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GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ (1646 - 1716)

Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade

1. Die Substanz ist ein der Tätigkeit fähiges Wesen. Sie ist entweder einfach oder zusammengesetzt. Die einfache Substanz ist diejenige, welche keine Teile hat. Die zusammengesetzte ist die Ansammlung der einfachen Substanzen oder Monaden. Monas ist ein griechisches Wort, das Einheit heißt oder das, was eines ist.
Die zusammengesetzten Dinge oder Körper sind Vielheiten; die einfachen Substanzen, das Lebendige, die Seelen, die Geister sind Einheiten. Nun muß es wohl überall einfache Substanzen geben, weil es ohne die einfachen keine zusammengesetzten gäbe. Infolgedessen ist die ganze Natur voller Leben.
2. Da die Monaden keine Teile haben, so können sie weder erzeugt noch i vernichtet werden. Sie können - auf natürlichem Wege - weder einen Anfang noch ein Ende haben und dauern daher ebensolang wie das Universum, das zwar der Veränderung, aber nicht der Vernichtung unterliegt. Sie können keine Gestalten haben, denn sonst hätten sie Teile: folglich läßt sich eine Monade, als solche und in einem Zeitpunkt verstanden, von einer anderen nur durch ihre inneren Eigenschaften und Tätigkeiten unterscheiden, die in nichts anderem bestehen können, als in ihren
Perzeptionen (d. h. in den Darstellungen des Zusammengesetzten oder des außerhalb ihrer sich Befindenden im Einfachen) und in ihren Begehrungen (d. h. in ihren Bestrebungen, von einer Perzeption zur anderen überzugehen), welche die Prinzipien der Veränderung sind. Denn die Einfachheit der Substanz hindert keineswegs die Vielheit verschiedener Zustände, die sich in dieser selben einfachen Substanz zusammenfinden und in der Mannigfaltigkeit ihrer Beziehungen zu den äußeren Dingen bestehen müssen. Das ist wie bei einem Zentrum bzw. einem Punkt, wo - so einfach er ist - sich eine unendliche Anzahl von Winkeln findet, die durch die in ihm zusammentreffenden Linien gebildet werden.
3. In der Natur ist alles erfüllt. Überall gibt es einfache Substanzen, die sich voneinander tatsächlich durch ihnen eigentümliche, beständig ihre Beziehungen wechselnde Tätigkeiten unterscheiden. Jede einfache Substanz nun oder jede ausgezeichnete Monade, die das Zentrum einer zusammengesetzten Substanz (wie z. B. eines Tieres) und das Prinzip ihrer
Einzigkeit ausmacht, ist umgeben von einer Masse, die sich aus einer unendlichen Anzahl anderer Monaden zusammensetzt. Diese bilden den Eigenkörper dieser zentralen Monade, dessen Affektionen gemäß sie, wie in einer Art Zentrum, die außer ihr sich befindenden Dinge darstellt. Dieser Körper ist organisch, wenn er eine Art Automat oder natürlicher Maschine bildet, die nicht nur im Ganzen, sondern auch in den kleinsten Teilen, die sich bemerkbar machen können, Maschine ist. Da nun infolge der durchgängigen Erfüllung der Welt alles miteinander in Verbindung steht und jeder Körper, je nach der Entfernung, mehr oder weniger auf jeden anderen Körper einwirkt und so durch dessen Reaktion betroffen wird, so folgt daraus, daß jede Monade ein lebendiger, der inneren Tätigkeit Fähiger Spiegel ist, der das Universum aus seinem Gesichtspunkte darstellt und ebenso eingerichtet ist wie das Universum selbst. Die Perzeptionen in der Monade entstehen auseinander nach den Gesetzen des Strebens oder den Zweckursachen des Guten und des Bösen, die in geordneten oder ungeordneten bemerkbaren Perzeptionen bestehen - wie die Veränderungen der Körper und die äußeren Erscheinungen nach den Gesetzen der Wirkursachen, d. h. der Bewegungen, auseinander hervorgehen. Daher besteht eine vollkommene Harmonie zwischen den Perzeptionen der Monade und den Bewegungen der Körper, die von Anbeginn an zwischen dem System der Wirkursachen und dem der Zweckursachen prästabiliert ist; und eben darin besteht die Übereinstimmung und die natürliche Vereinigung von Seele und Körper, ohne daß eines die Gesetze des anderen zu ändern vermöchte.
