Panu Petteri Höglund

IDEOLOGIEN UND DISKURSE DER IRISCHEN SPRACHBEWEGUNG HEUTE

Erster Teil

Zweiter Teil

Mac Grianna - und in gewissem Masse auch sein älterer Bruder Séamas (der seinen Familiennamen als Ó Grianna aus englisch Greene zurückübersetzte, nicht Mac), ebenfalls Schriftsteller, aber eher produktiv als begabt – sah sowohl in seinen fiktiven Werken wie auch in seiner Publizistik das englischsprachige Irland, das sich seinerzeit aus Dublin heraus über die ganze Insel hin dehnte, um dann auch die letzten Hochburgen des Irischen der Westküste entlang zu bedrohen, als eigentlichen Kolonisateur und Unterdrücker der Irischsprechenden. Zwar war es so, dass die Entwicklung dieses anglisierten Irland zunächst von englischen Eroberern initiiert und in Gang gesetzt worden war, aber inzwischen besass der Anglisierungsprozess eine Eigendynamik und wurde nicht mehr von Engländern, sondern mit den anglisierten Irländern selbst getragen und weitergetrieben, die die Vorstellung vom Englischen als der einzigen ernstzunehmenden Kultursprache unkritisch übernommen und verinnerlicht hatten. Auch die Sprachbewegung gehörte in gewissem Masse zu den ”Freunden, die uns nicht geholfen haben”, da sie sich besonders in den ersten Jahrzehnten nach der Geburt des Irischen Freistaates mehr für ihre eigenen Vorstellungen vom ”Echtgälischen” als für die wirklichen Bedürfnisse der Irischsprechenden interessierte. Die Gaeltacht-Bevölkerung wurde den anglisierten Iren von den Geistlichen als Vorbild echten volkstümlich-frommen Katholizismusses vorgehalten, obwohl, wie auch Seosamh Mac Grianna in mehreren Schriften betonte, die alltägliche, instinktive Religiosität der Gaeltacht-Einwohner mit dem mittelalterlichen Christentum mehr gemein hatte als mit der katholischen Strenggläubigkeit des viktorianisch beeinflussten städtischen Irland: verfolgt von den Engländern und oft ohne jeglichen Kontakt zur theologischen Entwicklung der katholischen Kirche, lebte dieses Christentum als mündlich überlieferte Folklore in der Form weiter, die es schon im 16. oder 17. Jahrhundert angenommen hatte. Als der konservative Flügel der Sprachbewegung die irische Sprache als Schutzmauer gegen moderne Strömungen, die als unsittlich und atheistisch empfunden wurden, ausnutzen wollte, war der Glaube der Ahnen, den es zu verteidigen galt, nicht die Volksreligion der Gaeltacht-Regionen, sondern die Religion der katholischen Mittelschicht im 19. Jahrhundert.

Seosamh Mac Grianna war wohl der erste, der diese politische Ausnutzung der irischen Sprache als nur eine neue Form der Kolonisierung der Gaeltacht erkannte. Dieser Tage aber hat der von ihm vertretene Diskurs neu an Bedeutung und Gewicht gewonnen, da jetzt die Gaeltacht-Bevölkerung so etwas wie eine eigene, vom ”Hauptstadt-Irentum” verhältnismässig unabhängige Intelligenzia besitzt. Zur Geburt derselben hat vor allem die Ende der 60er Jahre in der Gaeltacht Conamara entstandene Bürgerrechtbewegung der Gaeltacht (Gluaiseacht Chearta Sibhialta na Gaeltachta) beigetragen: die Proteste dieser Bewegung führten zur Gründung des selbständigen irischsprachigen Rundfunks, Raidió na Gaeltachta, und einer teilweise mit demokratischen Wahlen gewählten autonomischen Behörde für die irischsprachigen Gebiete, Údarás na Gaeltachta.

