Doch, stimmt schon, hier geht's um Literatur.

Aber ganz im Ernst, es geht nie nur um Literatur, auch wenn das manche meinen. So wie es nie nur um Sprache, oder um Fotografie, oder um Musik, oder, oder ... geht.

Nehmen wir mal eine der 'reinsten' Literaturproduktionen, die es in der deutschen Sprache gibt, nämlich die von Franz Kafka. Der Mann war nicht im allergeringsten darauf angewiesen, mit seinen Texten irgendetwas zu machen, schon gar nicht darauf, mit ihnen Geld zu verdienen. Der Herr Doktor Kafka war ein beruflich erfolgreicher Jurist, der als Prokurist relativ großer Firmen mehr als sein Auskommen hatte. Leider, oder: gottseidank (für uns) war er mit diesem Leben überhaupt nicht zufrieden. Nachts hat er geschrieben, wie ein Verrückter, als wenn es um seine Seele ginge. Kleine Sachen, große Sachen. Liebesbriefe, Tagebücher, Entlobungsbriefe, Abrechnung mit dem Vater, und Geschichten, Geschichten, Geschichten.

Hier eine ganz kleine als Kostprobe:

Schon ein bisschen merkwürdig, nicht wahr? "Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise." Glücklicherweise handelt es sich um eine ungeheure Reise, bei der es nicht ausgeschlossen ist, dass der Reisende verhungert.

Wenn man sich von diesem Geschichtchen angesprochen fühlt, dann tun sich gleich eine ganze Menge fragen auf. "Warum hat denn der Diener den einfachen Befehl, ein Pferd zu satteln, nicht verstanden?" "Was ist das für eine Trompete?" "Warum hört sie der Diener nicht?" "Warum will der Mann überhaupt weg? Und was ist Wegwollen überhaupt für ein Ziel?" Und in dieser Situation fällt dem begriffsstutzigen Diener ein Butterbrot ein??

Ich will jetzt nicht versuchen, diese Fragen zu beantworten, - so interessant sie vielleicht sind; es geht mir momentan um etwas anderes: Der kleine Kafka-Text kann kaum missverstanden werden als die Beschreibung einer wirklichen Situation, selbst der Literatur-Unerfahrenste merkt sofort, dass hier eine Fantasie-Welt aufgebaut wird. Niemand will wissen, wie der Mann heißt, wo er wohnt, welche Haarfarbe er hat, wie viel Steuern er zahlt usw. Die Figuren in diesem Text sind in gewisser Weise losgelöst von den 'normalen' Gegebenheiten, in denen wir uns bewegen.Wir nennen das mal versuchsweise 'reine' Literatur, im Gegensatz zu, sagen wir, 'Gebrauchsliteratur'.

Kein Missverständnis bitte: Literatur, die ein handfestes Ziel im Auge hat, kann sehr große Literatur sein, wir schauen sie uns nur ein wenig anders an: Wenn Lion Feuchtwanger seinem Goya 'taktische' Schwerhörigkeit unterstellt, dann fragen wir uns schon, warum er sich da von den überlieferten Fakten gelöst hat.

Solche Überlegungen fallen bei unserem Kafka-Text weg, hier scheinen wir Literatur 'pur' zu haben.

Aber das war ja der Ausgangspunkt unserer Überlegungen, genauer gesagt, meiner Behauptung, dass ein Text nie 'nur' Literatur usw ist.

Als Kafka den "Aufbruch" schreibt hat er nicht mehr lange zu leben, er weiß seit 1917 um seine Tuberkulose-Erkrankung, die letzten sieben Jahre seines kurzen Lebens - er stirbt 1924 mit einundvierzig Jahren - verbringt er als Todgeweihter. Und schreibt, und schreibt, und schreibt. Eine Erzählung über einen Schausteller z.B., in der ein weltberühmter Hungerkünstler in einem Zirkuskäfig elend auf einem Häufchen Stroh stirbt; mit vergehender Stimme flüstert er einem Mann vom Zirkuspersonal zu:

Wenn wir solche (und andere) Textstellen und ein paar biografische Fakten kennen, brauchen wir die Symbolik nicht sonderlich zu strapazieren, um zu verstehen, wohin der AUFBRUCH gehen soll, und warum der Reiseproviant für den Aufbrechenden nicht wichtig ist. Plötzlich kommt der Text aus seiner 'Schwebe' herunter zu uns auf den Boden, und wir verstehen auch, warum der Diener das Pferd nicht satteln konnte. Das konnte nur einer: der Reisende selbst. Was wir übrigens besser verstehen als der Betroffene, nicht wahr?

Dieser kleine Punkt ist eigentlich ein ganz großer. Stellt euch vor, Kafka hätte statt des Textes einen Brief geschrieben: "Freunde, ich habe mein Pferd gesattelt, es gilt, eine lange Reise zu machen, für die ich keinen Proviant brauche, fragt mich nicht, wo es hingeht, ich habe die Trompete gehört, ich brauche keine Hilfe von euch, es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise." Wenn wir so einen Brief bekämen, wären wir sicher sehr betroffen. Starke Gefühle würden uns packen, wir wären entweder ganz auf den anderen gerichtet, weg von uns selbst, oder ganz auf uns selbst ("Das kann er mir doch nicht antun!"), oder eine Kombination aus beiden.

