscheidender Schwachpunkt der buddhistisch orientierten „Philosophie“ offensichtlich, dessen sich Berdjajew sehr bewußt war. Im Zusammenhang mit C. G. Jung, den Sie zitieren, meine ich, überschätzen Sie den Zen und unterminieren den rationalen Aspekt des Bewußtsein. Außerdem ist es falsch, anzunehmen, das Bewußtsein wäre ein völlig autarkes Geschehen und sperrte quasi das „Unbewußte“ immer ab. Bewußtsein kann in der Tat „strengste Beschränkung auf Weniges und darum Deutliches“ (C. G. Jung, Zen, Erleuchtung und Psychotherapie, in: C. G. Jung und der östliche Weg, hg. von J. J. Clarke, Olten 1997) sein. Bewußtsein wird zum verdrängenden Bewußtsein durch die persönliche Struktur des einzelnen Menschen, die eine persönliche Geschichte hat. Bewußtsein kann sich aber auch erweitern, wie Berdjajew es vertreten hat. Bewußtsein an sich gibt es nicht, es ist immer ganzheitlich eingebunden und ist immer personales Selbstbewußtsein – auch wenn es noch so schwach ist (schwache Persönlichkeit). In irgendeiner Form wirken das Unbewußte (z. B. Instinkt oder Schattenemotionen) und Gott (Liebe als transzendentes Prinzip; aber z. B. auch Leiden um die scheinbare Abwesenheit Gottes) in das personale Bewußtsein immer ganzheitlich hinein, da es ansonsten nicht vorhanden wäre. Unbewußtes wird bewußt und umgekehrt, das ist ein dynamischer Prozeß. Bewußtsein als Selbstbewußtsein ist existentiell-ganzheitliche Realität. Die gedankliche Annahme der Möglichkeit einer „Entleerung und Stillegung des Bewußtsein“ (C. G. Jung, Zen, Erleuchtung und Psychotherapie) erhebt sich aus einem spekulativen Ansatz und ist mit der existentiellen Realität nicht vereinbar. Wir können das Bewußtsein zum unermeßlichen Mysterium der Liebe hin erweitern, aber nicht (vollständig) entleeren. Ich stehe der „Zen-Euphorie“ dahingehend kritisch gegenüber, weil hier ein Glaube an einer völligen Entpersönlichung fanatisiert wird, der gerade in einer zunehmend persönlichkeitsmißachtenden Gesellschaft wie der unserigen auf fruchtbaren Boden fällt. In Ihrer Überleitung zu Zitaten von Berdjajew (beginnend mit Zitat/Anmerkung 36) kommen Sie zu der Feststellung: „Häufig missverstanden wurde deshalb auch die Aussageweise, dass Gott ein ‚Nichts’, d. h. ein ‚Nichts von allem’ sei. So sahen es der griechische Philosoph Plotin ebenso wie Nicolaus Cusanus, und er entwickelte die Lehre vom Zusammenfall der Gegensätze. Die negative Theologie will damit nur ausdrücken, dass die Gottheit als ‚Nichts’ nicht Sein bzw. besser nicht Seiendes, Objekthaftes, Konstatierbares wie die natürliche Welt sei.“ – Aber als Nichts ist die Gottheit eben nicht Gottheit in ihrer konkretisierten Fülle. Existentiell erleben wir Fülle mehr oder weniger intensiv, die Gottheit als Nichts ist nicht erlebbar, da in ihr unterschiedslose Unergründlichkeit herrscht. Insofern haben Plotin und alle anderen „Nichts-Metaphysiker“ ihr Ziel nicht erreichen können, auch wenn z. B. Plotin die „Ekstase“ für eine über die vernunftmäßige Erkenntnis stehende existentielle Erfahrung bzw. Wahrnehmung des „All-Einen“-Nichts hielt. Doch die Vorstellung des „All-Einen“ als etwas Absolutes ist einer Uminterpretation existentieller Wahrnehmung bzw. Realitäten geschuldet, davon gehe ich aus.

 

Zu Ihrer Kritik an Berdjajew (in Ihrer Anmerkung 40) habe ich folgendes zu sagen: Zunächst einmal werden Sie Berdjajew nicht gerecht, wenn Sie ihm eine „permanente Ablehnung der Objektivierung des Geistes“ unterstellen. Berdjajew will darauf hinaus, daß die Objektivation des Geistes nicht länger als etwas den Menschen Beherrschendes und als etwas Endgültiges verstanden und innerlich angenommen werden darf, damit der Mensch seiner Bestimmung gerecht werden kann. Berdjajew hat in seinem Werk sehr deutlich die positive Bedeutung der Objektivierung als geistigen Akt herausgestellt und ihren pragmatischen Sinn hervorgehoben bzw. bestätigt. Niemals hat Berdjajew gemeint, der Mensch müsse sich ganz in ein geistiges Wesen verwandeln, solange er lebe, sondern er hat den ganzheitlichen Aspekt, der sowohl die objektivierte als auch die existentiell-schöpferische Seite umfaßt, nie aus den Augen verloren. Der eschatologische Ausblick auf ein Ende der Geschichte ist für Berdjajew vor allem ein ethisches Postulat und kein Aufruf zur Selbstvernichtung. Natürlich unterliegt die Offenbarung ständig der Strahlenbrechung, und dies wußte auch Berdjajew aus seinem ganzheitlichen Blickwinkel – er war doch nicht lebensfremd. Wäre er lebensfremd gewesen, hätte er niemals tiefe Aussagen zum Leben machen können. Aber die Strahlenbrechung durch Objektivation ist doch nicht die Offenbarung an sich, sie steht mit der Offenbarung in Wechselwirkung durch die Person. Die schöpferische Persönlichkeit intensiviert über diese Wechselwirkung die Intensität der Fülle, und genau das wußte Berdjajew. D. h. die Strahlenbrechung ist nicht das letzte Wort, sondern ein Moment, das einer fortwährenden Überwindung unterliegt, will der Mensch das wahrhaft „schöpferische Wort“ finden. Sie sagen kritisch auf Berdjajew gerichtet: „So ist der Vollzug der Offenbarung ein sich ständig im Geist vollziehender Prozess und kann nicht auf ein einmaliges Faktum eingegrenzt werden. So vollzieht sich in der Inkarnation des Wortes gerade auch unter den Bedingungen der Endlichkeit eine fortwährende Objektivierung des (unendlichen) Geistes. Wäre dies nicht so, dann könnte auch die Inkarnation des göttlichen Logos keine beständige sein. Hier liegt ein m. E. gravierender Denkfehler Berdjajews vor, der theologisch korrigierbar ist.“ – ‚Die Offenbarung des Geistes als ein sich ständig vollziehender Prozeß’ ist doch gerade Berdjajews Grundanliegen, den Geist auf ein Faktum einzugrenzen, lag Berdjajew vollkommen fern. Zu einem ‚Geist als Faktum’ muß sich in letzter Konsequenz gerade die „Nichts-Metaphysik“ bekennen. Mir ist es unverständlich, woher Sie ihre Kritik beziehen. Ich kann an dieser Stelle nur feststellen, daß ich in diesem Zusammenhang einen anderen Berdjajew gelesen habe. Die „Inkarnation des Wortes“ ist doch kein Abschluß und insofern auch nicht beständig, wie Sie meinen. Und die Inkarnation hat ihren überzeitlichen Ursprung trotz aller Objektivation in der existentiellen Offenbarung. Aber die Inkarnation wirkt wiederum auf die Offenbarung „provozierend“ zurück und verlangt nach einer fortwährenden Neuoffenbarung und Veränderung, will die Person sich nicht der Inkarnation unterwerfen und sich dabei destruktiv verlieren. Und Neuoffenbarung an sich ist primär-überzeitlich existentielle Dialektik, bezieht sich aber im ganzheitlichen Sinne zugleich auf eine Inkarnation. Darin liegt auch die Wahrheit in dem Titel des Buches von Berdjajew „Existentielle Dialektik des Göttlichen und Menschlichen“. Nikolai Berdjajew hat sehr wohl eine dynamische Auffassung vertreten, was er sehr deutlich zum Ausdruck gebracht hat. Und wenn Sie Berdjajew einen „gravierenden Denkfehler“ vorwerfen, so halte ich dem außerdem entgegen, daß sich dem logischen Denken die Offenbarung als eine Paradoxie darstellt, weil die Offenbarung absolut dynamisch ist, und diese Paradoxie durch eben dieses Denken nicht aufgelöst werden kann. Weiterhin merken Sie an: „So ist N. Berdjajew also kritisch entgegen zu halten, dass das Leben nicht nur aus ‚schöpferischen Akten’ besteht (hier wusste er sich M. Scheler und H. Bergson nahe), auch wenn er in jeder Objektivation schon eine unzulässige Versteinerung des Geistes sieht.“ – Existentielles Leben ist eindeutig und absolut „schöpferischer Akt“; die Objektivationen leben nicht, weil sie an sich nicht ganzheitlich existieren (Abgrund zwischen Gott-Logos und Dingen). Die Objektivationen bedürfen grundlegend des fortwährend schöpferischen Aktes der Persönlichkeit zu ihrer existentiellen Realisierung, um innerlich (in der Persönlichkeit) und nur dort lebendig werden zu können. Existentiell lebt die Persönlichkeit und sonst nichts. Letztere Aussage schließt auch jene Tiere ein, in denen sich nach meiner tiefsten Überzeugung erste gottmenschliche Züge finden lassen. Der Gedanke von Aurobindo (Sri Aurobindo, Das göttliche Leben I): „Das Universum sucht in unendlicher Ausdehnung nach der göttlichen Totalität, die zu sein es fühlt...“, - ist, und das möchte an dieser Stelle noch einmal deutlich machen, grundlegend falsch, denn Gott fühlt nur ganzheitlich in der selbstbewußten Person. Wenn W. Schulz sagt: „Das Objektivieren ist ein Grundzug der Subjektivität.“ (Ich und Welt. Philosophie der Subjektivität, Pfullingen 1979 S. 23. Zit. Schulz, Ich und Welt), so ist es eben nur ein Grundzug und nicht der ganzheitlich primäre. Und natürlich hat sich Berdjajew immer wieder auch auf seine früher geschriebenen Bücher bezogen und von dort ausgehend neue Gedanken und Einsichten entwickelt. Dazu mußte er die einmal geschriebenen Bücher nicht immer wieder neu lesen. Berdjajew wurde von Themen, die er schon in den früheren Büchern behandelte, ein ganzes Leben lang gefesselt. Er war immer im philosophischen Prozeß und hat alles immer wieder schöpferisch neu durchdacht. Der Vorwurf: „... aufgrund der Objektivation, interessierten Berdjajew seine einmal geschriebenen Bücher nicht mehr.“ – kann so pauschal und undifferenziert nicht aufrecht gehalten werden. Berdjajew wollte jedes Buch immer wieder neu schreiben, entsprechend der Dynamik seines selbstbewußten Geistes, der sich nicht vollständig in einen objektivierten Zustand einbinden ließ.