4. Jede Monade bildet im Verein mit einem ihr eigentümlichen Körper eine lebendige Substanz. Demnach gibt es nicht nur überall Leben, das an Glieder oder Organe gebunden ist, sondern sogar unendlich viele Grade unter den Monaden, da die einen mehr oder weniger über die anderen herrschen. Besitzt nun die Monade zweckvoll beschaffene Organe, kraft deren es hervortretende und sich abhebende Unterschiede in den Eindrücken, die sie empfangen, und folglich in den diese wiedergebenden Perzeptionen gibt (wie so z. B. mittels der Gestalt der Augensäfte die Lichtstrahlen konzentriert werden und mit größerer Kraft wirken), so kann das bis zur Empfindung führen, d. h. bis zu einer von Gedächtnis begleiteten Perzeption, von der ein gewisses Echo lange Zeit zurückbleibt, um sich bei Gelegenheit vernehmen zu lassen. Ein solches Lebewesen nennt man
Tier, wie seine Monade Seele genannt wird. Wenn diese Seele nun bis zur Vernunft erhoben wird, so ist sie etwas Erhabeneres und man zählt sie zu den Geistern, wie ich bald näher erklären werde.
Allerdings befinden sich die Tiere zuweilen in der Verfassung einfacher Lebewesen und ihre Seelen im Zustande einfacher Monaden, nämlich dann, wenn ihre Perzeptionen nicht hinreichend distinkt sind, um sich ihrer entsinnen zu können, wie das bei einem tiefen traumlosen Schlafe oder in der Ohnmacht vorkommt. Aber auch solche Perzeptionen, die bereits völlig verworren geworden sind, müssen sich in den Tieren wieder entwirren Tassenaus weiter unten (§ 12) dargelegten Gründen. Man tut deshalb gut daran, eine Unterscheidung zu machen zwischen der
Perzeption oder dem inneren Zustand der Monade, der die äußeren Dinge darstellt, und der Apperzeption, die das Selbstbewußtsein oder die reflexive Erkenntnis dieses inneren Zustandes ist. Dies letztere ist keineswegs allen Seelen, ja nicht einmal derselben Seele allzeit gegeben. In dieser mangelnden Unterscheidung liegt der Fehler der Cartesianer, die die Perzeptionen, deren man sich nicht bewußt ist, nicht mit in Betracht ziehen, so wie man in der populären Auffassung die sinnlich nicht wahrnehmbaren Körper außer Betracht läßt. Das hat auch die Cartesianer zu der Meinung veranlaßt, einzig und allein die Geister seien Monaden, Tierseelen aber, geschweige denn andere Lebensprinzipien, gebe es nicht. Indem sie den Tieren die Empfindung absprachen, haben sie einerseits die gängige Meinung der Menschen zu sehr verletzt; anderseits und im Gegensatz hierzu sind sie den vulgären Vorurteilen zu weit entgegengekommen, indem sie eine lange Betäubung, die von einer großen Verwirrung der Perzeptionen herrührt, mit dem Tode im strengen Sinne verwechselt haben, worin alle Perzeption aufhören würde. Dadurch ist die schlecht begründete Annahme von der Vernichtung einiger Seelen und die verderbliche Ansicht einiger sehr hochtrabender Geister, die die Unsterblichkeit unserer Seele bekämpft haben, bestärkt worden.