O’Reilly meint, in der Republik Irland sei der Entkolonisierungsdiskurs vom nationalsprachlichen Diskurs abgelöst worden. In diesem Diskurs besitzt das Irische einen Eigenwert als die eigentliche Muttersprache (ancestral language, native language – im Gegensatz zum Englischen als mother tongue) aller Iren, die aber durch ein geschichtliches Unglück einer Mehrzahl von ihnen abhanden gekommen sei. Der Ire könne sich nie völlig mit dem Englischen abfinden, da diese Sprache für immer Fremdkörper bleibe. Auf den ersten Blick mutet diese Behauptung wie selbstberechtigte Propaganda an, aber sie hat durchaus praktische Dimensionen: der junge Ire mit Englisch als Muttersprache muss in der Schule natürlich Literaturunterricht in dieser Sprache mitmachen, wobei er, wie es sich geziemt, die englischen Klassiker lesen und Kommentare dazu verfassen wird. Das Englische aber ist die Sprache jenes Nachbarstaates, der jahrhundertelang die Iren als ideologische Feinde betrachtete und zu unterjochen suchte, was zur Entstehung rassistischer Vorstellungen von den Iren führte, um diese Unterdrückung zu rechtfertigen. Folglich sind irenfeindliche Bemerkungen oder Tiraden sogar bei hochgeschätzten englischen Schriftstellern zu finden: dem irischen Schüler wird somit eine Literatur als stilistisches Vorbild vorgehalten, die ihn und seinesgleichen als Vertreter eines feindlichen Volkes oder einer minderwertigen Rasse diffamiert.

Der Schüler muss sich durchaus auch mit der englischsprachigen Literatur Irlands auseinandersetzen, mit der er sich besser identifizieren kann. Auch diese Literatur tendiert aber, eher das lesende Publikum der weiten englischsprachigen Welt anzusprechen als sich auf den einheimischen Leser zu konzentrieren. Häufig wird die Beschuldigung vorgebracht, die anglo-irischen Schriftsteller spielten eher die Rolle des stage Irishman, des Klischee-Iren und zögen es vor, statt lebendigen, modernen Menschen stockkatholische, nationalistisch gesinnte und sentimentale Charaktere vorzuführen. Da das alte Image in Grossbritannien und in den Vereinigten Staaten sogar unter gebildeten Lesern – und seien sie auch selbst irischen Ursprungs – immer noch gilt, mag es einem Schriftsteller durchaus verlockend erscheinen, die leicht erlernte Routine auszunutzen, weil sie einem immer noch Geld einbringt.

Der in der Sprachbewegung engagierte Pädagoge Diarmuid Ó Donnchadha zitiert in Castar an Taoide (”Die Gezeiten schlagen um”), einem Buch, das man am besten den Versuch einer kulturnationalistischen Soziolinguistik nennen sollte, führt das folgende, auf Souvenirs und Nippsachen sehr populäre Motto:

May the road rise up to meet you

als ein Beispiel für die Selbstentfremdung der Iren an, die sich als unkritische Übernahme fremder Vorurteile als Teil des eigenen Selbstbildes ausdrückt. Diese Worte sind eine fehlerhafte, wortwörtliche Wiedergabe (laut Ó Donnchadha eine ”pervertierte Übersetzung”, saobhaistriúchán) des irischen Idioms Go n-éirí an bóthar leat – d.h. ”gute Reise” oder eigentlich ”mag Dir die Reise gelingen” – für ”Reise” wird hier idiomatisch das Wort bóthar (”Landstrasse”) verwendet, und ”gelingen” heisst auf Irisch éirí le [duine] (”mit [jemandem] aufgehen”). Ó Donnchadha sieht die Akzeptanz dieser Fehlübersetzung als entwürdigend und symptomatisch für eine tiefere Entwürdigung: Akzeptanz englischer rassistischer Vorurteile als Selbstbild nach vollzogenem Übergang zur englischen Sprache.

Der Historiker J.J. Lee ist weniger kategorisch, aber auch er erkennt im Sprachschwund u.a. die Ursache der oft sogar lächerliche Formen annehmenden Überempfindlichkeit der Iren gegenüber wirklichen oder vermeintlichen antiirischen Äusserungen und Vorurteilen in Grossbritannien. Könnten sich die Iren auf ihre eigenen Belange in ihrer eigenen Sprache konzentrieren, meint Lee, statt englische Gossenpresse zu lesen (britische Revolverblätter, wie etwa The Sun, werden bezeichnenderweise auch in Irland verbreitet, und zwar in grossen Auflagen), würden sie sich viel weniger Sorgen etwa aus den zahlreichen und populären englischen Witzen über Iren machen.