Aber die Distanz eines Literatur-Lesers, die hätten wir nicht. Als ich vorhin sagte, wir (die Literatur-Leser) verstehen den Diener besser, als sein Herr es tut, da habe ich genau diese 'Distanz' gemeint. Das ist nämlich ein ganz besonderer Zustand, in dem wir einerseits gefesselt sind (wie man so sagt), andererseits aber auch frei genug, uns von der 'Fesselung' zu lösen: Wenn das Telefon klingelt oder die Katze die Blumenvase umkippt, legen wir das Buch zur Seite und kümmern uns um die Störung. Wir reden hier von der Kraft und von der Freiheit der Kunst. Die Kunst erlaubt uns ihr nahe zu treten oder sie zu ignorieren, sie hat Kraft, aber Gewalt ist ihr fremd. In seinem Roman "Der Prozeß" verschlüsselt Kafka diesen Gedanken in einem juristischen Bild: "Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entläßt dich, wenn du gehst."

Jetzt wird es Zeit, von einer weiteren Besonderheit bei Kafka zu reden, nämlich von seiner Besessenheit, uns nicht zu täuschen, uns nicht vorzumachen, die Welt der Illusion sei die Welt der erscheinenden Wahrheit, - so wie das die Kitsch- und manche andere Filme zum Beispiel tun. Bei Kafka ist es immer klar: Das was ich hier beschreibe, ist nicht die wirkliche Welt. In dem eben erwähnten Roman "Der Prozeß" wird die Hauptfigur - auf Seite Eins - von zwei Beamten verhaftet, die ihm das Frühstück wegessen und ihm dann auch noch sein Nachthemd und seine andere teure Wäsche stehlen. Am Morgen seines dreißigsten Geburtstags! Wem hier als Leser nicht ein Licht aufgeht, wer die beiden 'Beamten' dann immer noch für Kriminalbeamte der üblichen Sorte hält, dem ist nicht zu helfen.

Genau genommen ist das keine Spezialität Kafkas, sondern das Kennzeichen jeder Literatur. Oder sogar Kunst. Es ist nur manchmal nicht so gut zu erkennen wie bei Kafka. Die Spezialität Kafkas ist es, photographisch akkurate Bilder in dieser surrealistischen Weise zu präsentieren. Man könnte sagen: Die einzelnen Bilder sind nicht zu beanstanden, aber zusammenpassen, nein, das tun sie nicht! Und doch ahnen wir, dass sie irgendwie schon zueinander gehören. Das kann ich jetzt mit den paar kurzen Textstellen, die ich zitiert habe, nicht beweisen, - aber in einer richtigen Kafka-Vorlesung mit genug Textmaterial wäre das kein großes Problem. Vielleicht machen wir das später? Jetzt möchte ich euch eigentlich nur darauf hinweisen, dass das Lochkamerafoto, das ihr auf der Eingangsseite gesehen habt, versucht, diese Idee bildlich auszudrücken, als Sehhilfe gleichermaßen.

Damit das klar ist: Ich erhebe hier keinen Anspruch auf große Kunst, nur auf ein bisschen Handwerk. Die Welt der kommerziellen Bilder ist dabei, unser Bild-Bewusstsein zu fressen. Oder anders herum ausgedrückt, wir sehen die Bilder, die Poster, die Zeitungsfotos oft schon gar nicht mehr richtig, sie sind einfach da wie das Wetter. Das bedeutet also, dass die meisten von uns 'Bild-Analphabeten' sind. Und zwar, weil wir nicht wissen, wie die Bilder entstehen. (Wenn man nicht weiß, mit welchen Intentionen die Sachen entstehen, ist man übrigens immer Analphabet in dem entsprechenden Bereich ...)

Ich habe mir also eine primitive Kamera gebaut, mit der ich Panoramaaufnahmen machen kann, eine runde Lochkamera mit (vier) Löchern rund herum. Die Kamera - so ein alter Waschpulvereimer aus Pappe - wird auf den Boden gestellt, dann werden die Löcher geöffnet, um den Film zu belichten. Es wird also fotografiert, was tatsächlich da 'draußen' ist, aber aufgrund der Konstruktion der Kamera sieht es doch beträchtlich anders aus, als wir es mit den Augen wahrnehmen. Ich denke, man kann sehen, dass die vier Bilder zusammengehören, aber eben nicht so, wie wir es gewohnt sind. Im Gegensatz zu den Bildern aus der üblichen Bilderflut nimmt man hier das Bild als Bild wahr. Das ist die kleine Parallele, die wir zur Literatur Kafkas ziehen können: die bekannte Welt in einer nicht geläufigen Anordnung.

Damit beschließe ich meine Einleitung zunächst einmal und stelle folgende (nun doch schon etwas begründete) These in den Raum:

Ach ja, noch ein Wort zu dem Hintergrundbild: Ich habe es zu Ehren von Kafka eingerichtet. Ihr erinnert euch, er hatte Tuberkulose und hatte daraufhin beschlossen, sich so zu ernähren, wie es seinen Vorstellungen schon lange entsprach, nämlich mäßig und vegetarisch. Sein Vater hatte ihm das Essen gründlich verleidet, indem er ihn oft zwang, seinen Teller leer zu essen, wenn der Junge schon längst satt war. - Als dann im Sanatorium die Krankheit Kafka immer heftiger zusetzte, zwangen ihn jetzt die Ärzte zu verschiedenen Mastkuren mit fetten Speisen. Der arme Vegetarier Kafka. Jetzt schreibt er den "Hungerkünstler" und den "Aufbruch". Einen Grashalm zu seinem Andenken!