Deutsche Welle
Deutsches Programm
"Für Aufbrüche an andere Orte
jederzeit vorbereitet"
Günter Grass im Gespräch mit Dr. Erhard Kluge anlässlich seines 7o.Geburtstages in seinem Lübecker Haus
Dr. Kluge: Herr Grass, Sie werden nun 70 Jahre alt und können auf eine lange Lebensstrecke zurückblicken. Es ist eine Zeit der ungeheuer beschleunigten und veränderten Lebensformen. Hätten Sie sich eine andere Zeit einen anderen Zeitgeist , ein anderes Jahrhundert gar gewünscht und lieber gehabt?
G. Grass: Also ich bin eigentlich nicht dazu gekommen, mir solche Wünsche zu leisten, weil dieses Jahrhundert mich gefordert hat. Es lag schon von der Thematik her fest, was meine Generation betrifft, ich war bei Kriegsende 17 Jahre alt . Da war, wie sich dann bald herausstellte, die Thematik, was das Schreiben anging, wie vorgegeben. Das ist anderen Autoren meiner Generation auch so ergangen. Und dann erlaubte natürlich die Literatur - erlaubt ja Ausflüge -, daß man sich über Phantasie und Vorstellungskraft und leidenschaftliches Interesse zum Beispiel ins 17.Jahrhundert zurückbegibt und das "Treffen in Telgte" schreibt oder im "Butt", sogar eine Zeitweil von der Jungsteinzeit bis in die Gegenwart dem Autor zugesteht. Das ist unter anderem das Reizvolle am Schreiben, daß es die Luft- und Zeitsprünge erlaubt.
Dr. Kluge: Sie haben 1945 Ihre Heimat Danzig verloren, haben sich im Westen wieder neu orientieren müssen. Heute könnten Sie vermutlich wieder in Danzig wohnen.Das bringt mich auf die Frage - Günter Grass und Heimat - . Wo sind Sie eigentlich Zuhause? Oder spielt das im 70. Lebensjahr kaum noch eine Rolle?
G. Grass: Das juckt mich heute eigentlich nicht mehr so sehr. Das war nach dem Krieg schwierig zu begreifen, daß das weg ist. Durch deutsche Schuld und Verantwortung verschleudert. Nicht nur mein unmittelbares Herkommen Danzig; denn das ist ja mit Ostpreußen - Schlesien - Vorpommern genauso. Auch, was im Westen nie so wahr genommen worden ist und auch vernachlässigt wurde, dieser Verlust an Sprache. Es war "Schlesisch" und auch "Ostpreußisch" waren literaturfähige Dialekte, die mit dem Wegsterben der älteren Generation weg sind. Ich habe mit meinen Büchern dann versucht, zumindest was das in Danziger Prägung des "Ostpreußischen" betrifft oder wie die Kaschuben es gesprochen haben , wenn sie deutsch sprachen - das habe ich mit in meine literarischen Texte hineingenommen. Aber Heimat war erst einmal verloren. Ich bin dann nach dem Krieg in Düsseldorf gewesen; da hat es mich bei Ausbruch des Wirtschaftswunders nicht mehr gehalten. Dann ging ich in das zu dem Zeitpunkt Anfang 1953 noch weitgehend kriegszerstörte Berlin, Westberlin. Habe da als Bildhauer weiter studiert. Danach war ich in Paris. Dann wieder zurück nach Berlin. Seit geraumer Zeit habe ich mein Hauptwohnsitz in Schleswig- Holstein. Erst an der Westküste, jetzt hier , an der Grenze zu Mecklenburg. Und ich bin an diesem Ort sehr gerne, inklusive zwei anderer Schreib- und Arbeitsorte, einer in Dänemark und einer in Portugal. Ich bin ein Nomade geworden und halte auch nicht viel von Wurzeln schlagen . Meine Frau ist da anders geartet, die hat also nun hier im Lauenburgischen Wurzeln geschlagen. Ich bin zu Aufbrüchen zu anderen Orten , wenn ich denn dort einen Arbeitsraum vorfinde, jederzeit vorbereitet.
Dr. Kluge: Herr Grass, in dem neuen Taschenbuch von Volker Neuhaus über Sie mit dem Titel "Schreiben gegen die verstreichende Zeit" ,kann man wieder eindrucksvoll nachlesen, wie Ihnen gleich mit der "Blechtrommel" 1958 ein Welterfolg geglückt ist. Ist das eigentlich einfach, ziemlich am Anfang der Karriere, einen solchen Erfolg zu haben. Ist damit nicht die Meßlatte sehr hoch gelegt?
G. Grass: Na, es hatte für mich erst einmal die Folge,als die Blechtrommel herauskam 1959, im Jahr davor bekam ich den Preis der Gruppe 47, bekam ich zum ersten Mal überhaupt Geld in die Hand. Ich war arm wie eine Kirchenmaus. Auch während der Zeit, in der ich die Blechtrommel geschrieben habe. Das hat mir seitdem etwas gegeben, was sich viele Autoren wünschen, zu Recht wünschen, eine wirtschaftliche Unabhängigkeit. Und das weiß ich dankbar zu schätzen, bis heute, diese Art von Unabhängigkeit. Der andere Preis, der zu zahlen war, dieser relativ frühe Ruhm, war erst mal lästig.Die großen Erwartungen, daß geht ja bis heute so nicht und das hab ich akzeptieren müssen, so wie es ist, und icn weiß nun aus meiner Schreiberfahrung heraus, daß jedesmal, wenn ich mich auf ein neues Projekt einlasse, und das ist ein größeres episches Vorhaben, ist der Arbeitsaufwand, der Konzentrationsaufwand so groß, daß ich mir gar keine Fragen stellen kann, was erwartet dieser oder jener von dir, das verschwindet alles, wird alles zur Seite geschoben. Ich kann also damit existieren.
Dr. Kluge: Hat Sie Oskar Matzerath in Ihrem Leben verfolgt, geärgert ? Oder war er ein unproblematischer Lebensbegleiter. Kürzlich hat man ja in den USA an der Verfilmung Ihrer Blechtrommel wieder Anstoß genommen, angeblich wegen pornographischer Ausformungen . Also hat er Sie manchmal geärgert?
G. Grass: Er war schon während des Schreibprozesses eine äußerst widerspenstige, fiktive Figur. Und da sich fiktive Figuren nach einer gewissen Schreibzeit, sobald sie Umriß und Unterfutter gewinnen, selbständig machen, widersprach er auch dem Autor in bestimmten Situationen. Ich hatte vor, unter anderem ihm meine Schwester zu geben. Und das wollte er nicht - er wollte Einzelkind sein und bleiben. Und da ich das unbedingt durchsetzen wollte, hat er so sperrig reagiert, daß ich also eine regelrechte Schreibsperre hatte , eine Zeitlang, bis ich nachgegeben habe. Nun hatte ich diese Schwester im Kopf , sie war da und das ist dann die spätere Tulla Pokriefke, die in "Katz und Maus" und "Hundejahre" auftauchte. Das konnte er nicht verhindern. Aber es war sein Protest spürbar. Und dann, viele Jahrzehnte später, als ich an der Stoffmasse der "Rättin" saß, war er auf einmal da. So wie es um die sogenannten neuen Medien ging, die dort ja eine ziemliche Rolle spielen in diesem Roman, sagte er, da gehör' ich dazu, nicht wahr, ich bin immer mit Medien befaßt gewesen, von der "Blechtrommel" angefangen bis zu dem Rückwärtstrommeln in der Nachkriegszeit , als er sein Geld damit verdiente. Und in der Tat, als ich ihn dann auch nicht loswurde, war er sehr anständig in diesem Buch "Die Rättin". Es war nun kurz vor seinem 60. Geburtstag. Und das ließ sich ganz zwanglos in das Romangeflecht einfügen.