5. Es gibt unter den Perzeptionen der Tiere eine Verbindung, die eine gewisse Ähnlichkeit mit dem
Vernunftschluß hat, aber diese ist auf nichts anderes als die Erinnerung an Tatsachen oder Wirkungen gegründet, keineswegs aber auf die Erkenntnis der Ursachen. Deshalb flieht ein Hund vor dem Stock, mit dem man ihn geschlagen, weil die Erinnerung ihm den Schmerz vorstellt, den dieser Stock ihm verursacht hat. Und insofern die Menschen empirisch verfahren, d. i. zu drei Vierteln ihrer Handlungsweisen, handeln sie nicht anders als die Tiere. So erwartet man z. B., daß es morgen Tag sein wird, weil man es stets so erfahren hat: der Astronom sieht das aus Vernunftgründen voraus. Aber selbst diese Vorhersage wird schließlich versagen, wenn einst die Ursache des Tages, die keineswegs ewig ist, nicht mehr sein wird.
Das
wahrhaft vernünftige Schlußfolgern aber hängt ab von den notwendigen oder wenigen Wahrheiten, wie es die der Logik, der Arithmetik, der Geometrie sind, die eine unzweifelhafte Verknüpfung der Ideen und unfehlbare Folgerungen herstellen. Diejenigen Lebewesen, bei denen sich diese Folgerungen nicht beobachten lassen, werden Tiere genannt; die aber, die diese notwendigen Wahrheiten erkennen, heißen vernunftbegabte Lebewesen im eigentlichen Sinne, und ihre Seelen werden Geister genannt. Diese Seelen sind der Reflexion fähig und in der Lage, das in den Blick zu fassen, was man Ich, Substanz, Seele, Geist nennt, mit einem Wort: die immateriellen Dinge und Wahrheiten. Eben dieses befähigt uns zur Wissenschaft oder zu beweiskräftigen Erkenntnissen.
6. Die neuzeitlichen Forschungen haben uns belehrt, und die Vernunft bestätigt es, daß die Lebewesen, deren Organe uns bekannt sind, d. h. die Pflanzen und Tiere, nicht -wie die Alten geglaubt haben- einem Fäulnisprozeß oder einem Chaos entstammen, sondern präformierten Samen, und daß sie daher nur eine Umwandlung präexistierender Lebewesen sind. In den Samen der großen Tiere gibt es kleine, die mittels der Empfängnis ein neues Gewand anziehen und sich zu eigen machen, das es ihnen ermöglicht, sich zu ernähren und zu vergrößern, um so auf einen größeren Schauplatz überzugehen und die Fortpflanzung des großen Tieres zu bewirken. Allerdings sind die Seelen der menschlichen Samentiere nicht vernunftbegabt, sondern werden es erst dann, wenn die Empfängnis diese Tiere zur Menschennatur bestimmt. Wie nun im allgemeinen die Tiere bei der Empfängnis oder
Zeugung niemals völlig neu entstehen, so gehen sie auch in dem, was wir Tod nennen, nicht völlig zugrunde. Denn die Vernunft sagt uns, daß dasjenige, was nicht auf natürlichem Wege anfängt, ebensowenig innerhalb der natürlichen Ordnung sein Ende findet. Indem sie also ihre Maske oder ihre Hülle ablegen, kehren sie nur zu einem winzigeren Schauplatz zurück, wo sie indes ebenso empfindungsfähig und wohlgeordnet sein können wie auf dem größeren. Und was hier von den großen Tieren gesagt wurde, gilt gleicherweise für die Zeugung und den Tod der Samentiere selbst, d. h., sie entstehen wieder aus dem Wachstum anderer, kleinerer Samentiere, an denen gemessen sie als groß gelten können; denn in der Natur geht alles ins Unendliche.
