Panu Petteri Höglund

IDEOLOGIEN UND DISKURSE DER IRISCHEN SPRACHBEWEGUNG HEUTE

Erster Teil

Zweiter Teil

Wer die irische Sprache nicht beherrscht, tut sich schwer, sich über ihre Situation heute zu informieren. Eine anerkannte Stellung dürfte immer noch die Übersicht Reg Hindleys geniessen, obwohl sie z.B. von Éamon Ó Ciosáin in seinem Pamphlet schon in ihrem Erscheinungsjahr kritisiert wurde. Ó Ciosáin, versteht sich, kann als Vertreter der irischen Sprachbewegung eingestuft werden; er beherrscht die Sprache hervorragend und hat sie auch zu wissenschaftlichen Zwecken verwendet, wie seine Dissertation über die in den 30er Jahren erschienene linkspopulistische Wochenzeitung An tÉireannach beweist. Jeder Ire, der in der Schule genug Irisch gelernt hat und danach ins irischsprachige Kulturleben rekrutiert worden ist, kann einigermassen der Sprach-”bewegung” zugerechnet werden; diese ”Bewegung” ist heute aber weder so abgegrenzt noch ideologisch so gleichgerichtet wie sie Ende des 19. Jahrhunderts war, kurz nachdem Douglas Hyde die wichtigste irische Sprachorganisation, die Gälische Liga (Conradh na Gaeilge/Gaelic League), im Jahre 1893 gegründet hatte.

Es gibt ein weitverbreitetes Vorurteil von den in der irischen Sprachbewegung Engagierten als parteiischen Beobachtern, denen bei wissenschaftlich seriöser Beurteilung der Sprachsituation ihres Landes nur Misstrauen geboten werden sollte: dies geht sogar soweit, dass sie gern als weniger sachkundig empfunden werden als derjenige, der die Sprache kategorisch für tot erklärt, ohne sie überhaupt zu beherrschen. Verständlicherweise sind einige Vertreter der Sprachbewegung geneigt, die Irischkenntnisse des Volkes masslos zu übertreiben; andererseits gibt es sogar extremen Pessimismus unter aktiven Förderern der Sprache. Dieser Pessimismus dient aber vor allem als Mobilisierungsstrategie: durch die laut verkündete Sorge um die Zukunft der Sprache werden potentiell Interessierte in den Bann neuer Sprachinitiativen gezogen. Wer in die irische Sprachsituation Einsicht gewinnen will, kann sich einfach nicht mit dem pauschalen Todes(vor)urteil der Nichtirischsprechenden über die Sprache zufriedengeben, sondern sollte die Szene der Irischsprechenden von innen betrachten und ihre Debatten analysieren können – und dazu sind wenigstens passive Kenntnisse der Sprache unbedingt erforderlich, auch deshalb, weil viele irischsprachige Vereine und Organisationen – z.B. der Club Cumann Chluain Ard in Béal Feirste/Belfast - bewusst versuchen, das Englische von ihren Veranstaltungen möglichst fernzuhalten.

Reg Hindley ist kein Sprachwissenschaftler, sondern Geograph, und Irisch beherrscht er überhaupt nicht. Dies braucht den Durchschnittsleser seines Werkes nicht notwendig allzu kritisch gegen seine Behauptungen zu stimmen, da der naturwissenschaftliche Hintergrund des Forschers Objektivität und harte Fakten verspricht. Hindley meint, er habe sein Buch nicht in irgendwelcher antiirischen Absicht verfasst, sondern hege selbst eine eher freundliche Einstellung zur irischen Sprachbewegung – eine Behauptung, die von Ó Ciosáin etwas sarkastisch kommentiert wird. Für Hindley ist der unvermeidbare und möglichst schon eingetretene Tod der irischen Sprache die einzige intellektuell seriöse Konsequenz, die ein Forscher aus der (durchaus nicht eindeutigen) Sprachsituation im heutigen Irland ziehen kann. Wie auch Ó Ciosáin bemerkt, würde der entgegengesetzte Schluss als ”nationalistisches Argument” nicht als stubenrein gelten. Dies schliesst aber nicht aus, dass Hindley wirklich eine aufrichtige Sympathie für die irische Sprachbewegung empfinden kann; aber eben deshalb sieht er den Pessimismus als einzige nichtemotionale und deshalb auch als einzige ”objektive” und intellektuell haltbare Stellungnahme zur Frage der Zukunft der irischen Sprache. Er gehört zu denen, die jedes emotionale Engagement für dubios halten, ohne sich eine emotional engagierende und gleichzeitig vernünftige Sache überhaupt vorstellen zu können. In der Tat scheint er seine Forschungsarbeit teilweise mit dem Ziel verfasst zu haben, seine eigenen pro-irischen Gefühle zu unterdrücken und sich selbst über die Hoffnungslosigkeit der Sprachinitiativen zu überzeugen, indem er ”harte” Fakten gegen die Sprache sammelte. Ob so eine Einstellung ”objektiver” und erwünschter ist als eine naive Liebe zur irischen Sprachsache, ist fraglich. Eigentlich können deutlich parteiische Propagandaschriften sogar weniger irreführend sein als eine scheinbar objektive Arbeit wie die von Hindley, weil sie wenigstens von ihrer Tendenz keinen Hehl machen.