Dr. Kluge: Vor genau 10 Jahren haben Sie auch in einem Interview mir gesagt, "aber es passiert ganz selten, daß ich noch mal ein Buch von mir ganz und gar lese. Das habe ich mir für späteres Alter vorbehalten." Jetzt haben Sie 23 CDs ihrer ganzen Blechtrommel noch einmal gelesen. 28 Stunden lang. Was war das denn für ein Gefühl ?. Was war denn das für eine Art Wiederbegegnung? Läßt sich das beschreiben?
G. Grass: Ich weiß nicht, ob es sich beschreiben läßt. Ich kann einige Dinge nennen, während des sehr anstrengenden Vorganges . Das passierte alles in Göttingen auf einer Studienbühne des Deutschen Theaters mit Publikum. Ich hätte das nicht ohne Publikum lesen können. Und das Publikum hat mir auch geholfen durchzuhalten, stimmlich durchzuhalten. Und mir ist immer wieder aufgefallen, wie mir beim Lesen, beim Vorbereiten der Lesung ,aber auch beim öffentlichen Vortrag der jeweiligen Kapitel die Schreibsituation zumeist in Paris, wo ich das Buch in größerem Umfang geschrieben habe, eingefallen ist. Schreibsituationen, bestimmte Varianten , verworfene Varianten. Und ich mußte dann aufpassen, daß ich mich an den Text hielt, denn das gedankliche Abschweifen wäre der Konzentration denn doch auf Dauer abträglich geworden.
Dr. Kluge: Wenn man stolz auf etwas ist, erzählt man auch gern davon. Sind Sie stolz auf Ihre kaschubisch-deutsche, multikuturelle Herkunft?
G. Grass: Ich will nicht sagen, daß ich stolz bin, aber ich bin gewiß, daß mich diese doppelte Verwurzelung reich gemacht hat. Ich verfüge über mehrere Quellen. Hinzu kommt nun noch, daß ich von mütterlicher Seite mit mehreren Talenten ausgestattet wurde, nicht nur was das Schreiben betrifft, sondern eben auch das Zeichnen. Und mir hat sich diese Frage: "Bin ich nun in erster Linie Schriftsteller und in zweiter,- wenn überhaupt, Graphiker?" hat sich mir nie gestellt. All das Ausschöpfen, was als Vorgabe von meiner Mutter,also mütterlicherseits gekommen ist, das ist für mich eine Selbstverständlichkeit geworden. Stolz, ich weiß nicht, stolz vielleicht, daß es mir gelungen ist, wie übrigens anderen Schriftstellern auch mit anderen Regionen oder anderen Gebieten,durch Politik und verbrecherische Politik Verspieltes soweit zurückzugewinnen, wie es überhaupt möglich war mit literarischen Mitteln. Also die durch den Krieg zerstörte Stadt und als Heimat für hunderttausende Menschen verlorene Stadt wie Danzig und die Umgebung wieder zu beschwören, literarisch zu beschwören, sie wieder entstehen zu lassen. Da empfinde ich doch ein gewissen Stolz, daß das gelungen zu sein scheint.
Dr. Kluge: Herr Grass, vor ziemlich genau 50 Jahren fing es mit der Gruppe 47 an. 1968 war damit Schluß. Am Ende Ihres Buches "Das Treffen in Telgte" steht der Satz: "Doch hat uns in jenem Jahrhundert nie wieder jemand in Telgte oder an anderem Ort versammelt. Ich weiß, wie sehr uns andere Treffen gefehlt haben." Hat Ihnen die Gruppe 47 gefehlt?
G. Grass: Ja, ganz gewiß, für mich ist das - wir leben ja als Schriftsteller - das muß ich ja vorweg sagen, in Deutschland jeweils in unserer Provinz ,in der Zerstreuung. Wir haben kein Paris - auch kein Kopenhagen , sozusagen kulturelle, literarische Hauptstädte. Berlin stellt zwar gelegentlich diesen Anspruch, erfüllt ihn auch nicht, hat ihn nie erfüllt. Da ist auch gut so. Das ist auch andererseits ein Reichtum, daß wir die vielen provinziellen Zentren haben , ohne daß es provinziell sein muß. Und dennoch fehlte das. Daß Hans Werner Richter es konnte und verstanden hat, zum ersten Mal in Deutschland etwas ganz Ungewöhnliches zu machen: Eine Vereinigung von Schriftstellern ohne Mitgliedschaft ohne Statut, ohne Vereinsmeierei, das heißt, ohne Vorstand, ohne Kassenwart und sonstige Querelen. Nur seine einladenden Postkarten waren maßgebend. Und so gelang es ihm , uns einmal im Jahr für drei Tage die Illusion einer literarischen Hauptstadt zu suggerieren. Wir waren da versammelt und man konnte da seine besten Freunde und Feinde finden. Unabhängig davon, ob Freund oder Feind , erfuhren wir wechselseitig, was wir in Arbeit hatten, welchen Schwierigkeiten wir konfrontiert waren. Wir konnten uns darüber austauschen. Auch das während der oft langwierigen , jahrelang andauernden Arbeitsprozesse sich einstellende Gefühl von Vereinsamung wurde für ein paar Tage aufgehoben. Wir erfuhren, daß es anderen genauso geht. Daß wir vergleichbare Berufskrankheiten haben etc, etc. Und das fehlt, glaub' ich, den jüngeren Autoren in Deutschland. Hans Werner Richter hat es verstanden, als ein aufgeklärter Despot, der er war, uns auch Maßstäbe zu setzen , auch Verhaltensformen, auch eine gewisse Portion an Toleranz uns abzufordern., anderen Stilrichtungen gegenüber , die dort zur Sprache kamen. Das ist, glaub' ich, eine Erfahrung für die ich sehr dankbar bin, auch nachträglich Hans Werner Richter sehr dankbar bin. Ich habe eine Vielzahl von jetzt zum Jubiläumsjahr von Artikeln gelesen, die sind an Dürftigkeit kaum zu überbieten. Ein gewisser Professor Baring mokiert sich da über die Qualität, die literarische Qualität von Hans Werner Richter. Wenn er als Historiker das zustande brächte , was Richter mit seinem, zugegeben nicht breitgelagerten Talent, dennoch gemacht hat als Autor wie als Inspirator dieser Gruppe 47 ; wenn er das geleistet hätte, würde er sich nicht so unverschämt dazu äußern. Ich möchte das an dieser Stelle einmal sagen. Da gibt es eine ganze Reihe von Stimmen, die ich als anmaßend und unerträglich finde und das reißt offenbar hierzulande immer mehr und mehr ein. Die wenigen Dinge, die nach wie vor aus der Nachkriegsgeschichte der alten Bundesrepublik herausragen und die vorzeigbar sind, zu dem gehört die Gruppe 47. Die Tendenz, auch das noch zu zerreden und kaputt zu machen, ist sehr groß. Ich kann's nicht ändern. Für mich und für viele Autoren, ob sie es wahrhaben wollen oder nicht, ist diese Zeit der Gruppe 47 sehr wichtig gewesen. Und für jüngere Autoren fehlt etwas Vergleichbares.
Dr. Kluge: Herr Grass, wie steht es überhaupt mit der Freundschaft unter Literaten oder auch mit der berühmten Solidarität der Einzelgänger? War das für Sie überhaupt einmal ein Problem?