Die Gedanken, die bei Ó Donnchadha und Lee zu finden sind, spiegeln den Diskurs wider, den O’Reilly den nationalsprachlichen nennt, so wie er heute bei intellektuell seriösen Autoren zu finden ist. Der nationalsprachliche Diskurs kann als natürliche Fortsetzung des Entkolonisierungsdiskurses in den Verhältnissen nach einer wenigstens im Prinzip betrachtet erfolgreichen politischen Entkolonisierung empfunden werden: zwar sind die englischen Truppen weg, aber derselbe Kampf (bitte die Wortwahl merken) geht auf der kulturellen Front (auch dieses Wort ist bewusst gewählt) weiter. (Vgl. das bei O’Reilly auftauchende Zitat ”The Irish language is a first-rate weapon against English encroachment”, das sowohl dem Entkolonisierungsdiskurs wie den früher geläufigen Formen des nationalsprachlichen Diskurses entstammen könnte.)

Aus heutiger Sicht besteht das Problematische am nationalsprachlichen Diskurs (wie auch am Entkolonisierungsdiskurs) darin, dass seine Vertreter im Laufe der Geschichte des selbständigen Irland oft geneigt waren, die Sprache und die Sprachbewegung fremden politischen und kulturpolitischen Zielen unterzuordnen. Der Diskurs der toten Sprache, auf den oben schon hingewiesen wurde, ist nicht zuletzt als Reaktion auf den nationalsprachlichen Diskurs, wie er in den ersten Jahrzehnten der Selbständigkeit Irlands üblich war, zu verstehen. Die irische Sprache wurde von ihren Befürwortern vor allem als Waffe gegen Überfremdung durch ”englische” kulturelle Einflüsse verstanden, wobei aber ”englisch” allzuoft mit ”modern” gleichgesetzt wurde. Die Sprache gehörte unzertrennlich zum kulturellen Harnisch des fíorGhael, des ”echten Gälen” (sic!), zusammen mit dem rechtgläubigen Katholizismus und anderen kulturellen Erscheinungen, die dazugewählt worden waren, um die Eigenart und Eigenständigkeit Irlands gegenüber England hervorzuheben. Es lohnt sich zu bemerken, dass es sich hierbei weniger um die Bewahrung und Weiterentwicklung eines vorhandenen Kulturerbes und mehr um die Heraufbeschwörung eines eigens ausgedachten oder ”erfundenen” Irlands – um auf den Titel des literaturkritischen Grosswerkes von Declan Kiberd, Inventing Ireland, anzuspielen – handelte.

Die Kultur des ”echten Gälen” war nach den heute gängigen Vorstellungen (bei Lee wie bei Kiberd) eine irische Variante der viktorianisch-englischen mittelständischen Respektabilität, die sich nur dadurch von ihrem Vorbild unterschied, dass jeder englischen kulturellen Erscheinung ein spezifisch ”gälischer” Ersatz zugeordnet wurde: statt Englisch – Irisch, statt Fussball – gälischer Fussball (peil Ghaelach), statt Hockey – Hurling (oder iománaíocht), statt Union Jack – die grün-weiss-orangene Fahne Irlands , und so weiter. Die geistige Abhängigkeit von Grossbritannien – das Bedürfnis, ”den Engländern” zu zeigen, was eine Harke ist, war aber unter dem grünen Farbanstrich ebenso leicht wiederzuerkennen wie die Initialen der Königin Viktoria an den alten Briefkästen, die noch heute in allen irischen Städten zu sehen sind. Dass man es vor allem den Engländern zeigen wollte, ist hier ausschlaggebend: der Welt, Europa oder den Vereinigten Staaten brauchte man es nicht zu zeigen.