Hindley kann die irische Sprache nur innerhalb des Diskurses betrachten, den Camille O’Reilly in ihrer anthropologischen Studie über die irischsprechende Subkultur Nordirlands ”Diskurs der toten Sprache” nennt. Laut O’Reilly fusst dieser Diskurs auf der Voraussetzung, die irische Sprache sei nicht mehr vor dem Aussterben zu retten, und stellt eine der Sprachbewegung entgegengesetzte Ideologie dar, deren Bekämpfung die Bewegung eine Menge Energie und Propagandaressourcen kostet. Der Diskurs der toten Sprache sieht das Erlernen des Irischen als verlorene Mühe im Vergleich mit nützlicheren Sprachen, vor allem mit dem Englischen, aber seit Irlands EWG-Zutritt auch mit grossen kontinentaleuropäischen Nationalsprachen. In diesem Diskurs lässt sich eine Reaktion auf die extremen Formen des irischen Nationalismus verspüren: die Diskursregeln verlangen, die Sprache als unzertrennbarer Teil einer De-facto-Allianz konservativer Mächte in der Gesellschaft Irlands aufzufassen und abzutun, - einer Allianz, zu der auch (vielleicht vor allem) die vielgelästerte katholische Kirche gehört. Die Wiederbelebung der irischen Sprache wird somit als Wiederbelebung eines veralteten, altmodischen und fremdenfeindlichen Nationalismus und als Bedrohung für die städtisch-mittelständischen Freiheiten der (post)modernen Gesellschaft empfunden: wer für Irisch ist, muss auch gegen Abtreibung und Präservativ sein. Da es sich hier um einen Diskurs – d.h. ein Regelwerk zur Aufrechterhaltung und ständigen Reproduzierung einer sozialen Wirklichkeit durch Kommunikation – handelt, kann die Vereinbarung des Irischen mit modernen, urbanen Anschauungen nicht einmal als hypothetische Möglichkeit überlegt werden: sie würde gegen die Regeln des Diskurses verstossen.

Die Vertreter dieses Diskurses ziehen in der Tat vor, die Sprache statt ”Irisch” (”Irish”) ”Gälisch” (”Gaelic”) zu nennen, obwohl die zweite Bezeichnung sachlich ungenau ist: die ”gälischen” Sprachen sind ein Zweig der keltischen, zu dem ausser Irisch auch die schottisch-gälische Sprache und die Sprache der Insel Man gehören , und ebenso wenig exakt wäre es, etwa die schwedischen Dialekte Finnlands ”Skandinavisch” zu nennen. Durch die Wahl der Bezeichnung wird die zentrale These der Sprachbewegung – die von der irischen Sprache als gemeinsamem Erbe der ganzen Nation, das wiederzuerobern und zurückzuholen jeder Ire berechtigt sei, weshalb ihm und seinen Kindern die Möglichkeit garantiert sein sollte, die Sprache zu erlernen - verneint und die Sprache implizit als provinziell-minderheitliches Idiom ohne landesweite kulturelle Bedeutung gebrandmarkt: es wird die Existenz einer besondernen ethnischen Minderheit der ”Gälen” postuliert, die nicht mit den ”Iren” identisch sei. (Hiermit ist nicht gemeint, dass es keine Interessenkonflikte zwischen den Muttersprachlern der irischsprechenden Gemeinden an der Westküste einerseits und den irischsprechenden, aber meistens auf Englisch erzogenen Kulturpatrioten der Grosstädte gäbe. In der Tat gehört es zu den grössten Problemen der irischen Sprachbewegung, ebensolche Konflikte irgendwie versöhnen zu können. Vgl. auch unten Seosamh Mac Grianna.)