G. Grass: Ich glaube, daß das auch zu den beabsichtigten oder unbeabsichtigt unter- laufenden wunderbaren Ergebnissen geführt hat ,die Hans Werner Richter vermitteln konnte. Das war auch dort, wo wir gegensätzlicher Meinung waren und sind, das reicht bis in die Gegenwart hinein, kollegial miteinander umgegangen sind. Es hat ja die Versuche gegeben, auf Grund der politischen Distanz, die in den letzten Jahren, sagen wir mal zwischen Martin Walser und mir oder Enzensberger und mir, eingerissen ist - diese Position gegeneinander auszuspielen, das ist nicht gelungen. Ich bin zwar anderer Meinung in der Einschätzung des Einigungsprozesses als Martin Walser, aber er ist mir nach wie vor ein liebenswerter Kollege und das ist wechselseitig.
Dr. Kluge: Viele jüngere, wie John Irving oder Salman Rushdie, beziehen sich auch auf Sie - und haben von Ihnen gelernt. Stehen Sie mit denen auch in Kontakt?
G. Grass: Ja. Ja mit Salman Rushdie ist es natürlich durch diesen Todesbann und dieses Todesurteil erschwert ,und nur unter bestimmten Bedingungen kann man sich alle paar Jahre mal irgendwo sehen. Mit Irving stehe ich im Briefwechsel, mit anderen Autoren auch. Mich amüsiert es eigentlich, daß meine Art zu schreiben und Stoffe anzugehen im Ausland mehr Schule gemacht hat als in Deutschland.....
Dr. Kluge: ....das "Zirkuskind" hat mich sehr an Sie erinnert....
G. Grass: ......noch stärker die früheren Romane von John Irving und er bekennt sich ja auch dazu. Und es trifft auf Rushdie auch zu, was die ersten beiden Romane betrifft , "Mitternachtskinder" und "Scham und Schande". Und wenn man von Schülern spricht, sind es immerhin so begabte, begnadete Schüler, daß sie nie Gefahr gelaufen sind ,zu Epigonen zu werden. Sie lassen es mit einer gewissen Souveränität behandeln wie ich es auch gewohnt bin. Für mich ist, ohne daß ich den Mann habe jemals kennenlernen dürfen, Alfred Döblin, der große Lehrer gewesen. Der hat ein Romanwerk, ein episches Werk, hinterlassen, das nicht so geschlossen ist, wie -sagen wir mal ganz personenbezogen - wie es bei Kafka der Fall war oder auf ganz anderer Art bei Thomas Mann der Fall ist. Jeder Autor, der dort anknüpft, bei Kafka oder bei Thomas Mann läuft Gefahr, zum Epigonen zu werden. Bei Döblin ist das anders. Der war so reich in seinen epischen Einfällen, in seinen neuen Möglichkeiten des Erzählens, das er manches nur angerissen hat. Da konnte man anknüpfen, das konnte man weiterführen.
Dr. Kluge: Sie haben viel Geld für Preisstiftungen ausgegeben. Sie haben den Döblin-Preis gestiftet, einen Preis für polnische Graphiker; jetzt wieder einen. Sie sind damit eigentlich ziemlich singulär. Warum eigentlich?
G. Grass: Das kann ich nicht beantworten. Für mich ist es so gewesen, daß ich mit meinem Handwerk , dem des Schriftstellers, gelegentlich Überschüsse erwirtschaftet habe. Immer, wenn ein Roman, wie der Butt zum Beispiel, von vielen Lesern angenommen wurde, stellte sich heraus, hier ist eine Summe, mit der du, in dem Fall Alfred Döblin, Dank abstatten kannst und auch etwas für die Gegenwartsliteratur tust. Der Preis ist ja besonders ausgestattet: Er wird für Manuskripte verliehen. Nun erinnere ich mich sehr wohl, in welch einer Situation sich ein Autor befindet, dem das Geld, das ohnehin nie dick da war, ausgegangen ist, und er hat vielleicht aber noch einhundertfünfzig Seiten vor sich. Und auch die schon fast fertigen Seiten sind noch nicht ganz fertig. Und wie hilfreich da ein Preis sein kann - zum Beispiel"Preis der Gruppe 47" - für mich im Jahre '58. Und so habe ich dieses Statut des Dublin-Preises dann auch gestaltet. Und bei dem zweiten.Preis ist es so, daß nach- dem nun auch die CDU/CSU gezwungen war, im Prozeß der Deutschen Einheit als Vorbedingung endlich die Oder-Neisse-Grenze anzuerkennen, wurde das Verhältnis zu Polen entspannter. Das durfte nicht alleine nur beim Politischen bleiben. Da muß auch etwas, zum Beispiel zwischen den Künsten geschehen und so ist dieser ein Preis zugunsten polnischer Graphiker und Chodowiecki war halt polnischer Herkunft, von der mütterlicher Seite kalvinistisch, schweizerisch ,hat aber als ein preußischer Beamter die preußisch- königliche Akademie der Schönen Künste reformiert, war halt ein Mann der Aufklärung, also eine wunderbare Personalkombination. Hinzu kam auch noch, daß er aus Danzig stammte, das war der zweite Preis. Und die dritte Stiftung bezieht sich also auf mein politisches und gesellschaftliches Tun. Diese Gruppe von Menschen in Deutschland, es sind zumeist Sinti, die auch zum Volk der Roma gehören, sind bis heute die Benachteiligten. Ihnen steht kein Staat Israel zur Seite. Sie sind nicht so gut organisiert wie größere Bevölkerungsgruppen, sei es die Türken, sei es die Italiener, die ins Land gekommen sind und hier versuchen, Fuß zu fassen oder schon Fuß gefaßt haben. Ihnen hilft niemand.Sie müssen für alles mögliche geradestehen,auch für unseren dämlichsten Aberglauben. Für uns sind Zigeuner wunderbar in der Operette. Wer künstlerisch anspruchsvoller ist ,greift auf Brahms-Lieder zurück oder auf Lenau-Gedichte. Aber sobald sie in die Nachbarschaft ziehen, setzt diese erbärmliche Verunsicherung ein und schlägt sich nieder in Distanz und Ablehnung. Und deswegen habe ich diese dritte Stiftung zugunsten des Volkes der Roma geschaffen. Auch das soll mit einem Preis verbunden sein. In diesem Fall geht es zurück auf einen meiner ersten Lehrer auf der Düsseldorfer Kunstakademie ,Otto Pankok , dem ich viel verdanke in künstlerischer Beziehung. Aber er hat uns Schüler - und das war 1949, 50, 51 - in der Zeit war ich bei ihm ,er hat uns viel im Umgang mit in Deutschland lebenden Sinti und dort schon seit Generationen ansässigen Sinti, vermittelt. Er hat sie ja nicht nur als Modelle gehabt, sondern sie gehörten zu seinem Atelier und auch zu unserem Ateliers - und er hat uns gelehrt, mit ihnen umzugehen. Das hat sich bei mir niedergeschlagen. Bei ihm schlug sich das in wunderbaren Kohlezeichnungen nieder, und auch dieses ist eine Art Dankabstattung.
Dr. Kluge: Herr Grass, das alles zu überblicken und in Gang zu halten kostet ja viel Zeit, wie machen Sie das?
G. Grass: Mit Hilfe meiner Sekretärin. Das hat über drei Jahrzehnte Eva Hönisch in Berlin gemacht und nun machts Frau Ohsoling hier in Lübeck ,und beide verstehen es, die Post vorzusortieren und sie mir so zu legen, daß ich also auch zu Antworten komme ,soweit es möglich ist . Und beide sind mir, die eine war es, die andere ist es, jetzt behilflich ,die schwierige Kunst des Neinsagens zu üben. Das ist vordringlich. Die Arbeit, die ich auch nur machen kann, muß weitergehen und diese Dinge stehen im Vordergrund.