 

Für mich ist der von Ihnen in bezug auf die „Phänomenologie des Geistes“ (G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt 1973) ins Spiel gebrachte Begriff eines „Absoluten“ äußerst problematisch, und ich kann hier auf meine Auseinandersetzung „Berdjajew kontra Wilber“ (5. Teil) verweisen. Die Zitate von Hegel (beginnend mit: „zwischen das Erkennen und das Absolute...“, und endend mit: „... oder der leere Ort bezeichnet worden.“) sind so unkonkret, daß hier wahrlich kein persönlich nachvollziehbarer existentieller Bezug zu finden ist. Durch welche Symbole, die auf das existentiell Nachvollziehbare hinweisen, ließe sich z. B. „der Strahl selbst“ als Wahrheit konkreter charakterisieren? An dieser Stelle wäre es hilfreich, ein entsprechendes Zitat von Hegel anzufügen, wenn man ihn im Zusammenhang mit Berdjajew erwähnt. Wenn jedoch der Begriff „Strahl“ auf eine spekulativ angenommene „Leere“ hinweisen soll, wie dies im Zitat 42 andeutungsweise zum Ausdruck kommt, zählt auch Hegel letztlich zur spekulativen Metaphysik und steht im Widerspruch zur existentialistischen Auffassung. In dieser Hinsicht stehe ich auf Seiten Berdjajews.

 

Daß sich nun Berdjajew einer gewissen Begrifflichkeit bedient, sehe ich nicht im Widerspruch zu seiner Auffassung, daß die unmittelbare „Gotteserkenntnis“ nur symbolisch und mythologisch zum Ausdruck gebracht werden kann. Berdjajew hat nichts gegen eine Logik, die sich der Welt pragmatisch nähert. Es geht ihm aber vor allem auch darum, daß wir uns von der Logik in unserer Lebensgestaltung nicht beherrschen lassen. Übrigens ist sein gesamtes Werk auch ein objektivierter Tatbestand. Erkenntnis vollzieht sich Berdjajew zufolge primär existentiell, bezieht sich aber ganzheitlich immer auch in objektivierender Weise. Auch Symbole oder z. B. auch Mythologeme und Mythologien basieren auf einer objektivierten Struktur, das hat auch Berdjajew nicht geleugnet. Und dennoch kann man sie nicht ohne Widerspruch in Begriffe umwandeln. Nur die objektivierende Erkenntnisweise als ein Aspekt der ganzheitlichen Erkenntnis ist rein begrifflich. Die Verwendung von Worten erfolgt symbolisch oder begrifflich; auch dessen war sich Berdjajew sehr wohl bewußt. Symbolisch sind diejenigen Worte („Wort“ hier als Über-Begriff, das inhaltlich durch ein Attribut näher bestimmt werden muß), die im übertragenen Sinne gebraucht werden und auf das existentiell Wahrnehmbare hinweisen, das sich nicht widerspruchslos in Begriffe fassen läßt. In diesem Sinne lassen sich die transzendenten Prinzipien wie Liebe, Wahrheit, Freiheit usw. nur symbolisch ausdrücken – eben als symbolische Worte bzw. Wortsymbole. Sie stellen im existentiellen Kontext in keiner Weise begriffliche Worte bzw. Wortbegriffe dar, auch wenn ihre einzelnen Zeichen logisch miteinander verknüpft sind, um das entsprechende Wort zu bilden. Begrifflich sind die Worte, die im rein logisch-definierten Sinne gebraucht werden und sich dabei auf äußere gegenständliche bzw. objektivierte Gegebenheiten beziehen. Ziehen wir das Wort „Liebe“ noch einmal als Beispiel heran. Es ist als eine Form des existentiellen Symbols ein Wortsymbol, da es sich auf etwas existentiell Erlebbares bezieht und keiner begrifflichen Definition widerspruchslos unterzogen bzw. nicht gegenständlich verstanden werden kann. Dagegen ist z. B. das Wort „Tisch“ Wortbegriff, da es begrifflich definiert ist und sich auf einen Gegenstand bezieht. Alle Worte lassen sich sowohl symbolisch als auch begrifflich bzw. im übertragenen oder im logisch definierten Sinne verwenden. So kann man z. B. das Wort „Kreuz“ rein begrifflich, aber auch symbolisch verwenden. D. h., der Übergang von einem begrifflichen Wort zu einem symbolischen und umgekehrt ist von der Blickrichtung des Erkennenden abhängig und ist, entsprechend der ganzheitlichen Dynamik der Persönlichkeit, fließend. Davon ausgehend gibt es gar keine reinen Begriffe, sondern sie tragen immer einen letzten Rest Symbolik in sich, die auf das personale Existentielle verweist. Es ist aber auch so, daß die Wortsymbole für transzendente Prinzipien nicht als Begriffe verwendet werden können, ohne eine Abänderung des Inhalts, der Bedeutung, und der Bezugnahme vorzunehmen. Und äußerst fragwürdig ist, ob das Wortsymbol „Liebe“ überhaupt als Begriff verwendet werden kann, ohne dieses Wort ad absurdum zu führen. Anders verhält es sich da schon mit dem Wortsymbol „Wahrheit“, das auch als ein definierter Begriff für relative, gesetzmäßige Strukturen und Teilbereiche denkbar bzw. rationalisierbar ist. Doch wesentlich ist auch das Wort „Wahrheit“ Wortsymbol. Dennoch trägt auch das symbolisch oder mythologisch verwendete Wort in sich einen begrifflichen Aspekt im Zusammenhang mit der Logik des sprachlichen Systems und kann auch logisch in den sprachlichen Kontext eingebunden werden. Die Widersprüchlichkeit der Sprache hat auch Berdjajew erkannt, indem er – sinngemäß hier wiedergegeben - von der Unvollkommenheit der Sprache gesprochen hat (was natürlich auch ein Vorzug der Sprache ist). Den Vorwurf in diesem Zusammenhang, bei Berdjajew liege „ein von ihm nicht beachteter Selbstwiderspruch vor“, möchte ich zurückweisen. Sie sagen: „Da nach seiner [Berdjajews] Ansicht die Gotteserkenntnis ohnehin ein ‚dynamischer Prozess’ ist, der sprachlich nur unvollkommen zu artikulieren ist, so wäre es wohl sinnvoller, die Gotteserkenntnis als eine ‚unendliche Bewegung des Geistes’ zu beschreiben.“ – Genau dies hat Berdjajew getan. Wenn Sie aber unter „Gotteserkenntnis“ ein sich Versenken in einen vorseienden „Urraum“ verstehen, in dem einzig ein schöpferisches Neuschaffen stattfinden kann, so befindet sich diese „Gotteserkenntnis“ zu der von Berdjajew vertretenen Gotteserkenntnis als einer schöpferischen, überseienden, gottmenschlichen Erkenntnis von existentieller Wahrheit diametral entgegengesetzt. Wenn Sie sagen: „... so kommen wir auch dem entgegen, dass Sprache und Wort in der Tiefe der Unendlichkeit und Unabgeschlossenheit des Geistes gründen, die das Wort jeweils neu qualifizieren, weil es eben nicht in der formalen Logik einer Sprachtheorie, sondern dort gründet, wo es anfänglich zuerst gesprochen wurde (vgl. Joh 1, 1) und von daher als ‚göttliches Wort’ seine Qualität und Würde empfängt.“ – Hier kommen wir wieder auf die Problematik der menschlichen Freiheit zurück, die sich zur „Gotteserkenntnis“ hin schöpferisch einbringen muß, soll die „Gotteserkenntnis“ überhaupt wahrnehmbar stattfinden. Und die menschliche Freiheit hat eine ganzheitlich-umfassende Geschichte, die im „Urraum“ noch nicht vorhanden sein konnte und kann. Denn dort, wo das Wort „anfänglich zuerst gesprochen wurde“, ist es noch nicht auf der Höhe bzw. Tiefe nach und über der Zeit, ist es im Höchstmaß unfertig und bedurfte und bedarf der Zeit, die zum Menschen führte und führt, der wiederum dem Wort im Dialog mit Gott eine völlig neue Dimension verschafft – die gottmenschliche Wahrheit, die in ihrer Intensität und Umfassendheit unermeßlich und grenzenlos ist und sich grenzenlos erweitern und vertiefen kann.