Demnach sind sowohl die Seelen wie auch die Tiere unerzeugbar und unzerstörbar: sie werden nur entwickelt, rückentwickelt, bekleidet, entkleidet, umgestaltet. Die Seelen trennen sich niemals völlig von ihren Körpern und wandern auch nicht von einem Körper in einen anderen, ihnen gänzlich fremden hinüber. Es gibt also keine
Metempsychose, wohl hingegen eine Metamorphose. Die Tiere wechseln nur einzelne Teile, nehmen diese an und geben jene auf; und was sich bei der Ernährung nach und nach und an kleinen, unsinnlichen Teilchen, aber kontinuierlich vollzieht, das tritt mit einemmal und deutlich bemerkbar, wenn auch selten, bei der Empfängnis und beim Tode ein, bei denen sie mit einemmal viel erwerben oder verlieren.
7. Bis hierher haben wir nur einfach als
Physiker geredet; jetzt wird es nötig, sich zur Metaphysik zu erheben, indem wir uns des bedeutenden, obgleich gemeinhin wenig angewandten Prinzips bedienen, wonach nichts ohne zureichenden Grund geschieht, d. h. daß sich nichts ereignet, ohne daß es dem, der die Dinge hinlänglich kennte, möglich wäre, einen zureichenden Bestimmungsgrund anzugeben, weshalb es so ist und durchaus nicht anders. Ist dieses Prinzip aufgestellt, so wird die erste Frage, die man mit Recht stellen darf, die sein, warum es eher Etwas als Nichts gibt. Denn das Nichts ist einfacher und leichter als irgendetwas. Setzt man ferner voraus, daß es Dinge geben muß, so muß man einen Grund dafür angeben können, weshalb sie so existieren müssen wie sie sind und nicht anders.
8. Nun läßt sich dieser zureichende Grund für die Existenz des Universums nicht in der Reihe der zufälligen Dinge, d. h. der Körper und ihrer Vorstellungen in den Seelen, finden: denn da die Materie als solche sich gegen Bewegung und Ruhe, wie auch einer bestimmten Bewegung gegenüber indifferent verhält, so kann man in ihr auch nicht den Grund für die Bewegung überhaupt und noch weniger für eine bestimmte Bewegung entdecken. Und obgleich die gegenwärtige in der Materie vorhandene Bewegung aus der vorhergehenden stammt und diese ebenfalls aus einer vorhergehenden, so ist man dadurch doch nicht weitergekommen, man mag so weit zurückgehen wie man will: denn stets erhebt sich die gleiche Frage. Also muß der
zureichende Grund, der keines anderen Grundes bedarf, außerhalb dieser Reihe der zufälligen Dinge liegen und sich in einer Substanz vorfinden, welche die Ursache der Reihe und ein notwendiges Wesen ist, das den Grund seiner Existenz in sich selbst trägt; denn sonst hätte man noch immer keinen zureichenden Grund, bei dem man stehenbleiben könnte. Dieser letzte Grund der Dinge wird Gott genannt.
9. Diese einfache ursprüngliche Substanz muß alle die Vollkommenheiten in höchstem Maße in sich schließen, die in den abgeleiteten Substanzen, ihren Wirkungen, enthalten sind. Daher wird sie an Macht, Wissen und Willen vollkommen, d. h. allmächtig, allwissend und allgültig sein. Da ferner die
Gerechtigkeit im allgemeinsten Sinne nichts anderes ist, als die der Weisheit entsprechende Güte, so muß Gott auch die höchste Gerechtigkeit zukommen. Kraft des Grundes, durch den die Dinge von ihm ihre Existenz haben, hängen sie auch in ihrer Fortdauer und in ihren Tätigkeiten von ihm ab und erhalten von ihm unaufhörlich alles das, was ihnen eine gewisse Vollkommenheit verleiht; dasjenige aber, was ihnen an Unvollkommenheit bleibt, kommt aus der dem Geschöpf eigenen wesenhaften und ursprünglichen Beschränkung.