Es stellt sich die Frage, inwiefern der ”echtgälische” nationalsprachliche Diskurs mit dem von Lee und Ó Donnchadha vertretenen gleichgesetzt werden kann. Den ”echtgälischen” Diskurs charakterisieren Ausdrücke wie das oben zitierte ”die irische Sprache ist eine Waffe gegen englische Überfremdung (English encroachment, oder in irischsprachigen Zusammenhängen Galldachas )”. Meines Erachtens könnte der von O’Reilly vorgeschlagene Begriff ”nationalsprachlicher Diskurs” in zwei unterschiedliche Diskurse eingeteilt werden, die relevante Unterschiede nicht nur der politischen Orientierung, sondern auch der Vorstellung von der irischen Kultur und der Rolle der Sprache darin widerspiegeln. Folglich könnten Lee und (wenigstens teilweise auch) Ó Donnchadha als Vertreter eines ”linken” oder ”modernisierten” nationalsprachlichen Diskurses, die klerikalen Nationalisten in den ersten Jahrzehnten der Selbständigkeit (und ihre heutigen Nachahmer, wie etwa der katholische Fundamentalist Ciarán Ó Coigligh) als ”rechte Nationalsprachler” eingestuft werden.

Hierbei ist aber auch zu bemerken, dass der irische Nationalismus, mit dem der O’Reillysche nationalsprachliche Diskurs eng zusammenhängt, mit Termini wie ”links” oder ”rechts” äusserst schwer zu erfassen ist. Es gibt durchaus Anlass zu vermuten, dass die Dichotomie Nationalismus/Antinationalismus in der irischen Politik dieselbe Rolle spielt wie links/rechts in der der meisten anderen westeuropäischen Ländern. Linke und rechte Denker haben in der Sprachbewegung und in den irisch-nationalistischen Kreisen, sowohl in den legalen wie in den illegalen (d.h. in der IRA), des 20.Jahrhunderts durchaus zusammenarbeiten können, und der Unterschied zwischen links und rechts ist in diesen Kreisen nicht ganz eindeutig, da sich ja zusammenarbeitende Partner gegenseitig zu beeinflussen tendieren. Radikaler sozialer Reformismus (”links”) – etwa Verlangen nach besserer Sozialfürsorge - konnte unter den irischen Nationalisten schon immer mit religiös bedingtem Puritanismus in puncto Sexualität – etwa Abneigung gegen voreheliche sexuelle Beziehungen, Empfängnisverhütung oder Abtreibung (”rechts”) – durchaus vereinbart werden.

Andererseits aber bemühen sich wenigstens die Chefs und Sprecher des nordirischen Republikanismus, ihrer Bewegung einen Anstrich linken ”Revoluzzertums” zu geben, um sie eventuellen linken Bündnisgenossen oder Partnern in den westlichen Ländern verständlicher und akzeptabler zu machen; dies verlangt gewisse Distanz vom etablierten Nationalismus oder nationalistischen Populismus südirischer Politiker. Solche linksliberale Ideen wie etwa Antirassismus, Frauenemanzipation, sexuelle Gleichberechtigung der Schwulen o.ä. erfreuen sich in der Tat authentischer Solidarität und Unterstützung unter den eher intellektuellen nordirischen Republikanern oder Sympathisanten des Republikanismus, wobei der nordirische Nationalismus als Teil desselben allgemein-radikalen Komplexes empfunden wird wie die oben genannten Ideen.

Der zweite Diskurs, den O’Reilly unter den nordirischen Irischsprachigen erkannt hat, ist der bürgerrechtliche, der auf das Ideengut der 60er Jahre zurückgeht. Der lange Krieg Nordirlands wurde von einer Studenten- und Jugendrevolte in bestem (und durchaus bewusstem) 60er-Stil gestartet: sogar die amerikanischen Protestlieder (We Shall Overcome o.ä.) wurden angestimmt, aber den älteren Generationen der Katholiken blieben sie ebenso fremd wie die französischen Revolutionslieder den irischen Aufständischen im Jahre 1798. Die Revolte wurde prompt von den traditionellen Nationalisten - der IRA – übernommen und ausgenutzt. Dass aber das Erbe der 60er Jahre sowohl unter den Republikanern wie unter den gemässigten katholischen Nationalisten weiterlebt, ist aber klar – oben wurde schon angedeutet, dass sich ideologisch bewusstere IRA-Kämpfer und –Sympathisanten um ein allgemeinradikales Image bemühen – nicht nur, um bei den Linksintellektuellen Verständnis und Solidarität zu ernten, sondern auch aus echter Überzeugung, dass etwa Toleranz gegenüber Homosexuellen oder Farbigen in der künftigen utopischen Republik natürlich sein sollte.