 

Georg Scherer, von Ihnen zitiert (Georg Scherer, Die Frage nach Gott, Darmstadt 2001), sagt auf Heidegger bezogen: „Es gilt vielmehr... ‚im Nichts die Weiträumigkeit’ des Seins selbst zu erfahren.“ – Ich hoffe, daß ich bisher meine Sicht zum Nichts, das an sich nicht erfahrbar ist, genügend verdeutlichen konnte. Wir sind nicht im Nichts, sondern wir treten unablässig aus dem Nichts hervor. Interessant ist jedoch folgende Aussage von Scherer: „Ohne das Sein bleibt ‚alles Seiende in der Seinslosigkeit’ oder ‚Seinsverlassenheit’. Denn niemals ist ‚ein Seiendes . . . ohne das Sein’. Umgekehrt gilt aber auch, dass ‚das Sein nie west ohne das Seiende’. Das Nichts ist des Seins ‚abgründiges, aber noch unentfaltetes Wesen’. Ohne das Sein ‚bliebe alles Seiende in der Seinslosigkeit’ oder ‚Seinsverlassenheit“. – Wichtig wäre in diesem Zusammenhang zu klären, was das Sein hier meint. Was meint das Sein, wenn ohne es ‚alles Seiende in der Seinslosigkeit’ bleibt? Wenn ich „Sein“ als ein existentielles Grundempfinden deute, das als ethische Grundintuition in der selbstbewußten Person zu allem ethisch bewertend und umwertend in Beziehung steht (Liebe), kann ich hier schon einen Schritt weit mitgehen. Auch die Behauptung: „Das Nichts ist des Seins ‚abgründiges, aber noch unentfaltetes Wesen’.“, - wäre für mich zum einen akzeptabel, wenn die Wortgruppe „... ‚abgründiges, aber noch unentfaltetes Wesen’“ durch die Wortgruppe „unergründliches und noch unentfaltetes Wesen“ ersetzt werden würde. Zum anderen will ich wissen, durch welches Wort das „unentfaltete Wesen“ des Nichts noch deutlicher charakterisiert werden kann; hier ziehe ich vor allem das Wort „Freiheit“ in Betracht, das durch semantisch ähnliche Attribute wie „unergründliche“, „irrationale“ (Berdjajew) oder auch „unentfaltete“ näher bestimmt werden muß. Das Wort „Freiheit“ ist auf das Nichts bezogen ein metaphysischer Begriff, auch das Wort „Feuer“ steht in einem begrifflichen Verhältnis zum Nichts, auch wenn wir eine symbolische Verdeutlichung mit diesen Begriffen anstreben, - denn das Nichts an sich ist nichts existentiell Erfahrbares. Aber insbesondere das in diesem Fall als Begriff verwendete Wort „Freiheit“ stellt als existentiell erfahrbares Wortsymbole die im Gottmenschen sich ereignende Konkretisierung eines transzendenten Prinzips dar, das schöpferisch aus dem unergründlichen Nichts hervortritt. Die schöpferische, d. h. gottmenschliche Freiheit ist eine im Menschen auftretende unermeßliche und fortwährend neuartig belebende Ur-Realität. (Das Nichts ist der Urquell des Schöpferischen, aber noch nicht schöpferisch an sich und in sich.) Aus diesem Grunde und in Verbindung mit unserem logischen Denkvermögen gehört insbesondere das Wort „Freiheit“ (neben anderen) zu den wahrhaften Wortsymbolen, das auf die grenzenlose Potentialität des Unergründlichen als unermeßliche Möglichkeit von Neuzuschaffenden begrifflich hinweisen kann. (Auch das Böse wird geschaffen, auch das Böse in uns bedient sich des schöpferischen, des gottmenschlichen Moments und pervertiert es dabei.) Das Wort „Freiheit“ ist auf das Nichts angewendet ein metaphysischer Grenzbegriff und weist als Wortsymbol auf die Verwirklichung des Nichts als Freiheit in uns symbolisch hin.

 

Folgende von Ihnen zitierte Behauptung von Adrienne von Speyr (A. von Speyr, Das Wort wird Fleisch) – so sage ich - ist ausnahmslos spekulativ: „Wenn ein Mensch irdisch gesehen stirbt, so lebt er in Gott als dem ewigen Leben weiter...“. – Woher weiß sie denn, was nach dem irdischen bzw. organischen Tod eines Menschen in geistiger Hinsicht passiert? Diese Erfahrung wird uns erst zuteil, wenn unser Körper seine Lebensfunktion verliert. Doch nach meiner festen Überzeugung und meiner persönlichen Ganzheitserfahrung als Mensch glaube ich nicht an das „ewige Leben“ nach dem irdischen Tod. Dies wäre nur Trost für das Unvermeidliche. Ich glaube an das ewige Leben jetzt unmittelbar. Denn das ewige Leben ist für mich das wahrhaft geistige und gegenwärtig konkrete Leben aus der Ewigkeit und nicht die Ewigkeit. Die Wahrheit wäre nicht einzigartig, würde das ewige Leben auch ohne unsere Ganzheit als physisch-seelisch-geistige Einheit endlos fortdauern. Gerade durch unsere Zeitlichkeit und Begrenztheit können wir zum ewigen Leben erwachen. Das ewige Leben ist keine endlos monotone Dauer, es ist ewig von der unergründlichen Ewigkeit her und offenbart sich einzigartig erst nach und über der Zeit als gottmenschliche Wahrheit. Bedingt zustimmen könnte ich A. von Speyr im Folgenden: „Weltlich gesehen entsteht durch den Tod eines Menschen in seinem Freundeskreis, bei denen, die ihn lieben, eine Leere. Aber diese Leere schafft in den Herzen Platz für Gott“ – wenn Gott hier nicht als etwas Absolutes und Herrschaftliches angesehen werden würde, sondern als ein Geliebter, ein anderer, mit dem ich mich gemeinsam zur Wahrheit der Liebe erheben kann und den Tod eines mir nahen Menschen auf diese Weise schöpferisch-transzendierend überwinde. In der Liebe zu Gott realisiere ich die Widerauferstehung aller geliebten Wesen. Die authentische Liebe zum Geliebten (Mensch und Gott zugleich) ist immer auch ein eschatologischer Ausblick als Wahrheit. Die Leere ist in der Tat ein existentielles Moment der Resignation, die uns überfällt, wenn wir einen nahen Geliebten verlieren. Aber die Leere ist nicht der Platz Gottes. Gott offenbart sich erst im Durchbruch durch diese Leere und ist Fülle und Ganzheit. Man kann nämlich genauso gut sagen, das die Leere, die entsteht, Platz für das Böse schafft – und auch hierfür gibt es genügend Beispiele. Ich sage, die Leere ist zunächst einmal leer und eröffnet alle Möglichkeiten, die jedoch realisiert werden müssen. Aber diese Leere, von der ich hier spreche, setze ich nicht gleich mit dem Nichts, aus welchem letztlich und ursprünglich geschöpft werden kann, daß aber in sich nicht schöpferisch im Sinne einer evolutionär begrenzten oder einer gottmenschlichen Schöpferkraft ist. Im Nichts befindet sich jegliche Schöpferkraft im unentfalteten und unergründlichen Stadium. Die Leere im Menschen ist vor allem eine seelische und zeitweilige Verfassung.