10. Aus dieser höchsten Vollkommenheit Gottes folgt, daß er bei der Hervorbringung des Universums den bestmöglichen Plan gewählt hat, in dem sich die größte Mannigfaltigkeit mit der größten Ordnung vereinigt: wo das Land, Ort und Zeit in der besten Weise verwendet und die größte Wirkung auf die einfachste Weise erzielt wird; wo den Geschöpfen die größte Macht, das größte Wissen, das größte Glück und die größte Güte gegeben wurde, die das Universum überhaupt zulassen konnte. Denn da im göttlichen Verstande alle Möglichkeiten, nach dem Maße ihrer Vollkommenheit, zur Existenz streben, so muß das Ergebnis aller dieser Bestrebungen die wirkliche Welt als die vollkommenste aller überhaupt möglichen sein. Ohne diese Voraussetzung wäre es unmöglich, einen Grund dafür aufzuzeigen, warum die Dinge eher diesen als einen anderen Lauf genommen haben.
11. Die höchste Weisheit Gottes hat ihn vor allem die passendsten und den abstrakten oder metaphysischen Gründen angemessensten
Bewegungsgesetze wählen lassen. Danach erhält sich stets die Quantität der totalen und der absoluten Kraft oder der Tätigkeit, die gleiche Quantität der bezüglichen Kraft oder der Reaktion und endlich die gleiche Quantität der Richtungskraft. Außerdem ist die Aktion stets der Reaktion gleich und die Gesamtwirkung immer äquivalent ihrer vollen Ursache. Nun ist es überraschend, daß man bei Betrachtung der Wirkursachen oder der Materie allein diese Bewegungsgesetze, die in unseren Tagen, und zum Teil von mir selbst, entdeckt wurden, nicht beweisen kann. Man muß dazu vielmehr, wie ich erkannt habe, zu den Zweckursachen seine Zuflucht nehmen, weil diese Gesetze nicht - wie die logischen, arithmetischen und geometrischen Wahrheiten- von dem Prinzip der Notwendigkeit abhängen, sondern von dem Prinzip der Angemessenheit, d. h. von der durch die Weisheit getroffenen Wahl. Es ist dieses einer der wirksamsten und sinnfälligsten Beweise der Existenz Gottes, für alle, die imstande sind, diesen Dingen auf den Grund zu gehen.
12. Es folgt weiter aus der Vollkommenheit des höchsten Urhebers, daß nicht nur die Ordnung des Universums die vollkommenste überhaupt mögliche ist, sondern auch, daß jeder lebendige Spiegel, der das Universum unter seinem Aspekt darstellt, d. h. jede
Monade, jedes substantielle Zentrum, die bestgeregelten Perzeptionen und Strebungen haben muß, die mit der Gesamtheit der übrigen Dinge verträglich sind. Hieraus folgt wiederum, daß die Seelen, d. h. die alle überragenden Monaden, ja sogar die Tiere aus dem Zustande der Betäubung, in den sie durch den Tod oder einen anderen Unfall geraten sind, wieder erwachen müssen.
13. Denn alle Dinge sind ein für allemal nach größtmöglicher Ordnung und Übereinstimmung eingerichtet, da die oberste Weisheit und Güte nicht anders als in vollkommener Harmonie handeln kann: die Gegenwart trägt die Zukunft in ihrem Schoße, aus dem Vergangenen könnte man das Zukünftige ablesen, das Entfernte wird durch das Naheliegende ausgedrückt. Die Schönheit des Universums könnte man an jeder Seele erkennen, wenn man alle ihre verborgenen Falten entfalten könnte, die sich jedoch erst merklich mit der Zeit entwirren. Da aber jede deutliche Perzeption der Seele eine unendliche Anzahl undeutlicher Perzeptionen enthält, die das ganze Universum einschließen, so erkennt die Seele die Dinge, die sie perzipiert, nur insofern, als diese Perzeptionen deutlich und abgehoben sind, und ihre Vollkommenheit mißt sich an ihren deutlichen Perzeptionen. Jede Seele erkennt das Unendliche, erkennt alles, freilich in undeutlicher Weise, so wie ich etwa, wenn ich am Meeresufer spazierengehe und das gewaltige Rauschen des Meeres höre, dabei auch die besonderen Geräusche einer jeden Woge höre, aus denen das Gesamtgeräusch sich zusammensetzt, ohne sie jedoch voneinander unterscheiden zu können. Unsere undeutlichen Perzeptionen sind eben das Ergebnis der Eindrücke, die das gesamte Universum auf uns ausübt; gleicherweise verhält es sich mit jeder Monade. Gott allein hat eine deutliche Erkenntnis von allem, denn er ist der Ursprung alles Seienden. Man hat sehr gut von ihm gesagt, daß sein Zentrum überall, seine Peripherie indes nirgends sei, da ihm alles unmittelbar, ohne irgendeine Entfernung von diesem seinem Zentrum, gegenwärtig ist.