Im Rahmen des bürgerrechtlichen Diskurses werden die Katholiken Nordirlands als eine mit den US-amerikanischen Schwarzen vergleichbare, diskriminierte Bevölkerungsgruppe interpretiert, die jetzt den ihr gerecht zukommenden Anteil verlangt. Hierbei sind Formulierungen und Gedankengänge, die sehr an die Rhetorik und Ideologie der 60er Radikalen erinnern, immer noch gang und gäbe.

Die Wiederbelebung der irischen Sprache als gemeinsame, natürliche Umgangssprache, das erklärte Ziel der irischen Sprachbewegung, lässt sich eigentlich nur mit dem Entkolonisierungsdiskurs bzw. dem nationalsprachlichen Diskurs nahtlos vereinbaren. Eine andere Alternative stellt der bürgerrechtliche (in Nordirland), beziehungsweise der sprachminderheitliche (in der Republik) Diskurs dar.

Der sprachminderheitliche Diskurs im Süden Irlands dürfte dadurch zustande gekommen sein, dass die nationalsprachliche Vorgehensweise als kontraproduktiv erkannt oder empfunden worden ist und ein realistischerer Ansatz vermisst worden ist. Sowohl die Sprachbewegung wie auch – im Prinzip – der Staat haben das erklärte Ziel wenigstens am Anfang verfolgt, das Irische als hauptsächliche Umgangssprache der Bevölkerung wiederherzustellen. Wie bekannt, sieht dieses Ziel in den heutigen Verhältnissen Irlands aber sehr unrealistisch aus. Dies wiederum führt dazu, dass die Errichtung staatlicher Behörden zur Spracherhaltung versäumt wird oder nur halbherzig geschieht, da das Ziel von Anfang an zu unerreichbar wirkt, um ernstgenommen zu werden. Folglich können sogar solche Massnahmen ausfallen, die als Minderheitenschutz durchaus verteidigt werden könnten. Der sprachminderheitliche Diskurs geht davon aus, dass es sich nicht um die Rettung einer sterbenden Sprache oder um die Auferstehung einer toten handelt, sondern um die Rechte einer existierenden Sprachminderheit auf Schutz und staatliche Unterstützung.

Der kulturelle Diskurs dient dazu, Gegner der irischen Sprache zu bekehren und Interessenten zu überzeugen, indem die kulturelle Bedeutung des Irischen besonders hervorgehoben wird. Zu diesem Diskurs gehören Charakterisierungen des Irischen als beautiful language/teanga álainn, d.h. es werden dem Irischen ästhetische Werte zugeschrieben, die dem Englischen abgehen. Das Irische wird als Edelstein (seoid) bezeichnet, der bewundert und beschützt werden soll. Es wird auch gern geltend gemacht, auf Irisch könne jede Äusserung in mehreren ästhetisch faszinierenden Weisen formuliert werden, während das Englische standardisiert und prosaisch sei. Irische idiomatische ausdrücke werden oft als Beweisstücke für die Existenz eines besonderen irischen Weltbildes dargeboten: es sei interessant, dass die Vorfahren die Eisenbahn das ”schwarze Schwein” oder das Fahrrad das ”Eisenpferd” nannten, und es sage einem etwas darüber, wie sie die Welt um sich herum sahen und wie sie Neuerungen und Neuigkeiten in das schon Bekannte einfügten.

Die globale Perspektive wird im kulturellen Diskurs ebenfalls berücksichtigt. Das Englische wird nicht mehr – oder nicht nur – als Sprache der jahrhundertealten Unterdrücker verworfen, sondern (auch) als Sprache der globalen kulturellen Gleichschaltung. Dieser Gleichschaltung wird die irische Sprache als etwas entgegengesetzt, das ausgesprochen lokal oder regional, einer definierbaren Heimat zugeordnet ist. Einer der von Camille O’Reilly interviewten meint dazu, alles, was klar und deutlich einem bestimmten Land oder einer bestimmten Region zugehört, sei interessant und mache die Welt interessanter. Hiermit braucht die irische Sprachbewegung nicht mehr mit dem engstirnigen Nationalismus identifiziert zu werden, sondern hat eine Dimension gewonnen, die sie sogar eher linksgeneigten ”Alternativen” akzeptierbar macht.