 

Teilweise Problematisch und ungenau ist, was M. Picard, von Ihnen zitiert (Picard, Der Mensch und das Wort), verlautbaren läßt: „Gott hat sich durch das Wort für den Menschen entschieden, ehe der Mensch sich selber entscheiden konnte. Die Entscheidung ist in die Struktur der Welt eingewoben. Die Freiheit ist dem Menschen vorgegeben, dadurch vermag er überhaupt erst, seinen eigenen Akt der Freiheit zu leisten. Durch diese vorgegebene Freiheit wird der Mensch erst frei, nicht durch sich selber. Das Wort selber bringt in sich schon Freiheit mit, da im Wort für den Menschen entschieden wurde. Eine Bewegung zum Akt der Freiheit ist von vornherein im Wort. Das Wort rührt an das Uranfängliche, in dem für ihn entschieden worden ist.“ – Richtig ist, daß Gott sich durch das „Wort“ (ich verstehe das „Wort“ hier als Idee bzw. Sinn) für den Menschen entschieden hat. Aber widersprüchlich dazu und falsch ist die Formulierung, daß „... im Wort für den Menschen entschieden wurde.“ – Auch die Formulierung „vorgegebene Freiheit“ sehe ich als falsch an, denn die Freiheit ist wesenhaft menschlich, ist ein menschlicher Wesenszug. Der Mensch entscheidet sich frei, nicht durch eine „vorgegebene Freiheit“. Der Mensch muß die Freiheit gebrauchen, um in jederlei Hinsicht handeln zu können. Aber er kann sich auch der Freiheit des Gewissens (das überzeitlich und nicht vorzeitlich ist) widersetzen, auch diese Freiheit hat er. Damit meine ich, daß das uranfängliche „Wort“ in sich eben nicht schon die geläuterte Freiheit enthält, die sich in der gottmenschlichen Wahrheit offenbart. Das „Wort“ muß im Wechselverhältnis mit der Freiheit dialektisch und dialogisch verwirklicht werden, und dafür ist auch Zeit (Geschichte) vonnöten. Absolut Ursprünglich und Uranfänglich ist die Freiheit, durch sie tritt wesenhaft die Dynamik hervor, die vom „Wort“ bzw. von der Idee gesucht und zum Gottmenschen hin und von ihm gelichtet werden muß, soll das „Wort“ wahr werden. Die Interpretation der Gedanken M. Picards, so, wie sie sich hier in der Kürze darstellen, scheint mir angesichts der auch oben benannten widersprüchlichen Äußerungen nicht ganz einfach zu sein, zumal in seinen Gedanken vom existentialistischen Standpunkt aus immer wieder Wahrheitsmomente durchschimmern, das trifft insbesondere auch für das Zitat 46 (beginnend mit: „Die Sprache ist deutlich...“, und endend mit: „Dieses Nichtzubenennende ist das Immanent-Transzendente“; Picard, Der Mensch und das Wort) zu. Aber die Aussage, daß das „... Licht Freude des Objekts (ist), beim Wort zu sein“, – ist ebenfalls reine spekulative Metaphysik. Gerade diese Aussage verfälscht das ganze Zitat 46. Freude kann sich nur im personal-ganzheitlichen Subjekt offenbaren. Und die Sprache ist nicht an sich schon Geheimnis, sondern wird erst Geheimnis durch uns und in uns, da wir vor allem als Menschen eben auch Sprache sind im weitesten Sinne. Wenn Sie nun sagen: „Gerade weil das Wort am Anfang bei Gott war, muss es unter diesem Aspekt der Ewigkeit die Fülle der Unendlichkeit bzw. der Unabgeschlossenheit in sich tragen“ – so verneint diese Feststellung, wie mehrmals von mir schon dargelegt, die umfassende Geschichte des „Wortes“, wodurch erst Fülle als ein überzeitlicher Prozeß realisiert werden kann. Das „Wort“ erhält erst im gottmenschlichen Dialog seine sich fortwährend erweiternde wahrhafte Dynamik und Veränderung, obwohl es wesenhaft ein immer wiedererkennbares „Wort“ bleibt. Das ist das grundlegende Paradoxon der Wahrheit, welches die sich realisierende Persönlichkeit erfährt. Sie zitieren abermals A. von Speyr (Speyr, Das Wort wird Fleisch): „Weil das Wort im Ursprung ist und alles im Wort geschaffen ist...“. – Dieser Ansatz ist vom Grunde her falsch, denn nicht alles ist im ursprünglichen „Wort“ geschaffen, sondern das „Wort“ bedarf der Realisierung, um bewußt wahrgenommen werden zu können als offenes und im ewigen Sinne fortwährend zu schaffendes „Wort“. Und im Ursprung ist das „Wort“ eingefaltet in die unergründliche Potenz, ist es eingefaltet in die uranfängliche Freiheit, d. h. in die uranfängliche Möglichkeit von allem. Erst mit dem Hindurchbrechen der Freiheit ins Sein wird Gott (zunächst als Logos) das „Ja“ zum Schaffen gegeben. Mit anderen Worten, Gott tritt erst auf den Plan, wenn sich die unergründliche Gottheit in die Welt hinein differenziert und sich das dialektische Zusammenwirken von Freiheit und Sinn („Wort“) ereignen kann. In diesem Zusammenwirken, welches Zeit einschließt, wird auch das „Wort“ erweitert und vertieft.

 