14. Was die vernunftbegabte Seele oder den
Geist anbetrifft, so liegt in ihm etwas mehr als in den Monaden oder selbst in den einfachen Seelen. Er ist nicht nur ein Spiegel des Universums der Geschöpfe, sondern außerdem ein Ebenbild der Gottheit. Der Geist hat nicht nur eine Perzeption der Werke Gottes, sondern er ist selbst auch imstande, etwas ihnen Ähnliches-wenn auch nur im kleinen - hervorzubringen. Denn, ganz zu schweigen von den Wundern der Träume, in denen wir mühelos (aber auch ohne es zu wollen) Dinge erfinden, über die man lange nachdenken müßte, wollte man sie im Wachsein finden - so verfährt unsere Seele auch in ihren gewollten Handlungen wie ein Baumeister; und indem sie die Wissenschaften entdeckt, denen gemäß Gott die Dinge eingerichtet hat (nach Gewicht, Maß, Zahl etc.), ahmt sie innerhalb ihres Bereiches und ihrer kleinen Welt, in der sie sich betätigen darf, das nach, was Gott in der großen tut.
15. Deshalb gehen alle Geister, seien es nun Menschen oder reine Geister, kraft der Vernunft und der ewigen Wahrheiten mit Gott eine Art Gemeinschaft ein und sind Angehörige des Gottesreiches, d. h. des vollkommensten Staates, der vom größten und besten aller Monarchen gegründet und regiert ist. In diesem gibt es kein Verbrechen ohne Bestrafung, keine guten Taten ohne entsprechende Belohnung und schließlich soviel Tugend und Glück wie überhaupt möglich. Und das geschieht nicht durch eine Umwälzung der Natur, so daß, was Gott den Seelen bestimmt, die Gesetze der Körper störte, sondern gemäß der Ordnung der natürlichen Dinge selbst, kraft der Harmonie, die zwischen dem Reiche der Natur und dem Reiche der Gnade, zwischen Gott als Baumeister und Gott als Monarchen seit aller Zeit prästabiliert ist; nämlich so, daß die Natur selbst zur Gnade hinführt, wie anderseits die Gnade die Natur vervollkommnet, indem sie sich ihrer bedient.
16. Wenngleich uns somit die Vernunft auch nicht die Einzelheiten der großen Zukunft lehren kann, was der Offenbarung vorbehalten ist, so können wir doch durch sie versichert sein, daß alle Dinge in einer unsere Wünsche übertreffenden Weise beschaffen sind. Denn da Gott als die vollkommenste und glücklichste
zugleich auch die liebenswerteste der Substanzen ist, und da die reine und wahrhafte Liebe darin besteht, an den Vollkommenheiten und der Glückseligkeit des geliebten Gegenstandes Freude zu finden - so muß uns diese Liebe, deren Gegenstand Gott ist, der größten Freude, deren wir fähig sind, teilhaftig machen.
17. Und es ist leicht, ihn in der rechten Weise zu lieben, wenn man ihn in der angegebenen Weise kennt. Denn wenn Gott auch mit unseren äußeren Sinnen nicht wahrnehmbar ist, so ist er dennoch höchst liebenswert und schenkt uns höchste Freude. Wir sehen, wie sehr Ehrungen die Menschen erfreuen, auch wenn sie nicht die Eigenschaften äußerlich wahrnehmbarer Dinge haben.