Dr. Kluge: Aber Sie entschädigen sich , glaube ich auch , dadurch ein bißchen selbst, daß Sie auch die sinnliche Seite des Lebens zu schätzen wissen? Günter Grass und das Essen. Was mögen Sie eigentlich am liebsten? Was haben Sie sich als Geburtstags-Menü gewünscht?
G. Grass: Also mein Geburtstags-Menü nimmt Rücksicht auf unsere acht Kinder und mittlerweile neun Enkelkinder ,und insbesondere auf die.Und das wird gemischt sein. Aber es ist auf jeden Fall nicht nur Fleisch - es ist auch Fisch dabei. Ich selbst bin ein begeisterter Fisch-Esser und auch Fischkoch und bin ein Fischverwerter in jeder Beziehung. Also oft, wenn ich die Zeit habe, in Dänemark oder in Portugal, dann kaufe ich den Fisch, dann zeichne ich ihn erst ,und dann wird er gebraten oder gesotten oder gedämpft oder gedünstet. Und dann bleibt auch noch mit Kopf und Gräte und Schwanz etwas übrig, was auch noch bis zum Restzustand gezeichnet sein will.
Dr. Kluge: Herr Grass, nun mal zur Literatur . Deutsche Literatur sei schwierig, zu kompliziert, sei zu vielschichtig zu esoterisch. Mit dieser These haben Sie sich schon 1974 auseinandergesetzt. Ist da eigentlich etwas dran?
G. Grass: Ich halte das für arrogantes Feuilleton-Gefasel. Man will einfach nicht zur Kenntnis nehmen, daß es im deutschsprachigen Bereich eine Vielzahl von sehr guten Erzählern gibt, die natürlich keine bloße Unterhaltungsliteratur schreiben. Aber sie unterhalten auch und erzählen mit Anspruch. Fordern den Leser auch heraus. Ich könnte Ihnen, nur um nur Beispiele zu nennen aus der Bundesrepublik, Gerhard Köpf nennen, der wunderbare Romane voller praller Erzählung geschrieben hat, und das wird einfach so abgetan. Oder in der Schweiz, was ja auch nicht einfach ist, in der Nachfolgegeneration von Frisch und Dürrenmatt damals für jüngere Autoren. Gerold Späth ist seit Jahren, seit Jahrzehnten dabei, einen wunderbaren Roman nach dem anderen vorzulegen. Ganz auf sein Rappeswiel und das Umfeld konzentriert ,ein großartiger Erzähler.Und dennoch werden die Werke dieser Autoren von Verlag zu Verlag verschoben. Feuilletonbengels, anders kann ich es nicht nennen, tun das ab als zu kompliziert,als nicht präsent und mokieren sich darüber. Vieles von dem, was man so zu hören bekommt und was leider auch über die Kultursendungen läuft, fundiert auf Unwissenheit oder auf Ignoranz, was noch schlimmer ist. Sie wissen es ganz genau, daß diese Autoren da sind, aber sie reden sie weg ,oder sie verschweigen sie, oder sie behaupten Dinge, die einfach nicht stimmen. Es gibt diese Literatur, es gibt sicher auch Dinge, die ich kritisiere. Zum Beispiel kann man durchaus feststellen, daß es der 68er Generation nicht gelungen ist , ihr eigentliches Thema, die Veränderungen ihrer Zeit, an der sie ja zum Teil mitgewirkt haben, trotz mittlerweile gehörig zeitlichem Abstand, in Literatur umzusetzen. Delius ist eine Ausnahme. Ganz wenige hat es gegeben.
Dr. Kluge: Aber es ist ihnen nicht gelungen, praktisch ein neues "Treibhaus" wie in den fünfziger Jahren Wolfgang Köppen zu schreiben?
G. Grass: Nein, das ist nicht gelungen.Und was ich hoffe oder vermute - und ich glaube, daß ich da nicht falsch gehe - ist ,daß aus den neuen Bundesländern ,den ostdeutschen Bundesländern ein Schub Literatur zu erwarten ist . Weil dort Verluste stattgefunden haben und weiterhin stattfinden. Identitätsverluste. Diese Inbesitznahme, das ,was Beitritt genannt wurde, wurde zum Anschluß.Das Geld kam, griff zu. Das, was gelebt worden war in der DDR unter den Zwangsbedingungen. Eine Diktatur wurde als verpfuschtes Leben abgetan, aus westlicher Sicht. Diese Art von Verletzungen wird zu Literatur führen. Das sind Dinge, die sich wahrscheinlich bei den zum Zeitpunkt erst 17-,18-,19jährigen festgesetzt haben in Literatur umschlagen.
Dr. Kluge: Wir sprachen jetzt von der epischen Literatur. Sie haben einmal als Dramatiker begonnen, große Erfolge gehabt. Dann doch eigentlich ganz aufgehört. Trauen Sie dem Theater keine Wirkung mehr zu?
G. Grass: Also, das muß ich korrigieren. Angefangen habe ich als Lyriker. Dann kamen Theaterspiele dazu, - Einakter - und die sind natürlich nicht erfolgreich gewesen. Das war in einer Zeit, was die Bühnenliteratur betraf, sondern insgesamt deutsche Literatur nicht zählte. Es mußte schon aus dem Ausland kommen. Also es wurden Adamov und Beckett natürlich und Ionesco gespielt. Aber was Hildesheimer und ich am Theater vorlegten, das wurde zwar in das Kästchen "absurdes Theater" getan ,aber gespielt wurde es von Studentenbühnen und damit war es auch vorbei. Erfolg hatte erst ein Jahrzehnt später entstandenes Stück "Die Plebeier proben den Aufstand". Aber auch das ist nur ein temporärer Erfolg gewesen, weil dieses Stück bis heute querliegt. Es spielt um den 17. Juni herum.Es ist das einzige Theaterstück zu diesem Thema ,das geschrieben worden ist. Es geht an gegen beide Verfälschungen: die der "Konterrevolution" in der DDR und das Umlügen eines Arbeiteraufstandes zu einem "Volksaufstand" durch Konrad Adenauer, also gegen beide Fiktionen geht dies Stück vor und hat zudem auch noch am Verhalten Brechts während des 17. Juni - eine Konzentration auf eine intellektuelle Machtposition im Gegensatz zur politischen Machtposition - Kritik geübt. Wie verhält sich der Intelektuelle, wie wird er schuldhaft? In dem Augenblick ,in dem die Realität auf die Bühne kommt und ihn beim Wort nimmt. Das ist das Thema dieses Stückes . Und das ist, ich hab' es dann mir wieder noch einmal angeschaut 1968, äußerst aktuell geblieben. Nur gehen keine Theater an das Stück heran. Es ist nach wie vor brisant. Und um auf den Kern Ihrer Frage zu kommen: Schon zu der Zeit, als die "Plebier" herauskamen, begann sich im deutschsprachigen Theater das "Regietheater" durchzusetzen. Also die Möglichkeit ,für mich als Autor mit meinem Stück, in Zusammenarbeit mit dem Regisseur und den Schauspielern, eine spielfähige Vorlage zu erarbeiten, wurde immer geringer. Die Regisseure wollten eigentlich ein Libretto haben, über das sie frei verfügen konnten. Oder sie griffen auf Autoren zurück, die tot sind wie Shakespeare und sich nicht mehr wehren können. Und verhackstückten dann den Shakespeare. Anfangs gab es ja sehr begabte Regisseure darunter, die auch Sehenswertes gemacht haben und die sich mit Hilfe der Stücke dieser toten oder lebenden Autoren selbst realisiert haben, als Regisseure.Nus,dem wollte ich nicht zuarbeiten. Das könnte ich auch nicht. Das hat mich dazu gebracht, dann eben auf diese literarische Disziplin, die mich immer sehr gereizt hat, zu verzichten.