Der Diskurs der toten Sprache hat sich so eingebürgert , dass es des öfteren gar schwerfällt, ausserhalb der irischsprechenden Kreise überhaupt geltend zu machen, das Irische sei keine ”tote”, sondern eine lebende, wenn schon nur noch von einer Minderheit gesprochene Sprache. Die Vorstellung vom ”toten” Irischen ist zu einer sich selbst reproduzierenden Folkloregeschichte geworden. Wie oben schon angedeutet wurde, lebt diese Folklore im Munde derer weiter, die sich selbst für Gegner des irischen Nationalismus überhaupt halten – wegen der Greuel in Nordirland eine durchaus verständliche Einstellung – und sich deshalb auch europäisch, urban, international und liberal fühlen: ”zu neumodisch [new-fashioned], um altmodisch sein zu können”, wie ein von Fionnuala O’Connor zitierter nordirischer republikanischer Gefangener es ausdrückte. Dieserlei Leute sind überall in den westlichen Ländern zu finden, sie verstehen sich gut und fühlen sich nicht veranlasst, Gleichdenkenden aus anderen Ländern zu misstrauen: folglich wird die Vorstellung von der ”toten Sprache”, wie sie von den ”urbanen Liberalen” vertreten wird, von Gesinnungsgenossen gern für bare Münze genommen und auch in ausländischen Medien als Wahrheit verkündet.

Hindley gelingt es nie, diesen Diskurs in Frage zu stellen: eher scheint er nur darum bemüht, den Diskurs mit zweifelhaften Argumenten zu reproduzieren. Wie Ó Ciosáin bemerkt, beschäftigen sich junge Menschen heute mit dem Irischen aus den verschiedensten Beweggründen: das alte Klischee vom frommen, nationalistischen und katholischen Irischsprechenden trifft zum Beispiel kaum auf die von O’Reilly beschriebene Dubliner Jugendorganisation An Ciorcal Craiceáilte (ungefähr ”Der irre Kreis”) zu, die Kabaretts, Discos und Konzerte in irischer Sprache arrangiert.

Auch das zeitweise paternalistische Verhältnis des kulturpatriotisch gesinnten Städters zu den Muttersprachlern auf dem Lande ändert sich inzwischen. Die touristische Attraktivität der ”idyllischen” irischsprachigen Gebiete im Westen bringt sogar junge Menschen immer noch dazu, sich auch mit der Sprache zu beschäftigen – darauf deuten wenigstens einige Privatgespräche des Verfassers dieses Artikels mit jungen Irischstudierenden in Galway hin. Die von Hindley vertretene Vorstellung von den Irischlernenden als ”esoterischen” mittelständischen Wirrköpfen, die sich nur für Nationalismus, Schöngeisterei und Folklore intressieren, die sich aber keine Gedanken über das weltliche Auskommen der Muttersprachler machen, entspricht nicht mehr der heutigen Situation. In der Tat ist die ”Wirrkopf”-Vorstellung vom irischsprechenden Nichtmuttersprachler als Kulturesoteriker, der sich mehr für die Sprache als für das Wohl der die Sprache sprechenden Menschen interessiert, zunächst bei einem irischsprechenden Schriftsteller als Selbstkarikatur der Sprachbewegung aufgetaucht: im Roman An Béal Bocht von Myles na gCopaleen (auch bekannt als Flann O’Brien, eigentlich Brian Ó Nualláin, 1911-1966), der im Jahre 1941 das erste Mal veröffentlicht wurde. Es gilt deshalb einigen Anlass zu vermuten, dass die Sprachbewegung, oder ein Teil davon, inzwischen in sich gegangen sei.