Auch die Kultur, die im kulturellen Diskurs als hauptsächliche Existenzberechtigung der irischen Sprache vorgehalten wird, ist nicht mehr gleich Katholizismus und landschaftliche Frömmelei. Jetzt werden die traditionellen Lieder in irischer Sprache gesungen und gehört, und zwar in lustiger Gesellschaft in der Kneipe. Zahlreiche Bands, die oft aus jungen Gaeltacht-Muttersprachlern bestehen, spielen alte Volkslieder in neuen Rock-Arrangements, und auch der traditionelle sean-nós –Gesang freut sich neuer Popularität auch unter den Jüngeren.

In Nordirland aber hat der kulturelle Diskurs einen eher kontroversen Charakter, da manche Irischsprachigen dort argwöhnen, er diene vor allem dazu, die Sprachbewegung politisch stubenrein (squeaky-clean) zu machen. Andererseits aber können Versuche, auch Protestanten in den Bann der Sprache zu ziehen, kaum durch andere Diskurse stattfinden. Obwohl einige protestantische Figuren des öffentlichen Lebens sich zur irischen Sprache bekennen, leben die alten Vorstellungen von der IRA-Geheimsprache – wie wir am Anfang dieses Essays schon sahen – immer noch, und unionistische Politiker können sich zuweilen sehr feindselig zum Thema irische Sprache äussern.

Der kulturelle Diskurs in Nordirland, meint O’Reilly, schwankt immer noch zwischen zwei Polen im Verhältnis zu den Protestanten. Wenn solche halboffizielle Organisationen wie etwa der Iontaobhas Ultach/Ultach-Trust in Nordirland heute die irische Sprache als ”kulturelles Kleinod” über Konfessionsgrenzen hinaus zu fördern suchen, ist ihnen nicht ganz klar, um wessen Kultur es sich handelt. Bald wird die irische Sprache als etwas Gemeinsames, Überkonfessionelles gepriesen, bald wird den Protestanten empfohlen, die Sprache zu erlernen, um sich ”einen Zugang zur Kultur der Katholiken” zu schaffen.

Ansätze einer protestantisch-gälischen Nationalmythologie sind aber schon vorhanden: sie werden von einem unionistischen Politiker namens Ian Adamson vertreten, der mehrere Bücher über die Cruthins verfasst hat. Die Cruthins seien die vorkeltischen Einwohner Ulsters, die vor den einziehenden Gälen nach Schottland geflohen seien und deren Nachkommen im Zuge der protestantischen Ulster-Siedlung von dort nach Ulster zurückgekommen seien. Der Name Cruthin selbst entstammt den altirischen Annalen und Chroniken über die mythische Frühgeschichte Irlands und kommt (als cruithne, vermutlich mit cruithneacht = ”Weizen” verwandt) z.B. in Foras Feasa ar Éirinn vor; im allgemeinen werden die cruithne des Foras mit den Pikten gleichgesetzt.

Adamsons Ideen werden immer noch von Katholiken wie von Protestanten belächelt, und obwohl sie vielleicht nicht völlig so an den Haaren herbeigezogen sind wie sie beim ersten Blick wirken, lässt sich der Eindruck kaum vermeiden, dass hier Eulen nach Athen getragen werden. Adamson hat versucht, das Recht der Protestanten auf Ulster eigens mit geschichtlichen oder vorgeschichtlichen Argumenten zu untermauern, indem er die Verbindung zwischen Ulster und der anerkannten Urheimat der nordirlischen Protestanten, Schottland, zu beweisen sucht; aber sogar die irischen Nationalisten sind bereit zuzugeben, dass die gälische Sprache aus Ulster nach Schottland zum erstenmal übertragen wurde, von einem Stamm namens Dál Riata.