Dr. Kluge: Wie steht es denn eigentlich mit der Poesie. Ich kann mich noch als Kind erinnern, da gab es kaum eine Geburtstagsfeier, eine Hochzeit, ohne daß da gedichtet wurde. Es waren so viele Talente da, die Stegreif-Gedichte produzieren konnten. Ich glaube, Sie können das auch. Verschwindet eigentlich so ein Stück Poesie aus unserem Leben?
G. Grass: Das gibt es doch heute kaum mehr. Ich habe ja ein Faible für große Familiengeburtstage. Und kürzlich noch, also war es ein runder Geburtstag meiner Schwester, da waren mehrere dieser Generationen in der Lage, mit Stehgreifgedichten oder mit vorbereiteten Gedichten beizutragen am Geburtstagsprogramm, und die Kinder und Kindeskinder haben gestaunt. Und vielleicht ist das eine oder andere hängengeblieben und führt dann dazu, daß sie es wieder aufgreifen. Als ich jetzt kürzlich in Berlin war, lag dort mein letzter Gedichtband ,die "Fundsachen für Nichtleser". Dieser Gedichtband ist ja meinen Enkelkindern gewidmet. Und eines meiner Enkeltöchter ,Rosanna, war auch schon in der Lage, ohne daß jemand sie dazu aufgefordert hatte, ein Gedicht auswendig aufzusagen, das ihr besonders gefallen hatte. Und das find ich sehr schön.
Dr. Kluge: Überwältigendes Thema dieses Herbstes soll die hoffnungslose Beziehung von Mann und Frau sein in der Literatur. Könnte Sie eine solche Thematik auch reizen?
G. Grass: Schon von der Fragestellung her find' ich die eher komisch und absurd. Daß das eine schwierige Beziehung ist, wer will das bestreiten. Daß sie die Literatur immer wieder zu Dreiecks- und Vierecksgeschichten in allen möglichen Varianten befruchtet hat, wer will das bestreiten? Mich hat das nie so im Vorrang interessiert. Auch in meinen Büchern kommen diese Beziehungen vor, aber das eigentliche Geschehen, das epische Geschehen, wird von anderen Dingen bewegt. Ich könnte es nie darauf, was ja viele Schriftsteller tun, darauf reduzieren.
Dr. Kluge: Sie haben in Ihren großen Romanen ,vor allem im "Butt", noch Frauenschicksale erzählt. International mischen sich aber eigentlich heutzutage die Männer weniger in Frauensachen ein und auch umgekehrt. Ist das bedauernswert?
G. Grass: Ich weiß nicht, ob das weiter so stimmt. Also Garcia Marques hatte eine wunderbare Liebesgeschichte "in den Zeiten der Cholera" erzählt. Es gibt nach wie vor gerade auch bei der älteren Generation der Autoren eine Beziehung dazu, nur reduzieren sie es nicht auf diese angeblich so hoffnungslos und tragisch und immer tragischer ausgehende Beziehungskiste zwischen Mann und Frau. Es läuft vieles, viel episches Geröll ist im Gange. Und so ist es auch bei mir.Im "Butt" sind diese Vielzahl von Frauenfiguren, die ich durch die Jahrhunderte hinweg tätig sein lasse, nicht reduziert auf ihr jeweiliges Liebesverhältnis, das läuft so mit. Sie sind mit dem Kochen, sie sind mit neuen Gerichten, sie sind mit dem Ernähren befaßt und müssen auch ihre Art von Selbständigkeit, die natürlich im Mittelalter eine andere gewesen ist als heutzutage, auch kräftig verteidigen. Das sind die Themen, die mich interessierten.
Dr. Kluge: Volker Neuhaus, wir hatten es am Anfang ja schon erwähnt, hat Ihre Geburtstagsmonographie "Schreiben gegen die verstreichende Zeit" betitelt. Hat er damit eigentlich Ihr Lebensthema getroffen?
G. Grass: Das ist ein Zitat aus einem Buch, das auch wieder recht aktuell geworden ist aus dem "Tagebuch einer Schnecke". Und dieses Buch ist ja um 1968geschrieben worden. Damals hatten wir die junge Generation ,die 68-Genration, die meinten, die Schnecke, so was langweiliges, langsames kommt für uns nicht in Frage. Man träumt ja von dem großen Sprung. Und ich habe davor gewarnt. Ich wußte, daß man zwar springen kann, aber sich die übersprungene Phase nicht beeilt, die hinkt dann hinterdrein.
So ist es dann leider auch politisch gewesen und bis heute geblieben. Und dieses Buch ist ja an meine Kinder gerichtet. Ich erzähle ihnen u.a. die Geschichte der Danzinger Synagogengemeinde, ich berichte aus dem Wahlkampf des Jahres 1969. Ich erzähle von der Vorarbeit einer Rede, die ich halten soll zum Dürer-Gedenkjahr. Über Dürers Kupferstich-Melancholia1 ,also über die Beziehung zwischen Melancholie und Utopie, und werde dann von meinen Kindern gefragt, was ist das "Schriftsteller"? Sie sind ja mit meiner Tätigkeit konfrontiert,und dann sage ich: "Ein Schriftsteller ist jemand, der gegen die verstreichende Zeit schreibt. Er hat in erster Linie mit Vergangenheit zu tun". Später hat sich dann bei mir der Zeitbegriff etwas verändert und verschoben. Mir ist aufgefallen, daß, zumindest aus der Sicht eines Schriftstellers, dieses Korsett, was wir uns angelegt haben und das da sagt, erst war die Vergangenheit, dann kommt die Gegenwart und danach kommt die Zukunft, doch sehr eng ist. Zumal wir in Wirklichkeit in unseren Träumen, in unseren Tagträumen, in unseren inneren Monologen dauernd Vergangenheit und Gegenwart mischen mit Zukunftsängsten. Die drei Dinge sind miteinander verbunden und dann hab' ich in einem kürzeren Buch "Kopfgeburten oder die Deutschen sterben aus" diesen Begriff der Vergegenkunft für mich erfunden und auch als handwerkliche Grundlage benutzt. Bücher, wie zum Beispiel auch "Das weite Feld" aber auch "Das Treffen in Telgte" arbeiten mit diesem Zeitbegriff der Vergegenkunft. Dieses Hineinholen zurückliegender Phasen, die auf einmal gegenwärtig werden und mit denen wir auch noch in Zukunft zu rechnen haben ,oder eine Gegenwart, auf die die Zukunft schon so kräftige Schatten wirft, daß dem kaum auszuweichen ist, das sind die Dinge, die mich dazu geführt haben mit einem anderen Zeitkonzept zu arbeiten.
Dr. Kluge: Aber als das große "Dennoch" gegen die Vergänglichkeit wollen Sie das nicht verstanden wissen?
G. Grass: Das spielt sicher mit eine Rolle. Ich sagte es ja vorhin schon, daß es - sie fragten mich nach partiellem Stolz - und da ist es ein Stolz, daß es mir gelungen ist, politisch verspieltes Terrain ,also zum Beispiel meine Heimatstadt Danzig ,literarisch wieder entstehen zu lassen. Das ist sicher auch gegen die Zeit ein Stück Triumph, daß die Literatur so etwas leisten kann.
Dr. Kluge: "Kalkutta sehen und weiterleben", haben Sie im "Butt" einmal geschrieben. Hatten Sie in Indien Ihr Saulus-Paulus- also Ihr Damaskus-Erlebnis, was Ihre, unsere Ansichten von der Dritten Welt angeht?
