Meine Gedanken zu: "Die verlorene Ehre der
Arbeit" von Robert Kurz
(geschrieben an das ND im Sommer 99, zum Anknüpfen
siehe auch Lover 22. )
Mir gefiel der Beitrag von Robert Kurz "Die verlorene
Ehre der Arbeit" ausgezeichnet. Daran anzuknüpfen ist eine Freude für
mich! Daran anknüpfend stelle ich die Frage:
Wofür, weshalb leben wir überhaupt?! Kann es ein Leben geben,
das auf der Selbstverwirklichung des Menschen gegründet ist? Kann es ein Leben
geben, in dem wir bemüht sind, uns einzig zu einem solchen Lebenszusammenhang
hin zu befreien, der eine vom Menschen gelebte Wahrhaftigkeit zur Folge haben
könnte, wo es keine Arbeit (im Sinne eines Sklaven- bzw. Leidensdienstes) mehr
gibt? Kann es ein Leben geben außerhalb der Aufsplitterung des Lebens in einen
meist ziemlich sinnlosen Arbeits-, Funktions- bzw. Gehorsamkeitsdienst auf der
einen Seite und einen oft nur sinnlosen Verbrauch von Freizeit auf der anderen?
Wozu betreiben wir diesen Aufwand an Entfremdung, an
Entäußerung des Lebens an sich? Warum halten wir fest an diesem ausbeuterischen
Wahnsinn in jederlei Hinsicht - physisch und psychisch?
Ich bin der Ansicht, daß wir uns mitten in einer
folgenschweren Entscheidungsphase befinden, in erster Linie geschuldet unserem
fortwährend tiefergreifenden Bewußtsein, welches uns Einsichten eröffnet, die
unser gegenwärtiges gesellschaftliches Sein immer mehr in Frage zu stellen
beginnen. Es dämmert uns eine Ahnung von einem Leben, welches wir bewußt
gestaltend nicht mehr zwanghaft durch die massenhafte Produktion toter
Materialien, Gebäude, Autos usw. ständig entäußern, von uns weisen, vernichten
müssen. Es dämmert uns eine Ahnung von einem Leben, in dem Wissen nicht mehr
vorrangig nach der ökonomischen Verwertbarkeit bemessen, sondern eingefügt wird
in die Verwirklichung eines Lebenszusammenhanges, in welchem der Mensch einen
Zuwachs an Fülle und Ganzheitlichkeit in sozialer und individueller Hinsicht
spürbar erleben, erfahren kann.
Doch die meisten Menschen in der "modernen"
westlichen Gesellschaft halten immer noch zwanghaft fest an ihren gewohnten
Arbeits- und Lebensverhältnissen, auch wenn diese oft nur Widerwillen und
Unzufriedenheit erzeugen. Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes ist
hierfür symptomatisch.
Die Beherrschung unseres Lebens durch das Geld und die
Wirtschaft und der materiell anspruchsvolle Lebensstil, den wir uns leisten und
von welchem vor allem unser ständig kränkelndes Selbstwertgefühl abhängig
gemacht wird, haben uns in die Sackgasse geführt.
Ich würde nicht unbedingt sagen, daß nach dem Zweiten
Weltkrieg ein stetig wachsender Teil der sogenannten Arbeit nur noch dem
Systemerhalt diente, ohne sonst noch irgend einen erkennbaren Sinn zu machen.
Ich würde eher sagen, daß die Arbeit über den Systemerhalt hinaus in wachsendem
Maße eine kompensatorische Schutzfunktion übernommen hat vor allem für all
unsere inneren Defizite, die sich aus unserer weltzerstörerischen Arbeits- und
Lebensweise täglich ergeben. Ja, viele Menschen jammern förmlich nach irgend
einer Beschäftigung, selbst wenn diese nur ein stumpfsinniges, roboterhaftes
bzw. totes Dahinarbeiten bedeutet. Auch wenn die Menschen mit ihrer Arbeit
äußerst unzufrieden sein sollten, in den meisten Fällen bleibt ihnen eine für
sie akzeptable Alternative verwehrt. Und eine akzeptable Alternative wäre dann
für sie oft nur eine etwas weniger roboterhafte Tätigkeit mit der Möglichkeit,
mehr Geld zu verdienen, um gerade ihren äußeren Lebensstil und ihr damit fest
verwobenes Selbstwertgefühl aufrechterhalten zu können.
Es ist ein Teufelskreis. Die Arbeit in dieser Gesellschaft
entzieht uns in einem fort die Lebensenergie, die wir an anderer Stelle mehr denn
je benötigen (z.B. inneres Wachstum), aber oft nicht mehr aufbringen können.
Diese Arbeit hält uns gefangen und hat damit unter anderem einen
systemerhaltenen Charakter. Und in diesem Sinne kann eine theoretische
Neudefinition der Arbeit gar nichts bewirken, weil das Leben als Ganzes, der
Mensch als ganzes Wesen, der Lebenszusammenhang in erster Linie hinterfragt
werden müssen. Gefordert ist die Selbsterkenntnis im weitesten Sinne. Und da
die Selbsterkenntnis oft ganz andere Fragen aufwirft und ganz andere
Konsequenzen nach sich zieht, als wir gewohnt sind, sträuben wir uns davor,
haben Angst davor und arbeiten lieber den lieben, langen Tag für eine scheinbar
unproblematische Mehrung unseres äußeren Reichtums. Und auch den durch die
Arbeit geschaffenen, hergestellten Reichtum nutzen wir wiederum nur dazu, um
die bohrenden Fragen zu verdrängen, um uns abzulenken, indem wir fast schon
unbewußt und automatisch mit dem Reichtum fortlaufend kokettieren.