Überlebt hat sich ebenfalls die Vorstellung von der politischen Gleichschaltung der irischsprachigen Kreise. Linke und sozialistische Stimmen waren schon Anfang des 20. Jahrhunderts in der irischen Bewegung zu hören, und wenn die katholische Orthodoxie im irischsprachigen Leben nach der Geburt des Irischen Freistaates im Jahre 1922 an Lautstärke gewann, übte sie einen ähnlichen Einfluss auch auf die englischsprachige Kultur Irlands aus: viele bedeutende Schriftsteller mussten zum Beispiel auswandern, mit James Joyce an der Spitze. Die linkspopulistische Wochenzeitung An tÉireannach in den 30er Jahren, die Landreformkampagnen, an denen der erste modernistisch-experimentierende Schriftsteller irischer Zunge, Máirtín Ó Cadhain, als Organisator und Redner teilnahm, und andere Dissidenten der irischsprechenden Kreise sorgten für eine Variation politischer Orientierungen. Das katholisch-nationalistische Image der Sprache dürfte vor allem daran gelegen haben, dass die meisten Iren ihren Erstkontakt mit der Sprache in der in Irland kirchlich kontrollierten Schule erlebten: da wurden natürlich vor allem die offiziell anerkannten und empfohlenen Klassiker gelesen und studiert, die bei der Kirche keinen Anstoss erregen sollten. Die meisten Schüler wurden nie mit dem Irischen über solche Texte hinaus vertraut und behielten für immer die Vorstellung, die Sprache gehöre nur klerikalen Nationalisten.

Auf die heutige Lage trifft sie aber äusserst schlecht zu: als sich der Verfasser des vorliegenden Artikels im Frühling des Jahres 1999 aufhielt, konnte er feststellen, dass der im Jahr 1997 gegründete irische Fernsehkanal sich nicht verbittet, in einschlägigen Dokumentarprogrammen irische Kommunisten vorzuführen und sich über die Bedeutung etwa des legendären Gewerkschaftlers James Larkin oder des militanten sozialistischen Denkers James Connolly äussern zu lassen. Im Jahre 1996 veröffentlichte der junge Historiker und Marxist Aindrias Ó Cathasaigh eine politische Biographie über Connolly in irischer Sprache .

Auch Hindley sieht sich als Marxist oder greift wenigstens zu einer Analyse zurück, die er in der Broschüre einer obskuren marxistischen Clique der siebziger Jahre gefunden hat. Hindley hält die irischen Muttersprachler auf dem Lande für (homogene?) Arbeiterklasse und die städtischen Zweitsprachler für mittelständische, bourgeoise Nationalisten. Die praktisch orientierte Arbeiterklasse möchte am liebsten die international(istisch)e englische Sprache besser beherrschen, meint Hindley, während sich die bourgeoisen Nationalisten diesem gesunden Nutzdenken mit ihrem Idealismus widersetzen. Ó Ciosáin bemerkt dazu, dass die irische Sprache in den anglisierten Gebieten Irlands in der Arbeiterklasse durchaus verankert ist, was durch Gründung irischsprachiger Schulen auf Verlangen der Eltern hin in benachteiligten, proletarischen Stadtvierteln (etwa in Tallaght/Tamhlacht bei Dublin/Baile Átha Cliath) veranschaulicht wird. Bürgerinitiativen gegen Irisch als Pflichtfach, wie die Language Freedom Movement der 70er Jahre, dagegen seien meistens unter mittelständischen Städtern – den oben genannten antinationalistisch gesinnten urbanen Liberalen – entstanden.

Hindleys Marxismus erinnert eher an den sowjetischen: es ist ein Marxismus nach der vollbrachten Revolution. Die Revolution war der Übergang des irischsprechenden Irland zum Englischen seit Ende des achtzehnten Jahrhunderts oder spätestens seit der grossen Hungersnot in den vierziger Jahren des neunzehnten. Nur bourgeoise Idealisten und Nationalisten können etwas unternehmen, um diese Entwicklung rückgängig zu machen, scheint Hindley zu meinen.