Sie führen nun zur Problematik des „Unbekannten vom Bekannten“ Folgendes aus und zitieren dazu Nishitani (Nishitani, Was ist Religion?): „Wenn wir soeben von der Unabgeschlossenheit des Wortes gesprochen habe, so gilt es in noch viel größerem Maße, vom Unbekannten des Bekannten zu reden. Längst nicht alles, was uns bekannt zu sein scheint, ist von uns auch erkannt worden. Darauf hat ebenfalls mit G. W. F. Hegel auch K. Nishitani hingewiesen, den wir hier zusammenfassend referieren. Gehen wir einmal davon aus, Familienangehörige oder Freunde seien uns aufs engste verbunden. ‚Aber kennen wir denn selbst die vertrautesten Menschen in ihrem Wesen?’ Wir müssen uns selbstkritisch eingestehen, dass selbst zwischen den nächsten Freunden stets etwas Unverstehbares bleibt. Der Grund liegt darin, dass wir uns eingestehen müssen, ‚dass uns noch nicht einmal das Innerste unseres eigenen Herzens, noch unser eigener Charakter selbst hinlänglich bekannt sind . . . Wir wissen so wenig, woher unser vertrautester Freund kommt und wohin er geht, wie wir wissen, woher wir selber kommen und wohin wir gehen. Wir haben keinerlei Kenntnis davon, wo der Mensch, der uns in diesem Augenblick vor Augen steht, in seinem Wesen bei sich selbst ist. Er ist ursprünglich und wesenhaft für uns ein Unbekannter’49). Zwar kennen wir die Menschen und die Dinge, mit denen wir uns umgeben, dem Namen nach. Dennoch bleiben sie uns, auch wenn wir sie mit Namen kennen, ihrem Wesen nach unbekannt, bleiben sie namenlos, unbenennbar und unerkennbar. Die uns umgebende Welt der alltäglichen Dinge ist uns oft zu vertraut; dass wir ‚das Wesen der Dinge über unsere Beschäftigung mit ihnen vergessen’ (Nishitani S. 176). So trennt uns ein Abgrund selbst von dem, was uns am allervertrautesten ist. Wir können uns nur dort wesenhaft begegnen; ‚wo unser eigenes Sein wie das, dem wir begegnen, seinen Ursprung hat . . . wo jedes sein eigenes Selbst wahrhaft lebt. Hier können sich alle Seienden in einer Gleichheit jenseits der Unterscheidung von Gunst und Feindseligkeit, von Hass und Liebe begegnen’ (Nishitani S. 177).“ – Zur Problematik des „Unbekannten vom Bekannten“ hatte ich schon weiter oben meine Ansicht geäußert. In der eben zitierten Aussage bringen Sie Ihre Sicht noch einmal auf den Punkt. Ich denke und wiederhole noch einmal meine Sicht, daß das „Unbekannte“, welches den Sinn aller Erscheinungen ausmacht, nicht etwas Unbekanntes als etwas nicht Gewußtes im Sinne objektivierter Erkenntnis ist. Objektivierte Erkenntnis ist begrenzte Erkenntnis. Niemals können wir in objektivierender Weise den Menschen in seiner oder gar die ganze Welt in ihrer äußeren Vielfalt erfassen bzw. kennen. In dieser Hinsicht wird uns das meiste verborgen und unbekannt bleiben. Aber die Rede ist ja vom „Unbekannten“ hinter den Dingen und den dinglichen Erscheinungen. Ich denke, daß das Wort „das Unbekannte“ auf das Wesen unserer Existenz bezogen, dieses Wesen verfälschend wiedergibt. Denn das „Unbekannte“ als unser innerster Wesenskern ist in seiner Realisation in keiner Weise unbekannt, sondern vor allem mystisch, geheimnisvoll. Wir können dieses Geheimnisvolle unseres Wesenskerns nicht unverfälscht definieren, aber wir können es ganzheitlich-wahrhaftig erleben. Es ist ein Geheimnis, das sich in uns offen zu erkennen gibt, wenn wir uns diesem wahrhaft frei zuwenden. Das offene Geheimnis sehe ich in der Liebe offenbart. Die Liebe ist kein Wunder, sondern die offen erfahrbare Wahrheit. Wenn Nishitani sagt: „...dass uns noch nicht einmal das Innerste unseres eigenen Herzens, noch unser eigener Charakter selbst hinlänglich bekannt sind...“, - so widerspreche ich und sage, daß uns gerade das Innerste unseres eigenen Herzens, welches wesenhaft mit dem eigenen Charakter verbunden ist, einzig wahrhaft bekannt sein kann und dies in einer ganz anderen Weise, als uns die äußere Welt bekannt ist. Weiterhin sagt Nishitani: „Wir haben keinerlei Kenntnis davon, wo der Mensch, der uns in diesem Augenblick vor Augen steht, in seinem Wesen bei sich selbst ist. Er ist ursprünglich und wesenhaft für uns ein Unbekannter.“ – Dies sagt Nishitani in Blickrichtung einer völlig spekulativ herbeigedachten „Leere“: „“. . . dass nur in der Leere die Dinge in ihrer eigenen Realität erschlossen werden“. - D. h., wenn das Wesenhafte des Menschen die „Leere“ ist als das wesenhaft „Unbekannte“, wird der Mensch zu einem unerschließbaren Wesen degradiert. Wir stehen uns alle fremd gegenüber, es sei denn, wir identifizieren uns in bzw. mit der „Leere“. Doch ich bin auch sehr im Zweifel darüber, ob die „Leere“ als das „Unbekannte“ durch irgendwelche Meditationstechniken erfahrbar, geschweige denn erkennbar ist. Die Erfahrung meines Lebens sagt mir, daß ich in der Liebe einem Menschen sehr wohl wesenhaft begegnen kann und gerade in dieser Erfahrung treffe ich mich mit der Philosophie Berdjajews. Ich möchte behaupten, daß wir uns wesenhaft immer für den geliebten Menschen entscheiden werden und nicht für ein blindes Vertrauen auf eine spekulative „Leere“. Am wichtigsten ist uns der andere Geliebte. Die spekulative „Leere“ trägt für mich Ersatzcharakter. Hinsichtlich einer „Begegnung“ in der „Leere“ sagen Sie: “Dennoch ist zu berücksichtigen, dass ‚Begegnung’ noch nicht beinhaltet, dass die sich Begegnenden sowohl absolut geschieden als auch absolut vereint sind – oder wie Nishitani sagt: sie sind absolut selbst-identisch. Im ‚selbst’ sind sie absolut zwei, im ‚identisch’ absolut eins.“ – Wenn „Identität“ als das Wesenhafteste proklamiert wird, gelangen wir geradewegs in eine Art Gottheitsmonismus, den Berdjajew nicht akzeptierte und kritisierte (Siehe auch „Berdjajew kontra Wilber“, Teil 5. Ich zitiere dort Berdjajew zum Gottheitsmonismus [Geist und Wirklichkeit, Heliand Verlag Lüneburg, 1949, S. 152, Kapitel: Die Mystik, Ihre Widersprüche und ihre Ergebnisse]: „Die Mystik kann zwei Tendenzen haben: die Vergöttlichung des Kosmos oder die Vernichtung des Kosmos, die Vergöttlichung des Menschen oder die Vernichtung des Menschen. Diese entgegengesetzten Tendenzen können sich überschneiden. Wenn Mensch und Kosmos in einem Gottheitsmonismus vermengt und identifiziert werden, kann man ebensogut sagen: sie werden vergöttlicht, als auch: sie werden vernichtet. Der Monismus leugnet das Mysterium des Gottmenschentums, die Zwei-Einheit, die sich nur im Christentum vollkommen enthüllt. Das Christentum vereint durch seinen Personbegriff Monismus und Pluralismus, und nur eine Mystik der Liebe bringt diese Einheit zum Ausdruck. Es kann keine Liebe ohne Person geben, die Liebe geht von Person zu Person. Die personalistische Einstellung ist vor allem ethisch, die kosmische vor allem ästhetisch.“ – Hiermit stimme ich voll und ganz überein.) Ich denke, wir kennen „die vertrautesten Menschen in ihrem Wesen“, weil wir uns in sie persönlich und wesenhaft einfühlen können, weil wir sie liebend, im personalistisch-gemeinschaftlichen Sinne, dynamisch und in ihrer Offenheit und Unabgeschlossenheit erschließen können. Übrigens ist die Gegenüberstellung von Haß und Liebe, wie dies von Nishitani vorgenommen wird, nicht zutreffend, gegenüber stehen sich Haß und Mitleid. [An dieser Stelle ist eine kleine Korrektur meinerseits angebracht: Natürlich stehen sich im Leben Haß und Liebe gegenüber, jedoch ist dies schon ein sekundäres Gegensatzpaar; der Haß ist allerdings in paradoxer Weise eng mit der Liebe und gar nicht mit dem Mitleid verwoben. Grundsätzlicher ist der Haß eine zur Destruktivität neigende, äußerst zwiespältige Mischung aus Liebe und Tod, die das ursprünglichere Gegensatzpaar im Verhältnis zu Haß und Liebe und Haß und Mitleid darstellt. - Dirk Hübner, 20.12.2004] Ich kann jemanden Hassen, weil er meine Liebe getötet hat. Die Motivation für diesen Haß kommt von der Liebe. Wer haßt, kann also aus Liebe hassen. Ich kann diese Welt hassen, weil sie mich in meiner und meine Liebe nicht duldet. Aber aus Mitleid kann ich nicht hassen. Entweder ich bin mitleidig oder hasse, aber grundlegender ist die Liebe, die beides motiviert. Haß ist grundsätzlich negativ gefärbt und defizitär, d. h. ihm mangelt es an Liebe und Einfühlungsvermögen. Das Wortsymbol „Liebe“ weist auf etwas Umfassenderes hin; die Liebe wirkt umfassend in die Welt hinein und äußert sich unter anderem sowohl im Haß als auch im Mitleid. Aber der vom Haß zerfressene Mensch verbittert, weil der permanente Haß letztlich seine Liebe untergräbt, für die er haßt. Haß ist keine angemessene schöpferische Antwort auf den Ruf Gottes, keine Wiederauferstehung des Geliebten im Liebenden. Zu unterscheiden wäre hier auch zwischen Zorn und Haß; der Zorn ist momentan und ist konkret auf sinnvolle Veränderung ausgerichtet, der Haß ist tendenziell anhaltend und besessen und zerstörerisch. Der Zorn urteilt differenziert, der Haß verurteilt blind.