Die Märtyrer und die Fanatiker (obwohl der letzteren Affekt schlecht geleitet ist) zeigen, was die geistige Freude vermag. Ja, was von noch größerer Bedeutung ist: die Sinnenfreuden selbst führen sich auf unklar erkannte intellektuelle Freuden zurück.
Die Musik entzückt uns, obschon ihre Schönheit in nichts anderem als in der Entsprechung von Zahlen und der uns unbewußten Zählung besteht, welche die Seele an den in gewissen Intervallen zusammentreffenden Schlägen und Schwingungen der tönenden Körper vornimmt. Die Freuden, die das Auge an den Proportionen findet, sind gleicher Art, und auch die der übrigen Sinne werden von ähnlichen Dingen herrühren, obwohl wir sie nicht so deutlich erklären können.
18. Man kann in der nämlichen Weise sagen, daß die Gottesliebe uns schon jetzt einen Vorgeschmack der zukünftigen Glückseligkeit genießen läßt; und wenngleich sie uneigennützig ist, so wirkt sie doch durch sich selbst unser größtes Gut und unseren größten Nutzen, selbst wenn man danach gar nicht suchte und nur die Freude, die sie schenkt, als solche in Erwägung zöge, ohne auf den Nutzen zu achten, der aus ihr entspringt; denn sie verleiht uns ein vollkommenes Vertrauen in die Güte unseres Urhebers und Meisters, das eine wahre Ruhe des Geistes schafft, die nicht, wie bei den Stoikern, aus erzwungener Geduld stammt, sondern aus einer gegenwärtigen Zufriedenheit, die uns auch eines künftigen Glückes gewiß macht. Außer dieser gegenwärtigen Freude kann nichts für die Zukunft nützlicher sein. Denn die Gottesliebe erfüllt auch unsere Hoffnungen und führt uns den Weg des höchsten Glückes. Kraft der vollkommenen Ordnung des Universums ist nämlich alles in der bestmöglichen Weise gemacht, sowohl für das allgemeine Wohl, als insbesondere auch zum Besten derer, die dieser Überzeugung und mit der göttlichen Regierung zufrieden sind, was bei denen der Fall sein wird, die die Quelle alles Guten zu lieben verstehen. Allerdings kann die höchste Glückseligkeit (von welcher
seligen Vision oder Erkenntnis Gottes sie auch begleitet sein mag) niemals vollständig erreicht werden; denn da Gott unendlich ist, so wird er niemals ganz erkannt sein.
Somit wird und soll unser Glück niemals in einem vollkommenen Genießen bestehen, bei dem nichts mehr zu wünschen übrig bliebe und das unseren Geist abstumpfen würde, sondern in einem immerwährenden Fortschritt zu neuen Freuden und neuen Vollkommenheiten.

LEIBNIZ GOTTFRIED WILHELM: Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade. Monadologie. Hrsg. von HERBERT HERRING. Hamburg 1956, S. 3-25.


GOTTFRIED WILHELM LE1I3NIZ

Monadologie (1.-13. )

1. Die Monade, von der wir hier sprechen wollen, ist nichts anderes als eine einfache Substanz, die in dein Zusammengesetzten enthalten ist; einfach sein heißt soviel wie: ohne Teile sein [...].
2. Einfache Substanzen muß es geben, da es zusammengesetzte gibt; denn das Zusammengesetzte ist nichts anderes als eine Anhäufung oder ein
Aggregat von Einfachem.
3. Nun ist aber da, wo keine Teile sind, weder Ausdehnung, noch Gestalt, noch Teilbarkeit möglich. So sind denn die Monaden die wahren Atome der Natur und - mit einem Wort - die Elemente der Dinge.
4. Auch ist ihre Auflösung nicht zu befürchten, und es ist völlig unbegreiflich, wie eine einfache Substanz auf natürlichem Wege vergehen könnte.