Literatur:


BEHAN, Brendan [in den irischsprachigen Kreisen auch als Breandán Ó BEACHÁIN bekannt]: Poems and a Play in Irish. Edited and with an Introduction by Declan Kiberd. Gallery Press, Loughcrew 1981/1989
COOGAN, Tim Pat. The IRA. HarperCollins, London 1995
DENVIR, Gearóid: Litríocht agus Pobal. Cló IarChonnachta, Indreabhán, Conamara 1997 [Ein essayistischer Sammelband zur Kultur und Literatur in irischer Sprache von einem Dozenten am University College Galway, der auch als Lehrer in der Gaeltacht tätig ist.]
HINDLEY, Reg: The Death of the Irish Language: A Qualified Obituary. Routledge, London and New York 1990
KIBERD, Declan: Inventing Ireland: The Literature of the Modern Nation. Jonathan Cape, London 1995
LEE, J.J. : Ireland 1912-1985: Politics and Society. Cambridge University Press, Cambridge 1989
MAC GRIANNA, Seosamh: Mo Bhealach Féin. An Gúm, Baile Átha Cliath 1997 [ein als Reisebericht getarntes autobiographisches Bekenntnisbuch des Schriftstellers]
MAC GRIANNA, Seosamh: Pádraic Ó Conaire agus Aistí Eile. An Gúm, Baile Átha Cliath 1986 [meist literarische Essays von Mac Grianna]
MAC PÓILÍN, Aodán: The Irish Language in Northern Ireland. Iontaobhas ULTACH, Béal Feirste [= Belfast] 1997
MYLES NA gCOPALEEN [auch als Flann O’BRIEN bekannt; sein richtiger Name lautete Brian Ó NUALLÁIN]: An Béal Bocht. Drochscéal faoin drochshaol. An Press Náisiúnta, Baile Átha Cliath 1941/42 [Neudrucke von Mercier Press, Cork und Dublin, sind erhältlich. Ein satirischer Roman über die irische Sprachbewegung und gleichzeitig eine Parodie ihrer Lieblingslektüre. Der Autor gehört auch in der englischen Sprache zu den wichtigsten literarischen Gestalten Irlands im 20. Jahrhundert.]
Ó CATHASAIGH, Aindrias: An Modh Conghaileach. Cuid Sóisialachais Shéamuis Uí Chonghaile. Coiscéim, Baile Átha Cliath [= Dublin] 1996 [Eine kritische politische Biographie über den sozialistischen Nationalistenführer James Connolly des Osternaufstandes im Jahre 1916 und sein Denken von einem jungen irischen Kommunisten, der aktiv in der irischsprachigen Publizistik ist. Enthält auch eine Analyse der Äusserungen Connollys zur Sprachfrage.]
Ó CIOSÁIN, Éamon: Buried Alive. A Reply to The Death of the Irish Language. Dáil Uí Chadhain, o.J. (Erstveröffentlichung in gekürzter Form in der Zeitschrift ”Graph” No. 9, Dezember 1990)
Ó CIOSÁIN, Éamon: An tÉireannach. Páipéar Sóisialach Gaeltachta. An Clóchomhar, Baile Átha Cliath [= Dublin] 1993 [Ó Ciosáins Arbeit über die erste echt journalistische – d.h. nicht propagandistisch gemeinte – Wochenzeitung in der irischen Sprache]
O’CONNOR, Fionnuala: In Search of a State – Catholics in Northern Ireland. Blackstaff Press, Belfast 1994
Ó DONNCHADHA, Diarmuid: Castar an Taoide. Coiscéim, Baile Átha Cliath [= Dublin] 1995 [Der eher eklektische Versuch eines irischen Sprachpädagogen, die Ideologie der Sprachbewegung mit Argumenten der modernen Soziolinguistik und Zweisprachigkeitsforschung zu untermauern.]
Ó MUIRÍ, Pól: A Flight from Shadow – The Life and Work of Seosamh Mac Grianna. Lagan Press, Belfast 1999
O’REILLY, Camille: The Irish Language in Northern Ireland: The Politics of Culture and Identity. Macmillan Press Ltd, London/St Martin’s Press Inc., New York 1999
WILSON, Robert McLiam: Eureka Street, Belfast. Übersetzt von Christa Schuenke. Fischer-Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 1999 (Original: Eureka Street. Random House, London 1997)