Die Arbeit in dieser Gesellschaft ist nach meiner Ansicht
einerseits zunehmend eine Reaktion auf die Angst vor der Selbsterkenntnis und
deren Konsequenzen. Andererseits schützt uns die Arbeit vor den Perversionen,
die durch eine zu kurz gekommene und verhinderte Selbsterkenntnis mittlerweile
entstanden sind. Wir haben nur noch einen unvollkommenen Bezug zu unserer
inneren, psychischen Realität. Natürlich spielt dabei auch unsere seit der
Aufklärung traditionell positivistische Weltanschauung eine große Rolle, die
wohl überwiegend für unsere derzeitige geistige Verfassung verantwortlich ist.
Diese Weltanschauung mißt unseren subjektiven Empfindungen und Befindlichkeiten
nur eine Randbedeutung bei. Das Nützlichkeitsdenken hat hier seine Wurzeln: Wer
keinen sichtbaren, meßbaren Nutzen erbringt ist selber von geringem Nutzen oder
Wert. Dieses Denken vor allem setzt uns unter Druck. Ein ständig schlechtes
Gewissen treibt uns zur Arbeit an und fordert unser uneingeschränktes
Funktionieren. So gesehen ist es wohl kein Wunder, daß die innere Realität zum
Teil nur noch ein Schattendasein fristet. Sie kommt häufig nur noch in
pervertierter Form zum Ausbruch; sie kann sich äußern in der Kälte und
Distanziertheit der Menschen im Umgang miteinander, oft hervorgerufen durch
fehlendes Einfühlungsvermögen, was eine Isolation und fortschreitende
Vereinsamung zur Folge haben kann; sie offenbart sich in der Gewalt - physisch
und psychisch - innerhalb der Gesellschaft ganz allgemein (am Arbeitsplatz!),
in der Gewalt, die sich durch alle Fernsehsender zieht und ganz anonym in der
Bereitschaft für angeblich humane Kriegseinsätze - um nur einige Beispiele zu
nennen. Wir arbeiten stumpfsinnig dahin und produzieren Krieg - innerlich und
äußerlich - weil wir uns die Zeit, die Muße, die Faulheit nicht gönnen wollen,
um endlich zu uns selbst als Mensch, zu unseren wahren, lebensbejahenden
Potentialen zu finden. Wir gönnen uns die Ruhe nicht, weil die Anstrengungen,
die wir unternehmen müßten, um aus der Sackgasse herauszukommen, uns zu
überfordern drohen. Verlieren wir einmal den Arbeitplatz und eröffnen sich uns
Freiräume, die wir nicht unmittelbar mit anderer Arbeit oder anderen
ablenkenden Tätigkeiten ausfüllen können, dann kann es schon mal passieren, daß
wir plötzlich vor einem Nichts stehen, und ein Gefühl der Wertlosigkeit, der
Bedeutungslosigkeit macht sich in uns breit, wovor wir große Angst haben. Und
die Angst bleibt solange bestehen, bis wir begreifen, daß wir auch ohne all die
ständig im Überfluß produzierten Krücken einen Wert besitzen, der uns über das
bisher Gewesene hinausweisen könnte!
Notwendige Tätigkeiten wird es immer geben. Doch brauchen
wir keinen anderen, umdefinierten, "sinnvollen" Arbeitsbegriff, so
wie es auch Herr Kurz in seinem Artikel eindrucksvoll klarzustellen vermochte.
Die notwendige Tätigkeit würde sich in einer Gesellschaft, in der der Mensch zu
sich selbst finden kann, einfügen in den Lebensprozeß und nicht mehr als Arbeit
wahrgenommen werden - davon bin ich überzeugt. Ich möchte sogar soweit gehen
und sagen, daß es notwendige Tätigkeiten im eigentlichen Sinne dann gar nicht
mehr geben würde. Alles was der Mensch täte, äußerlich und innerlich, würde ihn
als ganzen Menschen betreffen und ihm Lebensfülle verleihen. Ob es je zu solch
einer Gesellschaft kommen wird, darüber entscheidet jeder einzelne bereits
heute!
Die Entscheidungsphase ist angebrochen. Der Mensch wird
sich seiner mißlichen Lage immer mehr bewußt und sucht verzweifelt nach Wegen
aus dieser deutlich spürbaren Krise. Ob die Selbstheilungskräfte stark genug
sein werden, um sich gegen das zweifellos Böse dieser Welt behaupten und es
relativieren zu können, sei dahingestellt. Ich sehe immer mehr Menschen, die
nicht mehr bereit sind, sich "hingebungsvoll" ihrem Schicksal zu
fügen, um irgendeinem Arbeitsethos genüge zu tun. Kinder in der Schule verlieren
zunehmend Respekt vor den "Autoritäten", die sie fit machen wollen
für den Gehorsamkeits- und Funktionsdienst, der sie später erwartet. Und selbst
die hohe Arbeitslosigkeit halte ich in dieser Phase des gesellschaftlichen
Lebens für einen Segen und eine Chance, diese verkrustete Gesellschaft
wenigstens ein bißchen aufzubrechen.
Dirk Hübner