 

Unter Einschluß eines weiteren Zitates von Nishitani kommen sie zur folgenden Feststellung: „... ‚Auf dem Feld des nihilum [der Leere], wo die Dinge als Objekte ihrer äußeren Realität beraubt werden, werden sie diesen vorstellungshaften Charakter los und offenbaren sich in ihrer je eigenen Realität’. Hält man sich diese Überlegungen Nishitanis vor Augen, so mag auch eher einleuchten, warum Berdjajew sich gegen die Objektivierung des Geistes wandte und stets die Subjekt-Objekt-Spaltung zu überwinden trachtete, obwohl er ihr als Anhänger Kants dennoch verhaftet blieb, freilich den Schritt zu der von ihm abgelehnten ‚monistischen’ Position Hegels nicht tun konnte, weil er hier als ‚Personalist’ die Person in der Allgemeinheit des Weltgeistes untergehen sah, ohne die wahrhaft komplizierte dialektische Verhältnisbestimmung Hegels durchschauen zu können.“ – (Zu Hegel komme ich gleich noch, wenn ich auf Ihre Zitate von Iwan Iljin eingehen werde. Aber nur soviel vorne weg: Ich habe den Eindruck, daß Berdjajew bei seiner Hegel-Rezeption, soweit ich das auch mit den verschiedensten Zitaten von Ihrer Seite vergleichen konnte, sehr einleuchtende und differenzierte Argumente hervorbringen konnte.) Gegen die „Objektivierung des Geistes wandte“ sich Berdjajew gar nicht im absoluten Sinne. Ihre Feststellung wird seinem Denken in dieser Hinsicht nicht gerecht. Berdjajew – wie ich weiter oben schon anmerkte – erkannte die positive Bedeutung der objektivierenden Erkenntnisweise an, so z. B. in der Wissenschaft. Aber Berdjajew sah eben auch den gefallenen, starren Charakter jeder Form der Objektivierung, die den Geist fesselt. Berdjajew blieb nicht der Subjekt-Objekt-Spaltung verhaftet, sondern kannte ihre Unvermeidlichkeit in diesem Leben an und befürwortete auch ihren Sinn als eine notwendige Vorbedingung geistigen Lebens. Seine Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung geht in eine völlig andere Richtung (personale Liebe, religiös-ethische Orientierung). Es ist also nicht richtig, Berdjajew mit einem ihm völlig entgegensetzten Nichts-Metaphysiker einleuchtender machen zu wollen. Beide Standpunkte sind in ihrer Ausrichtung miteinander unvereinbar.

 

Sie haben zuvor und im weiteren Verlauf Ihrer Auseinandersetzung sehr schöne Zitate von Berdjajew eingefügt, die ein paar wesentliche Gedanken von ihm zum Ausdruck bringen. Unter anderem diese Zitate, aber auch sein gesamtes Werk, empfinde ich nicht so, wie Sie resümierend festhalten: „N. Berdjajew war in einer gewissen, gnostischen bestimmten Einseitigkeit weniger der Natur und solchen universalistischen Gedanken, sondern eher oder besser: primär dem Geist zugewandt.“ – N. Berdjajew war der Ganzheit der Person (Körper, Seele, Geist) zugewandt, die alles konkret-ganzheitlich in sich umschließen kann. Er hat von der Gemeinschaft gesprochen, die sich über den Menschen in Verbund mit Gott bis hin zu den einfachsten Mineralien erstrecken kann. Liebevoll erwähnte er seine Haustiere, denen er Persönlichkeit zugestand. Aber er war nicht in der Weise der Natur oder dem Kosmos zugewandt, daß er sich in die Natur oder den Kosmos hinein auflösen wollte, daß er durch eine Art „Leerheits-Meditation“ eins werden wollte mit der Vielfalt des Universums. Denn er hat die einzig mögliche Wahrheit in der Realisierung der Persönlichkeit gesehen als eine gemeinschaftliche Verwirklichung von Fülle und Ganzheit. Und ich kann von meinen Erfahrungen und meinem Wollen ausgehend nicht umhin, Berdjajew grundsätzlich zuzustimmen. Vor allem in Berdjajews Philosophie fand ich die Bestätigung für mein Freiheitsstreben, fern der unschöpferischen und willenlosen und unethischen Hingabe an einen resignierenden, fremdbestimmten Zustand. Erlösung ist für mich ein Moment, ein wichtiger, aber dieser muß unmittelbar zum schöpferischen Aufschwung überleiten, damit ich wahrhafter Mensch werden kann, damit ich lieben kann. Und ich denke weiterhin, man kann Berdjajew nicht besser verstehen, wie Sie es möchten, sondern man muß ihn, auch entsprechend der neueren geschichtlichen Ereignisse, schöpferisch immer wieder neu und vertiefend in sich aufnehmen. Aber dazu ist es nötig, sich zunächst einmal seinem existentialistischen Ansatz authentisch nähern zu wollen, und dieser eröffnet sich meines Erachtens in keiner Weise über eine spekulative Metaphysik (z. B. Nishitani). Und meine „eigene Identität“ erfahre ich erst dann, wenn ich mich im Verbund mit Gott und in der Gemeinschaft im weitesten Sinne als etwas Besonderes, Einzigartiges und Ganzes wahrnehme. Außerhalb dieser besonderen Identität, in einer unterschiedslosen „Leere“ als das „Unbekannte“, kann es gar keine Identität geben. Mit wem, mit was oder in welcher Hinsicht denn auch? Identität muß verwirklicht werden. Identität ist „ die als ‚Selbst’ erlebte innere Einheit der Person“ (Duden, Das Fremdwörterbuch). Und die „Überwindung des Subjekt-Objekt-Denkens“ in Richtung ihrer Identität kann nur spekulativ-metaphysisch vorgenommen werden. Die wahre Überwindung ist ein fortwährendes Heraustreten aus dieser Spaltung in eine gottmenschliche Subjekt-Subjekt-Beziehung, die Berdjajew als Zwei-Einheit bezeichnet hat. In dieser Zwei-Einheit ist die Dreifaltigkeit lebendig. In und durch diese Dreifaltigkeit wird alles, die ganze Welt, vergeistigt, d. h. verschönt. Doch angesichts des permanenten Widerstands einer zur Bewegungslosigkeit tendierenden Welt der Objekte, bedarf es unserer schöpferischen Anstrengung, diese Tendenz, solange wir leben, fortwährend zu durchbrechen.

 