G. Grass: Also dramatisch seh' ich das nicht. Ich kannte ja Indien vorher und hatte mit meiner Frau einige Asienreisen gemacht.Nur wußte ich von einem vorherliegenden Besuch, daß ich an keinem anderen Ort außer Kalkutta aus meiner Erfahrung die Probleme der Dritten Welt und auch unserer Welt ,der reichen und vorherrschenden Welt miteinander mischen ,miteinander präsent sind und dort wollte ich längere Zeit leben. Und dieses längere Erleben dort hat mich erst einmal sprachlos gemacht:das genaue Hinsehen, wobei mir dann übrigens das Zeichnen geholfen hat. Durch das Zeichnen bin ich dann auch wieder zu Wörtern gekommen. Und so ist aus der Notlage heraus - der anfänglichen Notlage heraus - auch das Konzept eines Buches zu bezeichnen, entstanden, indem ich meine Möglichkeiten des Prosaschreibens im Tagebuchbericht ("Zunge zeigen"), der Lyrik mit einem langen Kalkutta-Gedicht und mit einer Vielzahl von Zeichnungen vom Überlebenskampf in Kalkutta Bericht gebe.
Dr. Kluge: Sie waren ja in Kalkutta ein Fremder. Wie sind Sie als Fremder dort wahrgenommen worden?
G. Grass: Sehr freundlich, sehr freundlich, aber - wissen Sie - das liegt auch daran , manche machen den Versuch und sagen:"So jetzt versuch ich mich mal dem anzupassen". Was in der Regel mißlingt und dann zur Enttäuschung führt. Mir war das von Anfang an klar. Auch, wenn ich dort längere Zeit bleiben würde ,und zwei Jahre würde ich fremdbleiben. Das ist gar nicht aufzuheben. Aber mir kam es auch darauf an, daß Fremdbleiben als etwas zu beschreiben, was dazugehört.
Dr. Kluge: Sie sind Schreiber, bildender Künstler - wir haben es gerade auch kurz gestreift - Leser aber auch ein begnadeter Vorleser, lassen Sie mich das ruhig mal so sagen. Ist der Vorleser ,der öffentliche Mensch Günter Grass eine Lieblingsrolle von ihnen?
G. Grass: Das Lesen, Lautlesen ist etwas, was bei mir mit dem Schreibprozeß verbunden ist. Ich schreibe laut. Zum einen ,ich schreibe im Stehen. Ich gehe vor meinem Stehpult auf und ab und spreche den Satz oder die Satzperiode so lange vor mich hin, verändere sie dabei, bis sie nicht nur geschrieben sondern auch gesprochen Bestand hat. Das geht wahrscheinlich darauf zurück, daß Verständnis von Literatur davon ausgeht, daß die Literatur in ihren Anfängen oral gewesen ist. Es wurde weiter erzählt. Das Schreiben ist erst später dazu gekommen. Und aus dieser Schreibübung, die eine laute ist ,also eine laut vortragende, hat sich bei mir auch das Vergnügen entwickelt, von Zeit zu Zeit vor Publikum zu lesen. Das war früher exessiver, weil ich auch sehr gerne aus dem Manuskript vor Publikum gelesen habe. Und das kann ich heute nicht mehr, dann wird sofort das Thema ,an dem ich noch arbeite, in der Öffentlichkeit zerquatscht ,und das ist seit dem"Butt" leider nicht mehr möglich.
Dr. Kluge: Lesen will gelernt sein. Wir wollen ruhig mal eine Lanze für das Lesen brechen. Lesen braucht aber auch Tradition, Familientradition, haben Sie schon 1974 einmal gesagt. Vom Nutzen und Nachteil des Lesens für das Leben spannt sich der Bogen in dieser Diskussion. Vom Lesen als Lebensmittel sozusagen sogar bis zu der Behauptung:"Lesen hält vom Leben ab". Ist da was dran?
G. Grass: Für das Lesen , für diesen Vorgang gibt es in unser surrogatreichen Welt kein Surrogat. Gut, man kann lesen lassen, das tun gelegentlich Politiker mit entsprechendem Ergebnis. Aber dieser Vorgang ja am besten dargestellt, wenn man sich erinnern möchte, an einer Plastik von Barlach, "Lesender Klosterschüler" heißt sie. Sie zeigt einen jungen Mann, Knaben fast, mit einem Buch. Und diese Art von Versunkenheit, von Einheit, ein Mensch und ein Buch. Dafür gibt es keinen Ersatz. Wie auch das Lesen mit anderen auf Medien bezogene Tätigkeiten ohne Vergleich ist. Das Fernsehen bedient den Zuschauer, er muß nichts tun. Die Bilder sind fix und fertig und löschen sich gegenseitig. Während der Leser ein abstraktes Schriftbild zu imaginieren hat. Er belebt es. Das Buch ist tot ohne den Leser. Erst wenn der Leser auftritt, es in die Hand nimmt und anfängt zu lesen, entsteht es wieder. Das ist wunderbar und möchte ich ,soweit es mit den Möglichkeiten eines Schriftstellers noch getan werden kann, fördern. Ich fände es zum Beispiel auch im Schulunterricht viel nützlicher und viel dem Buch förderlicher und auch den Schülern förderlicher, wenn man weniger Interpretation leisten würde und mehr zum Beispiel das laute Vorlesen lernen würde. Regelrecht lernen, weil, mit diesem Lesen , mit dem lauten Vorlesen nicht nur der Leser etwas für sich vermittelt, sondern er vermittelt auch den Zuhörenden etwas. Ich bin auch sicher, daß in der jungen Generation die Übersättigung durch das derzeitige neue Medienangebot schon angefangen hat und das sich mehr und mehr junge Menschen im Vergleich zur älteren Generation, die noch fernsehtrunken ist, davon abwenden werden, bemerken werden, was tu ich meiner Zeit und die zum Buch zurückfinden werden.
Dr. Kluge: Ich möchte eigentlich doch hier noch mal auf ein anderen Aspekt kommen. Die Zeitgenossen haben Schillers "Räuber" oder Büchner oder.Fontanes "Stechlin"aber auch Thomas Manns"Doktor Faustus" oder Wolfgang Köppens "Das Treibhaus", wir erwähnten es gerade, anders gelesen als wir heute. Nimmt die historische Distanz diesen Büchern eigentlich die politische Schärfe und Wirkung?
G. Grass: Sicher, das was aktuell an politischer Schärfe da war, verliert sich. Ich habe das ja bemerkt, also bei den Auseinandersetzungen um meinen Roman ein weites Feld, da wurde mir unter anderem der Vorwurf gemacht, daß ich zu nah an der Geschichte dran sei und Literatur benötige eine gehörige Distanz. Und das ist natürlich leicht zu widerlegen. Sie haben gerade Fontane genannt. Nehmen wir den "Stechlin". Dieses Buch ist parallel zur Zeit geschrieben worden. Im "Stechlin" wird zum ersten Mal ein Wahlkampf, das auch noch auf dem Land, in Brandenburg beschrieben, und es siegen sogar die Sozialdemokraten. Ein Skandal damals. Und so ist das Buch auch, es ist ja erst nach Fontanes Tod erschienen, aufgenommen worden. Das gleiche gilt für "Frau Jenny Treibel",auch parallel zum Zeitgeschehen geschrieben. Natürlich haben diese Bücher aus der Nähe zum Zeitgeschehen heraus Ärgernis erregt. Aber wenn wir heute "Frau Jenny Treibel"lesen oder eben den "Stechlin", dann haben wir die Möglichkeit, so geht es mir jedenfalls, aus dem neureichen Kulturbanausentum, mitsamt auch den liebenswerten Zügen einer Jenny Treibel,Schlüsse auf unsere Zeit, auf unsere Kulturbetrieb zu zielen. Soweit entlegen uns diese Zeitperiode erscheint, so aktuell ist sie doch geblieben.