Dabei ist es aber ein Faktum, dass die irische Sprache im Entstehen des selbständigen irischen Staates eine ausgesprochen revolutionäre Rolle gespielt hat. Die irische Freiheitsbewegung entwickelte sich aus der Sprachbewegung, was allerdings zur Folge hatte, dass viele aktive Mitglieder der Sprachsache den Rücken kehrten, um sich dem Partisanenkampf gegen die Engländer widmen zu können. Die ausschlaggebende Ursache für diesen Kampf aber stellte die Sprachfrage dar: es galt ursprünglich, die Nationalsprache und die damit verbundene jahrhundertelange Literaturtradition zu retten, und es war wohl nur logisch, dass mehr und mehr Mitglieder der Sprachbewegung die selbständige Republik als notwendige Voraussetzung auch für das Überleben der Sprache zu empfinden begannen. Dass sich die Freiheitsbestrebungen sehr bald verselbständigten, so dass die unabhängige Republik schliesslich zu einem wichtigeren Ziel wurde als die sprachliche und kulturelle Eigenart Irlands, steht schon auf einem anderen Blatt geschrieben.

Hiergegen werden Hindley oder seine Gesinnungsgenossen wiederum einwenden, diese revolutionäre Rolle in Irlands Freiheitskampf könnte die Sprache so endgültig mit der Irisch-Republikanischen Armee und deren Bombenkampagnen zusammengeführt haben, dass die Sprachsache aufgegeben werden sollte, um in Nordirland einen beständigen Frieden zu sichern. Das Argument besitzt eine gewisse Gültigkeit, aber auch das Verhältnis der Sprache zum Terrorismus ist keineswegs eindeutig. O’Reilly hat in ihrer Arbeit zum Irischen in Nordirland drei verschiedene Diskurse – den Entkolonisierungs-, den Bürgerrechts- und den Kulturdiskurs – unter den nordirischen Sprachenthusiasten, wobei nur der Entkolonisierungsdiskurs mit der IRA assoziiert wird. In der Republik Irland entsprächen ihnen jeweils der nationalsprachliche, Diskurs, der minderheitliche Diskurs und die ”südirische” Variante des Kulturdiskurses.

Der Entkolonisierungsdiskurs sieht die irische Sprache und den bewaffneten Kampf als gleichberechtigte Mittel zur Befreiung der irischen Nation von der brittischen Kolonialmacht: hierbei werden gern die Worte von Patrick Pearse (Pádraig Mac Piarais) zitiert, nach denen das freie Irland nicht nur frei, sondern auch irischsprechend sein soll, und nicht nur irischsprechend, sondern frei – ”es sind nicht zwei verschiedene Sachen”, wie einer der Gesprächspartner O’Reillys es ausdrückt. ”Jeder hat eine Aufgabe zu erfüllen”, lautet ein republikanischer Slogan, - entweder durch bewaffneten Kampf oder auch durch Kulturkampf, d.h. Sprachkampf. Durch die irische Sprache grenzt der Republikaner sich von der britischen Armee ab. Der Verfasser dieses Artikels erfuhr zum erstenmal von der heutigen (bzw. damaligen) soziolinguistischen Situation der irischen Sprache Anfang der 80er Jahre, als er, nur 13 Jahre alt, sich im Fernsehen einen Dokumentarfilm zum Thema der irischen Sprache ansah; bei ihm prägte sich da besonders der Wandposter mit der Beschriftung ”British Army speaks English, what do you speak?” ein. Der Ausgangspunkt des Entkolonisierungsdiskurses wird mit diesen Worten treffend und konzis formuliert. Obwohl die britische Armee nicht notwendig Feind sein musste (ursprünglich wurde sie ja in Nordirland stationiert, um die katholische Bevölkerung vor den Protestanten zu beschützen und nicht umgekehrt, was aber heute oft in Vergessenheit gerät), bedeutete ihre Anwesenheit doch, dass einem das volle Nutzungsrecht auf die eigene Heimat versagt wurde, weil diese fremden Leute da herumpatrouillierten. Auch derjenige Katholik, der der Irisch-Republikanischen Armee kritisch gegenüberstand, erlebte die alltäglichen Schikanen an den Kontrollpunkten der Armee als Unfug und Belästigung und fühlte sich wenigstens versucht, in einer dieser Armee fremden Sprache (und in der damit verbundenen Literatur und Kultur) eine Art symbolische Zuflucht zu suchen.