Sie schreiben nun in bezug auf die „ungewöhnliche Hegel-Interpretation Iwan Iljin(s)“: „Ist beim formalen Denken stets noch eine Entzweiung vorhanden und das Denken vom Gegenstand vollständig getrennt, sind Subjekt und Objekt, Denkakt und gedachter Inhalt auseinander, werden Denken und Begriff nie identisch und wird das Subjekt nicht vom Objekt absorbiert, so sieht I. Iljin bei Hegels neuem Erkenntnisvollzug im spekulativen Denken, dass sich das anschauende Denken vollständig vom Sinnlichen und Empirisch-Konkreten gelöst hat, um sich nun von den Begriffen, die lebendige Wesenheiten sind, durchdringen zu lassen. Diese Identität ist es nun, welche nach Hegel das Prinzip und das Wesen jeder wahren philosophischen Spekulation ausmacht...“. – Entsprechend meiner oben vorgenommenen Begriffsdefinition halte ich es für unmöglich, daß Begriffe an sich „lebendige Wesenheiten“ sind. Im Höchstfall vermitteln Begriffe Inhalte, die jedoch erst in der und durch die Person realisiert und lebendig werden. Und die Person agiert ganzheitlich-existentiell, d. h. dies schließt Emotionen und Gefühle ein, die durch die immer ganzheitlich denkende und selbstbewußte Person bei der geistigen Arbeit mit dem Begriff in den schöpferischen Denkakt einfließen. Der Begriff wird erst in der Person als eine Ganzheit zu dem, was er leisten kann, und kann von dieser Person nicht getrennt werden. Und nur die Person besitzt Selbstidentität und nicht der Begriff. Die Person kann niemals zum Begriff werden, mit diesem identisch, weil vom Begriff an sich nichts ausgeht, wenn die transzendentale Person ihn nicht mit Inhalt, mit Sinn anfüllt. Mittels Begriffe, die einer genauen und eindeutigen Definition unterliegen und deshalb keine Wortsymbole darstellen, läßt sich die Subjekt-Objekt-Spaltung nicht existentiell, sondern nur spekulativ-metaphysisch überwinden, doch dieses Überwinden ist kein wahrhaftes. Nur sehr unvollkommen und widersprüchlich lassen sich innerlich-geistige Prozesse mit Begriffen beschreiben und schon gar nicht durch Begriffe erleben. Aber auch die Beschreibung mit Wortsymbolen ist noch keine Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung, aber erst mittels der Wortsymbole läßt sich das wahrhaft ausdrücken und auf das wahrhaft hinweisen, was existentiell in uns passiert – nicht mit Begriffen. Und das, was in uns existentiell passiert, ist weder Symbol noch Begriff an sich, sondern ganzheitliches reales Leben. Hinsichtlich der „kontemplative(n) Tendenz in Hegels Schau-Denken“ zitieren Sie nun Iljin (Iwan Iljin, Die Philosophie Hegels als kontemplative Gotteslehre, Bern 1946): „Das Bewusstsein übergibt sich dem Gegenstand, es gibt sich hin, es verbleibt in ihm; es vertieft sich in ihn dermaßen, dass der Gegenstand dadurch sein eigen wird; noch mehr, das Bewusstsein ‚vergisst sich in der Sache’ und verliert sich in diesem ‚unbewussten’ Hinein-Denken in das Wesen des Begriffes. Die Seele muss gleichsam den Atem zurückhalten und dem Gegenstand die Macht über sich und in sich übergeben, dass er sie beherrsche und bewege, und zwar nach seinen, ihm eigenen Gesetzen; sie darf nichts von ihrer menschlichen Existenz hineintragen, sie darf den Gegenstand in seiner Selbständigkeit nicht stören oder entstellen. Das Bewusstsein des Menschen muss sich also im Gegenstande auflösen und zwar bis zum Selbstvergessen. Noch mehr: dieses Selbstvergessen muss so vollständig werden, dass der Mensch auch gänzlich vergisst, dass er aus methodologischen Zweckmässigkeits-Erwägungen, - um der Erkenntnis willen, - ein Selbstvergessen überhaupt vorgenommen hat. Damit wird das menschliche Bewusstsein in einem gewissen Sinne erledigt und unschädlich gemacht.“ – Das Wesen des Begriffs liegt in der Person. Die Person ist immer selbstbewußte Person, da sie ansonsten aufhört, zu existieren. Wenn wir uns gänzlich und absolut dem Gegenstand unserer Betrachtung unterwerfen würden („und zwar nach seinen, ihm eigenen Gesetzen“), müßten wir gänzlich sterben – auch physisch. Zu solch einem völligen Auflösen war nicht einmal Hegel in der Lage. Und gestorben stellt niemand mehr Betrachtungen an. So gesehen unterlag Hegel einer Illusion, wenn er meinte, daß sich Erkenntnis als „absoluter Geist“ realisieren lasse, der jeder menschlichen bzw. persönlichen Eigenart entbehre. Berdjajew hatte Recht und durchschaute das sehr wohl. Weiterhin zitieren Sie Iljin (Iwan Iljin, Die Philosophie Hegels): „... Hegel, sowie auch Kant, hält die sinnliche Subjektivität für ein Hindernis und gewissermaßen für eine Entstellung: was ‚subjektiv’ ist, ist eben damit nicht ‚absolut’. Dieses Hindernis kann aber, nach Hegel, beseitigt werden und die Entstellung kann und soll vermieden werden; allerdings – nicht in der äußeren Erfahrung, aber in der inneren; und zwar nicht im Bereiche der ‚Gefühle’, der ‚Anschauungen’ und ‚Empfindungen’, sondern in der Sphäre des Denkens.“ – Die „Sphäre des Denkens“ wird aber auch emotional und gefühlsmäßig gefärbt sein. Auch das Denken existiert nur ganzheitlich im personalen Verbund, in der personalen Einheit bzw. Ganzheit. Und gerade deshalb ist die Behauptung eines „absoluten Geistes“ metaphysische Konstruktion und in ethischer Hinsicht völlig belanglos und nichtssagend und nichtsbewirkend, - mit einem Wort - sinnlos. Die Behauptung, das der sogenannte „absolute Geist“ als eine wahrnehmbare höchste Realität sich ereignen kann, resultiert aus einer sekundären Uminterpretation existentieller Ereignisse, die von der denkenden Person provoziert werden. Unklar ist auch, was Iljin im Folgenden sagt (Iwan Iljin, Die Philosophie Hegels): „Das Gefühl ist immer ‚etwas Einzelnes’, einen einzelnen Moment dauerndes und einem einzelnen empirischen Subjekte gehörendes...“. - Das Gefühl ist immer personales Gefühl, es wird also immer auch von einem universellen Gehalt mitgetragen, der von der Liebe herrührt. Das Gefühl kann von der Liebe vollkommen durchdrungen sein, in diesem Falle ist es nicht mehr nur sinnliches, sondern vor allem höchstes Liebesgefühl. Wer diese letztere Leidenschaft als hinderlich für die Erkenntnis bezeichnet, der verschließt sich der Wahrheit in ihrer gemeinschaftlichen Umfassendheit. Wenn Iljin weiterhin pauschal von „subjektiver Willkür“ spricht, so müßte er hier erklären, in welchem Sinne er das Wort „subjektiv“ verwendet. Auch hier fehlt die Klarheit. Denn subjektiv ist auch die Offenbarung der Wahrheit. Aber diese ist nicht subjektiv im Sinne einer Wahrnehmung egozentrischer Subjektabgeschlossenheit, die nur ihre eigene „Wahrheit“ kennt, sondern subjektiv im Sinne eines geistigen Prozesses, der nun einmal nicht primär „objektiv“, - oder korrekter ausgedrückt- objektivierend ablaufen kann. Weiterhin sagt Iljin (Iwan Iljin, Die Philosophie Hegels): „Demzufolge fordert die Erkenntnis des Absoluten, des metaphysischen Wesens – eine völlige Beziehungslosigkeit zum menschlichen und Subjektiven.“ – Und dagegen vor allem hat sich auch Berdjajew gewandt – mit Recht, denn diese „Erkenntnis des Absoluten“ übergeht die ethische Dimension des Menschlichen und führt unter anderem auch in die „Oberflächlichkeit“, die Iljin eigentlich vermeiden will. Aber schwerwiegender ist die bösartige, zerstörerische Tendenz, die sich unweigerlich beim Versuch einer „Erkenntnis des Absoluten“ ergeben muß. Das authentisch Persönliche des Menschen, seine Wahrhaftigkeit, d. h. sein Gewissen, werden dem Absoluten geopfert. Die Behauptung Iljins, daß das „... menschliche Subjekt als solches...“ nicht mehr besteht, „es ist von dem Objekte absorbiert“, - verkennt die Erfahrung des Gottmenschlichen, der Subjekt-Subjekt-Beziehung, von der Berdjajew gesprochen hat und die er meinte. Wenn Iljin aber sagt: „...das Subjekt lauscht gleichsam der Stimme des Gegenstandes...“, so kann man diese Aussage auch dahingehend deuten, daß das Subjekt eben nicht dem Gegenstand als ein Erkenntnis-Objekt lauscht, sondern der Stimme als das Wesenhafte in uns, welche sich eben nur subjektiv offenbaren kann. Hier herrscht auch bei Iljin viel Durcheinander. Sie sagen nun: „Wir können nicht vom Tode des Bewusstseins sprechen, wohl aber, indem es mit dem Gegenstand eins wird, von seiner Transformation. Im Bewusstsein entfaltet sich der Gegenstand schöpferisch, ohne dass es eine Entzweiung oder Spaltung der beiden Sphären von Bewusstsein und Absolutem mehr gibt. Der bewusste Gegenstand und das gegenständliche Bewusstsein sind miteinander verwachsen und miteinander identisch geworden.“ – Wenn Sie vom gegenständlichen Bewußtsein sprechen und dieses beschreiben, beziehen Sie sich meines Erachtens einfach nur auf die objektivierende Erkenntnisweise – auch wenn es sich um das spekulativ angenommene „Absolute“ als den Erkenntnisgegenstand handelt. Aber es ist eine Illusion, wenn man meint, den Erkenntnisgegenstand als ein Bewußtes an sich zu erfahren. Denn des Gegenstandes bewußt ist sich die Person. Wir übertragen dieses Bewußtsein auf den Gegenstand und meinen nun, er wäre derjenige, der in uns lebt, dabei leben wir existentiell immer nur vom Gottmenschlichen her, welches fortwährend aus dem Nichts heraus und nicht im Nichts geschaffen wird. Es ist das ungegenständliche Persönlichkeitsbewußtsein, welchem der Lebensfunke entspringt. Nur durch unsere schöpferische Zugabe kann sich in uns der Erkenntnisgegenstand entfalten und kann er verändert werden. Die Gott-Menschliche-Beziehung, als der primären, geht über die Subjekt-Objekt-Beziehung hinaus. Die „Identität von Subjekt und Objekt“ ist jenes spekulative Konstrukt, welches die menschliche Komponente verschwinden läßt. Diese Vorstellung einer „Identität“ ist auf das Leben bezogen völlig abwegig, und es kann alleinig aus dieser „Identität“ heraus rein gar nichts zur Komplexität des Lebens gesagt werden. Die persönliche Liebe wird als etwas Zweitrangiges herabgewürdigt und löst sich auf, sie hat für die Erkenntnis letztlich keine Bedeutung. Die Einheit von „Denken und Gedachtem“ ist nur eine rational gewollte Vorstellung von Realität, sie ist aber keine geistig wahrhaftige. Die Einheit von „Denken und Gedachtem“ als Absolutheitserkenntnis wird von den Denkern postuliert, die sich nicht eingestehen wollen und können, daß ihre weit überdurchschnittliche Fakten- und Wissensanhäufung, ihr überdurchschnittliches rationales Vermögen, welches sie ein Leben lang oft sehr hart trainiert haben, letztlich nicht ausschlaggebend für die wahrhafte Gotteserkenntnis ist. Ausschlaggebend ist die Liebe, ohne die jedes Denken und jedes Gedachte nicht existieren kann, auch wenn das Denken oder das Gedachte der Liebe widerspricht. Aber noch ausschlaggebender ist die Ganzheit von Liebe und Denken im Gottmenschen. Gänzlich liebloses und gefühlsloses Denken wäre rein mechanisches Denken. Der „Gedanke“ schaut sich nur dann selbst, wenn der „Gedanke“ im übertragenen Sinne für die ganzheitlich-gemeinschaftliche Persönlichkeit steht. Der Abgrund kann nur in der Persönlichkeit überwunden werden, und dies geschieht immer auch emotional. Und die Trennung von Subjekt und Objekt ist eben nur eine zeitweilige, ist nur Durchgang durch die irdische Vergänglichkeit, die Trennung existiert nicht in der Offenbarung der gottmenschlichen Wahrheit, weil die Wahrheit eine Liebesbeziehung zwischen Subjekten ist und Objekte an sich nicht geliebt werden können. Dies wußte Berdjajew, den „objektiven Idealismus“ (Hegel) weit hinter sich lassend, sehr genau. Wenn Erich Schmidt, von Ihnen zitiert, sagt (Erich Schmidt, Hegels System als Theologie, Berlin 1974): „Schon die Schöpfung der Welt bedeutet Offenbarung Gottes: Gott als Geist ist wesentlich, für ein Anderes zu sein, also sich zu offenbaren. Darum ist die Natur für den Menschen nicht nur diese unmittelbare äußerliche Welt, sondern eine Welt, worin der Mensch Gott erkennen kann“, - so wird hier keine „Brücke... (zu) der gott-menschlichen Begegnung im Sinne Berdjajews“ geschlagen. Denn für Berdjajew war die Neuschöpfung der Welt im Menschen eine gottmenschliche Offenbarung der Wahrheit (der Liebe). Für Berdjajew offenbart sich Gott, indem Er im dialektisch-dialogischen Zusammenwirken in der Person geistig wahr wird. Ohne personal-bewußte Wesen muß im Sinne von Angelus Silesius Gott „von Not den Geist aufgeben“. Die unbewußte Schöpfung der Welt war keine geistige im Sinne eines bewußten Aktes, es war grundsätzlich ein unbewußt-dialektisches Zusammenwirken von Freiheit und Logos. Gott offenbart sich im Menschen und nicht in der Natur; in der Natur wirkt er, partiell durch diese gefesselt, als Logos. Und der Mensch erkennt in der äußerlichen Welt den Logos, die Schönheit, weil im Menschen diese Schönheit schöpferisch im Zusammenwirken mit Gott als gottmenschliche Wahrheit offenbart wird. Und ich spekuliere hier nicht, sondern denke existentiell. Es ist also falsch, was Erich Schmidt im Folgenden zu sagen hat (Erich Schmidt, Hegels System als Theologie): „Es ist Gottes Geist, der im Menschen die Tiefen der Gottheit erkennt, der Hl. Geist.“ – Gerade dieser Satz erklärt eine Einseitigkeit, die Schmidt eigentlich vermeiden will. Der Hl. Geist ist die Wahrheit, die gottmenschlich und nicht nur göttlich ist und das irdische Moment mit einschließt. Und darauf baute Berdjajew seine personalistische Philosophie auf.

