Helmut Schmidt über sein Verhältnis zu Kant
Auf mich hat Kant bis heute
einen durchaus prägenden Einfluss ausgeübt. Mich hat das idealistische Prinzip
einer unbedingten, einer nicht durch Eigennutz oder Opportunismus verzerrten
Pflichtauffassung fasziniert.
Auf mich hat die späte Schrift »Zum ewigen Frieden«,
die ich zuerst als junger Kriegsheimkehrer gelesen habe, einen tiefen Eindruck
gemacht, gerade durch die Nüchternheit, mit der sich der Autor dort
Illusionismus und Schwärmerei versagt, mit der er stattdessen konkrete
völkerrechtliche friedenspolltische Schritte vorschlägt. Übrigens nur
»Schritte«. Kant spricht vom ewigen Frieden als einer Aufgabe, die nur nach und
nach zu lösen sei, deren Ziel man schrittweise näher komme. Und soweit ich mich
hier auf Kant berufe, so beziehe ich mich wesentlich auf die Schrift »Zum
ewigen Frieden« und auf die Schrift »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in
weltbürgerlicher Absicht«, beide nach den großen philosophischen Werken
geschrieben.
Für mich sind bei Kant drei Dinge besonders wichtig:
Zum einen der Standpunkt einer Menschheitsethik, die von den fundamentalen
Freiheiten aller Menschen ausgeht. Zum anderen die Pflicht zum Frieden und zur
Völkergemeinschaft als eine zentrale moralische Norm und nicht nur als eine politische
Norm. Drittens aber vor allem die enge Verbindung zwischen dem Prinzip der
sittlichen Pflicht und dem Prinzip Vernunft oder, wie man heute sagen mag, der
kritischen Ratio. Für mich persönlich hatte das hohe Pflichtethos als ganz
junger Mensch zu Beginn des Krieges durch das Lesen von Marc Aurels
»Selbstbetrachtungen« schon Bedeutung gewonnen, eine Schrift, die mir in der
Nazizeit durch Zufall in die Hände gekommen war.
Wenn ich es richtig
verstehe, bedeutet Pflicht und verantwortliches Handeln für Kant: In
Übereinstimmung zu handeln mit dem, was den Menschen gemeinsam ist, was daher
über alle sonstigen Unterschiede hinweg Verständigung ermöglicht, nämlich in
Übereinstimmung mit der menschlichen Vernunft zu handeln ...
Der kategorische Imperativ,
in dem Kants praktische Philosophie gipfelt, lautet: »Handle nur nach
derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines
Gesetz werde.<, Für mich besagt das nichts anderes, als daß der Politiker,
der verantwortlich handeln will, zugleich die Folgen seines Handelns für die
anderen mit berücksichtigen soll. Nur so kann er ja herausfinden, ob seine
Handlungsmaximen tatsächlich zu einer »allgemeinen Gesetzgebung“, ‑ wie
es bei Kant in einer anderen Fassung heißt ‑ taugen. Offensichtlich ist, daß an diesem moralischen Leitsatz sich auch die
politische Moral orientieren muß ...
Für den Politiker verlangt Kants Imperativ: Nicht
auszugehen von Opportunitätsrücksichten, sondern alle von seinen Entscheidungen
betroffenen Interessen, alle von seinen Entscheidungen ausgehenden Folgen
gewissenhaft kennenzulernen und gewissenhaft gegeneinander abzuwägen.
Zeigen Sie auf, wo Schmidt Kant gründlich
missversteht!