Die irische Sprache kann aber auch als Alternative zum bewaffneten Freiheitskampf gesehen werden. Die ursprünglich apolitisch gemeinte Gälische Liga (Gaelic League/Conradh na Gaeilge) wurde (im Jahre 1893) in der Tat als solche gegründet, als die politischen Freiheitsbestrebungen der Iren in einen Stillstand geraten waren und eine Kampagne frustrierter, terroristischer Gewalt unmittelbar bevorzustehen schien. Unter diesen Umständen kanalisierte die Sprachbewegung den nationalistischen Eifer der Iren zu konstruktiven Zwecken.

Eine ähnliche Kanalisierung geschah im Falle des Schriftstellers Breandán Ó Beacháin (Brendan Behan), der schon als Minderjähriger wegen seiner IRA-Umtriebe hinter Gitter kam. Wie Declan Kiberd in seinem Vorwort zu Ó Beacháins gesammelten Schriften in irischer Sprache schreibt, wandte sich der junge Dichter im Gefängnis vom bewaffneten Republikanismus ab, weil ihm da bewusst wurde, dass Generation um Generation politische Führer der Iren den Befreiungskampf zum Selbstzweck erhoben hatten, ohne sich die Frage zu stellen, was für ein Irland es zu befreien gelte. Dies wurde Ó Beacháin zum Anlass, sich mit der irischen Sprache seriös zu beschäftigen.

O’Reilly scheint den Entkolonisierungsdiskurs als unauflöslich mit dem IRA- und Sinn-Féin-Nationalismus verbunden aufzufassen, und ihres Erachtens ist dieser Diskurs deshalb nur noch in Nordirland gängig. Es gibt aber auch einen anderen Entkolonisierungsdiskurs, der eher von interner Kolonisierung durch eine als sprachlich und kulturell entnationalisiert dargestellte Dubliner Mittelschicht handelt. In dieser Form tritt der Entkolonisierungsdiskurs besonders deutlich in den Schriften von Seosamh Mac Grianna vor.

Seosamh Mac Grianna (1900-1990) war Schriftsteller aus dem Dorfe Ranafast/Reann na Feirste im irischsprachigen Teil der Provinz Ulster/Uladh, d.h. aus der Grafschaft Donegal/Dún na nGall, die heute zur Republik Irland (d.h. nicht zu Nordirland) gehört – die irischsprechende Küste ist immer noch unter dem alten Namen der Graftschaft, Tír Chonaill, bekannt (die anglisierte Namenform, Tyrconnell, ist heute ungebräuchlich; Donegal ist eigentlich der Name der grafschaftlichen Hauptstadt). Er nahm als junger Mann an Irlands Freiheits- und Bürgerkriegen teil – eher als irischsprachiger Propagandist denn als Soldat der Irisch-Republikanischen Armee – aber wurde bald von der nationalistischen Bewegung, den ”Freunden, die uns nicht geholfen haben”, enttäuscht und widmete sich der Literatur. Nach dem Krieg und dem Gefängnis, wo er eine Strafe für seine Arbeit im Dienst der Verlierer des Bürgerkrieges absitzen musste, arbeitete er als Übersetzer beim Staatsverlag ”An Gúm”, der damals versuchte, die ”Klassiker der Weltliteratur” (sprich: die Klassiker der viktorianischen englischen Literatur und den Kanon der irisch-nationalistischen Schriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts, etwa John Mitchell, James Clarence Mangan und Charles Kickham) auf Irisch zu veröffentlichen, um schnellstmöglich ein Korpus von geeigneten Texten als Lektüre und Unterrichtshilfe für die Schulen zu produzieren. Gleichzeitig mit dieser Arbeit versuchte Mac Grianna, moderne und einigermassen auch modernistische Literatur in der Sprache zu schaffen. Trotz seiner offenbaren Begabung blieb sein Gesamtwerk ziemlich begrenzt: dazu gehören vor allem sein Bekenntnisbuch Mo Bhealach Féin (”Mein eigener Weg”), der Roman An Druma Mór (”Die grosse Trommel”), das nie abgeschlossene Romanfragment Dá mBíodh Ruball ar an Éan (”Wenn der Vogel einen Schwanz hätte”) und eine Menge von Zeitungspolemik, Journalistik, Essays und auch Kurzgeschichten.

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