Dr. Kluge: Nach der Rättin 1986, Herr Grass, gingen bei Ihnen die Kritiker erst so richtig auf Sie los. Warum kam es damals zu dieser Polarisierung, die ein bißchen bis heute anhält?
G. Grass: Das Thema paßte nicht. Wir sind zwar wie noch nie in der Geschichte der Menschheit informiert, also auch über die Fähigkeit der Menschen, sich selbst zu vernichten und zwar auf vielfältige Art und Weise. Aber wenn ein Autor daraus Konsequenzen zieht und ein Buch wie "Die Rättin" vorlegt, dann gab es aus politischen Gründen ,aus damals auch schon aus so einem postmodernen Empfinden ,sich doch bitte nicht so sehr auf die Zerbrechlichkeit unserer Existenz einzulassen, gab es dann diese Art von Abfuhren und Verdammungen, ohne daß das Buch zu Kenntnis genommen wurde. Das ist das neue. Meine Bücher, von der "Blechtrommel" angefangen, haben immer wieder zu Auseinandersetzungen geführt. Aber wenn ich den Verriß der "Blechtrommel", wie er damals in der FAZ geschrieben von Günther Blöcker stand, vergleiche mit Verrissen, die erschienen ,als"Ein weites Feld", das Buch herauskam, ist ganz leicht festzustellen, daß der Verriß von Blöcker auf Lektüre zurückging,genaue Lektüre des Buches. Das Buch machte ihn zornig und ärgerlich und so hat er reagiert. Während ein Großteil der Sachen, die als sogenannte Kritik auf mich zukommen, von Lektüre nicht angekränkelt sind. Das ist einfach Voreingenommenheit, die sich ausdrückt.Und zumeist auch politisch gestimmte Voreingenommenheit.
Dr. Kluge: Günter Grass und die Politik ist ja auch ein weites Feld. Sie waren für die SPD, dann waren Sie in der SPD, dann waren Sie draußen, jetzt sind Sie wieder nahe dran. Ist das eine notwendige Haltung eines Intellektuellen, der sich nicht mit Haut und Haaren vereinnahmen lassen will und möchte?
G. Grass: Ich halte das für normal, daß man also in einer Demokratie und vor allen Dingen ,nachdem wir in diesem Jahrhundert Erfahrung gesammelt haben mit Ideologien, die alles hundertprozentig haben wollen, ist dieses Verhältnis zu einer Partei, auch zur eigenen politischen Grundstimmung ,durchaus wechselhaft und sollte auch so offen zugegeben werden. Ich habe auch in den Zeiten, in denen ich Wahlkampf für die SPD gemacht habe, also im günstigsten Fall stimmte ich mit der SPD als Partei zu 65 Prozent überein, manchmal sackte das auch ab, knapp über fünfzig. Und so ist es auch heute. Ich bin von meinem Werdegang und von meiner Entwicklung nach wie vor ein demokratischer Sozialist. Verwunderlich, manchmal auch komisch ist es, daß es im Verlauf der Jahre, ohne daß ich meine Positionen großartig verändert haben, ich mich heute auf dem linken Flügel sehe, während ich in den Jahren, 60er und 70er Jahren ,mich eher in der Mitte befand. Was hat sich da verändert, ist die Preisfrage? Und was heute angeht ich kann nicht sagen, daß ich mich der SPD insgesamt wieder genähert habe.Was ich sehe ist, daß unser Land seit geraumer Zeit von Abbruchunternehmern regiert wird. Es wird alles zerschlagen, was zerschlagbar zu sein scheint. Unter anderem auch der soziale Konsens, der dieses Land zu Reichtum, Wohlstand und auch zu demokratischer Entwicklung geführt hat. Und damit ist es einfach Zeit für einen demokratischen Wechsel. Und da guck' ich mir, da wünsch' ich mir nicht irgend etwas, das kann jeder leicht, sondern ich sehe die politischen Kräfte mir an, die noch relativ unverbraucht sind, in der Lage wären, aus einem Reformstau herauszukommen, eine Wende im demokratischen Sinn herbeizuführen. Das ist eine Rot-Grüne-Koalition. Dafür würde ich mich gerne auch wieder stark machen, aber nicht für eine einzelne Partei oder für einen einzelnen Kandidaten.
Dr. Kluge: Damals war es Willy Brandt, zu dem sie doch eine besondere Affinität hatten......
G. Grass: .......Ich muß Sie unterbrechen. Das war nicht nur Willy Brandt allein, es waren zum anderen mehrere Personen, es war auch Gustav Heinemann sehr stark und auch Karl Schiller und es war ein Programm. Es war ein Programm im Innerpolitischen wie in der Außenpolitik. Eine Deutschlandpolitik gab es vorher nicht. Es gab nur die .Hallstein.-Doktrien. Und Brandt war bereit, mit der SPD ,und die SPD mit ihm ,diese Politik zu ändern. Das hat mich dazu gebracht.
Dr. Kluge: Aber daß Sie der Meinung sind, daß eben auch für die demokratische Orientierung solche Lichtgestalten wie Willy Brandt nötig seien, kann man nicht sagen?
G. Grass: Nein. Also für mich ist Willy Brandt auch nie eine Lichtgestalt gewesen. Ich hab' ihn auch von Anfang an kritisch gesehen. Er war ein - in erster Linie - ein großartiger Außenpolitiker. Und er war jemand, der über die deutschen Befindlichkeiten, Gebrechlichkeiten und Bedürfnisse auch hinwegsah. Er hat dann später, als er nicht mehr Bundeskanzler war, als Vorsitzender der sozialistischen Internationale ,auf beispielhafte Weise sich um die Belange der Dritten Welt gekümmert. Was in der eigenen Partei kaum wahrgenommen wurde. Als Innenpolitiker hatte er eher Schwächen gezeigt. Das hab' ich auch damals, als ich die Wählerinitiative betrieben habe, offen ausgesprochen. Also, er ist keine Lichtgestalt, wohl aber ein Politiker von großem ,über die eigenen Grenzen hinausweisendes Format, und es ist sicher ein Glücksfall gewesen, daß Europa damals mit Kreisky, mit Olof Palme und Willy Brandt drei Sozialdemokraten gehabt hat, die über die Grenzen ihres Landes hinaus politisches Format gezeigt haben, ohne Lichtgestalten zu sein.
Dr. Kluge: Wir leben ja jetzt in einer Zeit der doch entschärften Ost-West-Konflikte. Orwells utopischer Roman "1984" hat sich auch so nicht bestätigt. Sind Sie überhaupt, was die Weltlage angeht, jetzt etwas optimistischer?
G. Grass: Also, ich bezweifle allein schon, daß sich bestimmte Aspekte in Orwells Roman nicht bestätigt haben. Bei Orwell werden im Verlauf des Romanes dauernd Stellvertreterkriege geführt. Die Welt ist in Drei-Mächte aufgeteilt. Das sind Dinge, die unseren Befindnissen so weit entsprechen, daßr der eingefuchste andere Machtpartner, die Sowjetunion, weg ist , aber der übriggebliebene Machtfaktor USA ist kräftig dabei, sich einen - die Rüstungsindutrie fördernden - Gegner zu erfinden, notfalls. Und sei es der Islam oder was immer auch. Oder die Kriege werden sich mehr und mehr auf die Ressourcen konzentrieren. Mit dem Golfkrieg hat das nicht angefangen, sondern seine Bestätigung gefunden, auf die Ressourcen konzentrieren, dort wo die Energiemittel sind, wo bestimmte Dinge sind. Aus Somalia hat man sich rasch zurückgezogen, da war nichts mehr zu holen. Aber dort, wo es Öl gibt, wo es bestimmte Dinge gibt, da wird der Machtkampf weitergehen ,und der wird sich wahrscheinlich im nächsten Jahrhundert doch in erster Linie zwischen den USA und leider auch den europäischen Staaten, die sich da fest am Schlepptau der USA befinden, auf der einen Seite und Asien abspielen, da geht es um - da sind Verteidungskämpfe, die dann stattfinden und deren Vorboten erleben wir heute schon.