 

Mit freundlichen Grüßen

Dirk Hübner

Greifswald, 17.02.2002

 

 

Lieber Herr Hübner,

herzlichen Dank für die grosse Mühe, die Sie sich gemacht haben, meinen Beitrag aufmerksam und kritisch zu lesen. Wenn mir demnächst die Zeit bleibt, will ich mich gerne zu einigen der von Ihnen angesprochenen Kritikpunkten äussern. Dabei werde ich die sehr schwierige Problematik des "Nichts" bzw. grundsätzlich der asiatischen Sicht erst einmal beiseite lassen. Tatsache ist ja, dass wir beide Berdjajew vom Grundsatz her positiv gegenüberstehen - auch wenn ich heute, nach fast 30jähriger Beschäftigung mit diesem Thema, auf das ich 1973 stieß -  einiges bei ihm kritischer sehe als früher. Aber auch dies ist ein Entwicklungsprozess. Dazu finden Sie etwas in den Anmerkungen zu meinem zweiten Beitrag. 

Dieser Beitrag "Gedanken..." ist erst zur Hälfte bei der Community veröffentlicht worden. Sie können also mit einer Stellungnahme noch etwas warten.

Berdjajews Mangel ist nach wie vor, dass er - was er ja auch zugibt - nicht systematisch Dinge begründen kann, und insofern ist er kein Philosoph im strengsten Sinne des Wortes, sondern eher ein sehr anregender und aufrüttelnder spiritueller "Denker" oder "Religionsphilosoph",  so wie ihn auch J. Moltmann einmal bezeichnet hat. Wäre es nicht so, hätten wir uns die Mühe der Übersetzung nicht gemacht, damit er deutschen Lesern verfügbar wird. Dennoch heisst, einen Philosophen verstehen, auch stets über ihn hinausgehen, ihn korrigieren usw., soweit dies möglich ist. Dies ist philosophische Arbeit. Bei Berdjajew stehen wir noch am Anfang - auch mir geht es nicht anders.-

Vielleicht unterscheidet es uns etwas, dass ich - sozusagen als Einladung zum Gespräch auch innerhalb der Community - mich mehr auf  ausgewählte Texte verschiedener Autoren stütze - wenn auch zugegeben- auf solche, die keinesfalls mehr in den Rahmen christlicher Dogmatik hineinpassen (wie die asiatischen Denker). Aber eben zu diesem "freien" und ungebundenen Denken will ja die Philosophie und insbesondere auch Berdjajew ermutigen. Und ich sage das auch als Theologe, der im Laufe der letzten 10 Jahre von der Philosophie einiges gelernt hat. Insofern will ich demnächst versuchen, auch auf dieser Ebene meine Position hier und da noch klarer zu begründen. Aber ein sinnvolles Gespräch zur Sache kann bei gutem Willen stets nur hilfreich sein.

Mit guten Wünschen und Grüssen

Ihr Klaus Bambauer

(geschrieben am 18.02.2002)

 

 

Lieber Herr Bambauer,

danke vielmals auch für die schnelle Reaktion. Zu dieser noch ein paar Gedanken: Natürlich bedingt eine religiösphilosophische dynamische Darlegung in bezug auf das Leben  eine gewisse unsystematische Herangehensweise. Eine lebensnahe religiösphilosophische Darlegung ließe sich streng systematisch nicht realisieren. Ich denke, daß sowohl eine eher unsystematische, aber auch eine strenger systematische Arbeitsweise jeweils ihre Vor- und Nachteile haben. Aber Berdjajew hat in meinen Augen schon eine gute Mischung beider Arbeitsweisen zustande gebracht. Ein Optimum kann es da m. E. auch nicht geben. Und manchmal mag vielleicht eine strengere systematische Arbeitsweise angeraten sein, es kommt wohl immer ganz auf das Thema, aber auch auf die persönlichen Fähigkeiten und Eigenarten des Autors an. Mir persönlich liegt eine streng durchgeführte Systematik fern, da ich zu solch einer nicht in der Lage bin und meine existentiell-intuitive Rückbindung dabei auch verlorenginge. Vielleicht kommt mir gerade auch deshalb Berdjajews Stil entgegen. Ich sehe aber keinen Grund, weshalb man nur diejenigen Denker im strengen Sinne des Wortes als Philosophen bezeichnen kann oder darf, die alles systematisch begründen können. Ich würde provokativ sogar behaupten, daß Philosophie grundlegend über die systematische Begründung hinausgehen muß. Ich sage also, daß die Systematik in der Philosophie sekundär und Hilfsmittel ist. Aber ich denke auch, daß ein gänzlich unsystematisches Denken oder Philosophieren nicht möglich ist. Philosophie vereinigt (systematisches) Denken und (gefühlsmäßig-geistige) Intuition gleichermaßen.

 

In Ihrem Sinne hoffe ich weiterhin auf sinnvolle Gespräche

und grüße Sie herzlichst

Ihr Dirk Hübner

(geschrieben am 19.02.2002)

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