5. Aus nämlichen Grunde ist es unbegreiflich, daß eine einfache Substanz auf natürlichem Wege entstehen könnte, da sie sich ja nicht durch Zusammensetzung bilden kann.
6. Man kann demnach sagen, daß die Monaden nur mit einem Schlage entstehen oder vergehen können, d. h., sie können nur durch Schöpfung entstehen und nur durch Vernichtung vergehen; das Zusammengesetzte hingegen entsteht aus Teilen und vergeht in Teile.
7. Es gibt ferner keine Möglichkeit, zu erklären, wie eine Monade durch irgendein anderes Geschöpf in ihrem Innern beeinflußt oder verändert werden könnte, da man nichts in sie hinein übertragen, sich auch keine innere Bewegung in ihr selbst vorstellen kann, die in ihr hervorgerufen, geleitet, vermehrt oder vermindert werden könnte - so wie es bei den zusammengesetzten Dingen möglich ist, bei denen es Veränderung im Verhältnis der Teile zueinander gibt. Die Monaden haben keine Fenster, durch die etwas in sie herein- oder aus ihnen hinaustreten kann. Die Akzidenzien können sich weder von den Substanzen loslösen noch außerhalb ihrer sich ergehen, wie dies ehemals die species sensibiles der Scholastiker taten. Daher kann weder eine Substanz noch ein Akzidens von außen in eine Monade eintreten.
8. Doch müssen die Monaden irgendwelche eigentümlichen Beschaffenheiten haben, anderenfalls sie gar keine Wesen sein würden. Denn wenn sich die einfachen Substanzen nicht durch ihre eigentümlichen Beschaffenheiten unterschieden, so gäbe es überhaupt kein Mittel, irgendeine Veränderung in den Dingen festzustellen; denn was im Zusammengesetzten vorkommt, kann nur aus seinen einfachen Bestandteilen stammen. Wenn daher die Monaden ohne Eigentümlichkeiten und somit voneinander ununterscheidbar wären - denn auch quantitative Unterschiede gibt es bei ihnen nicht -, so würde folglich, unter der Voraussetzung der durchgängigen Erfüllung des Raumes, jeder Ort bei der Bewegung stets nur einen Inhalt aufnehmen, der dem bisherigen äquivalent wäre. Somit wäre ein Zustand der Dinge vom anderen völlig ununterscheidbar [...].
9. Es muß sogar jede einzelne Monade von
jeder anderen verschieden sein. Denn es gibt niemals in der Natur zwei Wesen, die einander vollkommen glichen und bei denen sich nicht ein innerer oder ein auf eine innere Bestimmtheit gegründeter Unterschied entdecken ließe.
10. Ich halte es ferner für ausgemacht, daß jede;, geschaffene Wesen, folglich
auch die geschaffene Monade, der Veränderung unterliegt, und daß diese Veränderung in jeder Monade kontinuierlich vor Veränderung unterliegt, geht.
11. Aus dem Gesagtem ergibt sich, daß die natürlichen Veränderungen der Monaden aus einem
inneren Prinzip erfolgen, da eine äußere Ursache keinen Einfluß auf ihr Inneres haben kann [...].
12. Außer dem Prinzip der Veränderung muß es aber noch eine
Besonderheit des sich Verändernden geben, wodurch gewissermaßen die Besonderung und die Mannigfaltigkeit der einfachen Substanzen bewirkt wird.
13. Diese Besonderheit schließt notwendig eine Vielheit in der Einheit oder im Einfachen in sich. Denn da jede natürliche Veränderung gradweise vor sich geht, so gibt es immer einiges, was sich verändert und einiges, was bleibt. Folglich muß es in der einfachen Substanz eine Vielzahl von Beschaffenheiten und Beziehungen geben, obwohl sie nicht aus Teilen besteht.

LEIBNIZ, GOTTFRIED WILHELM: Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade. Monadologie. Hrsg. von HERBERT HERRING. Hamburg 1956, S. 27-31.