Dr. Kluge: Herr Grass, wieder zurück zu Ihren Büchern. Was mir immer wieder bei der Lektüre Ihrer Bücher aufgefallen ist, daß die Musik doch etwas wenig vorkommt, daß Sie eigentlich nicht eine so starke Rolle spielt. Da ist von Heinrich Schütz die Rede oder auch von anderen Komponisten, aber eigentlich doch eher marginal, wenn ich da an "Doktor Faustus" von Thomas Mann denke. Interessiert Sie eigentlich die Musik nicht so, obwohl Sie auch früher Jazz-Musik gemacht haben?
G. Grass: Ich bin ein Liebhaber der Musik. Aber es muß ja nun nicht alles, was mir gefällt und wovon ich als Laie eine Ahnung habe, sich als Literatur niederschlagen. Auch dort, wo ein Komponist eine größere Rolle spielt, im "Treffen in Telgte", wo Heinrich Schütz auftritt, war ich auf die Beratung und Hilfe meiner Frau angewiesen, die Organistin von Beruf ist,und die auf dem Gebiet viel firmer ist als ich. Aber wir beide sind Liebhaber der Musik.
Dr. Kluge: Was ist denn Ihr Lieblingskomponist bzw. Ihr Lieblingsstück.? Was würden Sie sich gerne zum Geburtstag als Platte auflegen?
G. Grass: Ich kann das nicht auf einen Komponisten reduzieren. Ich habe natürlich Schütz gewählt, weil ich den ungeheuer schätze und ich bin jedesmal überrascht, auch von dessen Modernität, besonders des späten Schütz. Aber sagen wir in unserem Jahrhundert ist nach wie vor für mich Bartok einer der Großen auch geblieben.
Dr. Kluge: Seit Jahren werden Sie für den Literaturnobelpreis gehandelt, wenn man das mal so sagen darf. Wenn Sie ihn nun doch einmal bekämen, was würden Sie sagen und was würden Sie tun?
G. Grass: Ich werde auf Ihre Frage gar nicht antworten. Denn für mich spielt das keine entscheidende Rolle. Da machen sich andere, zum Beispiel auch Sie, Gedanken darüber und ich bin immer froh, wenn der Termin vorbei ist und die Nachfragen aufhören.
Dr. Kluge: Zu einem gleichfalls angesehenen Preis werden Sie aber tatsächlich am 19. Oktober präsent sein und die Laudatio halten. Es ist der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, den Yasar Kemal bekommen wird. Was verbindet Sie eigentlich mit Yasar Kemal, der ja ebenfalls ein engagierter Schriftsteller ist, wie Sie?
G. Grass: Daß zum Beispiel und sicher auch , ich hab' mich darüber gefreut, daß er sich vom Börsenverein gewünscht hat, daß ich die Laudatio halten möge und das hab' ich auch sehr gerne vorbereitet. Halten werd' ich sie demnächst. Sein episches Konzept ,diese Konzentration auf eine Region, die ihm vertraut ist,wo er herkommt, Anatolien im weitesten Sinne des Wortes ,allerdings auch in einigen Romanen Istanbul, das liegt mir, nicht wahr, das ist diese Art von Literatur ,der die Provinz ,die sie deutlich und überdeutlich darstellt, Welt genug ist. Ob das Faulkner in Amerika, ob das Aitmatov,was die kirkiesische Steppe angeht, Joyce mit seinem Dublin oder Heinrich Böll, was das Rheinland betrifft ,und bei mir ist das eben diese Danzig-Kaschubische Region. Das ist mir sehr nahe und ich glaube, daß er das auch beim Lesen meiner Bücher empfunden hat.
Dr. Kluge: Drei türkische Frauen sind hier unweit von Lübeck, bei Mölln, bei einem ausländerfeindlichen Brandanschlag, ums Leben gekommen. Sie haben literarisch mit dem Gedichtzyklus "Novemberland" darauf Bezug genommen. Könnten Sie gegen Ende unseres Gespräches einmal zwei Gedichte daraus lesen?
G. Grass: Das kann ich gerne tun. Das ist, wie gesagt, ein Gedichtzyklus von dreizehn Sonetten.Er ist Peter Rümkorf gewidmet
1. Das Unsere
Breit liegt das Land, in dessen Lied wie in Prospekten
sich Schönheit weit gehügelt austrägt ,gegen Norden flach,
besiedelt, eng (in dieser Zeit) bis unters Dach.
Wo sich die Kinder einst vor Vaters Zorn versteckten,
ist keine Zuflucht mehr, nein, nicht schließt mehr geheim.
So offen sind wir kenntlich allseits ausgestellt,
daß jeder Nachbar ringsum alle Welt
als Unglück treiben sieht, was unseres Glückes Keim.
Wo wir uns finden, hat verkehrte Konjunktur
uns fett gemacht. Dank Leid und Kummer satt,
schlug mästend Elend an, als freien Marktes Kur;
und selbst auf unsre Sünden gab's Rabatt.
Still liegt Novemberland, verflucht zum tugendhaften Fleiß,
in Angst vorm Jüngstgericht, dem überhöhten Preis.
2. Novemberland
Da komm ich her. Das feiert jährlich alle Neune.
Von dem ich weg will über selbsterdachte Zäune,
doch in verkehrten Schuhen dahinlaufe ,wo ich heiße
und ruchbar bin für die zurückgelassene Scheiße.
Das bleibt veränderlich sich gleich
und ähnelt unterm Schutt der Moden-
mal sind es Jeans, dann wieder Loden-
den abgelebten Fotos aus dem Dritten Reich.
Novembertote,laßt sie ruhen!
Wir haben mit uns Lebenden genug zu tun.
Doch diese sind nicht jene, jene sind erwacht
und haben sich als Täter das gleiche ähnlich ausgedacht.
Nicht abgebucht noch steuerfrei ist der Gewinn
aus Schuldenlast, für die ich haftbar bin.
Dr. Kluge: Vielen Dank für die Lesung. Doch ganz zum Schluß unseres Gespräches möchte ich doch noch mal auf Ihren 70. Geburtstag zu sprechen kommen. Herr Grass, wenn der Butt an Ihrem Geburtstag Ihnen drei Wünsche gewähren und erfüllen würde, was würden Sie sich dann wünschen?
G. Grass: Für mich persönlich bei einigermaßen Gesundheit ,weiterhin weithin tragende Einfälle, die mich episch beschäftigen und herausfordern. Dann etwas, was mich eher bedrückt, für meine Kinder und Enkelkinder:ein wenig mehr Zukunft. Diese junge Generation leidet in erster Linie darunter, daß Ihnen dieser Spielraum Zukunft genommen worden ist durch Vorwegplanung. Und der dritte Wunsch, daß was meine Frau und ich uns immer gewünscht haben, daß wir das Alter, das hohe Alter ganz romantisch gemeinsam auf einem Bänkchen bei einem Sonnenuntergang erleben dürfen, noch lange Zeit.
Dr. Kluge: Und Fontane lesen?
G. Grass: Was auch immer. Ohne Fontane wird's nicht gehen.
Dr. Kluge: Danke sehr.