Der Polizist weckte ihn, brachte
ihm seine Kleidung, das Essen und führte ihn bald darauf mit Turner
zum Wagen. Jetzt standen auch hier Reporter herum, die aber von den Polizisten
abgehalten wurden. Es blitzten so viele Fotoapparate wie vorgestern nach
dem Prozess, aber Thomas konnte keine Fragen verstehen. Sie gingen im ganzen
Geschrei unter.
"Wissen Sie noch, was Sie
tun müssen?" fragte Turner zur Kontrolle.
Thomas nickte nur und schaute
wieder hinaus. Er freute sich auf das Wiedersehen mit Libby und fragte
sich, ob es ihr wirklich so schlecht ging wie Turner es beschrieben hatte.
Aber das Wiedersehen stand unter keinem guten Stern. Vielleicht sah er
sie heute das letzte Mal und wenn er sie später wieder sah, durfte
er sie nicht berühren, sondern nur durch die Glasscheibe betrachte
und mit ihr durch ein Telefon sprechen, obwohl sie sich genau gegenüber
sassen.
Er musste plötzlich daran
denken, dass sie, nachdem er von dieser Reise zurück gekommen ist,
zum ersten Mal miteinander schlafen wollten. Sie wollten es an seinem Geburtstag
tun hatten sich beide langsam auf diesen Moment vorbereitet, weil eigentlich
beide dazu erzogen wurden, dass sie keinen Sex vor der Ehe hatten. Es wäre
für sie beide das erste Mal. Er hatte sich im Flugzeug mit diesem
Gedanken getröstet, da er sie jetzt ein paar Tage nicht mehr sehen
würde. Jetzt konnte er sich nicht mehr mit diesem Gedanken trösten.
Vielleicht würde sie sich durch dieses Erlebnis von ihm trennen. Vielleicht
wollte sie nicht mit jemandem zusammen sein, der mordete. Er wusste zwar,
dass Libby ihn liebte, sie hatte es ihm immer und immer wieder gesagt und
jedes Mal kam es wieder aus ganzem Herzen, aber würde die Liebe dieses
Erlebnis verkraften? Er konnte es nicht sagen, aber hoffte sehr, dass sie
es tat. Er konnte nicht mehr ohne Libby leben. Das ging nicht mehr.
Er riss sich selbst aus diesem
Gedanken, stieg aus und ging mit ausdruckslosem Gesicht durch die Menge
von Reportern. Es waren noch mehr geworden, als es gestern war.
Der Prozess begann fast sofort
mit der Befragung von Präsident Curnten, dessen Tochter Jennifer vergewaltigt
wurde. Die Klägerin stellte gleiche Fragen wie schon bei A. J. Jackson,
ausser dass sie sich jetzt wesentlich gewählter und vorsichtiger ausdrückte.
Curnten war ihr Präsident, da musste sie schon aufpassen was sie sagte.
Turner versuchte wieder heraus
zu finden, ob Jennifer sich mit Ausländern traf, was sie nicht tat,
da immer ein paar Bodyguards dabei waren und die konnten bestätigen,
dass sie sich nur mit angesehen, amerikanischen, ebenfalls sechzehnjährigen
Mädchen und Jungs traf.
"Wenn immer Bodyguards dabei
waren, wie konnte Ihre Tochter dann vergewaltigt werden? Hatten die Leibwächter
nicht die Pflicht, sie zu schützen, auch wenn es ihr Leben kosten
würde?"
Darauf antwortete der Präsident:
"Auch meine Tochter hat ein Privatleben, bei dem sie ihre Leibwächter
nicht duldet. Ich fürchte, Ihr Mandant, das heisst, der Vergewaltiger,
kannte ihr Privatleben genau und konnte sie so in einem Moment erwischen,
als sie alleine war."
Der Blick vom Präsidenten
wiederholte sich nicht. Jetzt waren in seinen Augen klar Hass gegen Thomas
und Trauer und Sorge um seine Tochter.
Turner erzielte nicht das
gewünschte Ergebnis. Es sah nicht besser für ihn aus als am Morgen.
Auch als Libby aussagte, und
sie drückte sich wirklich gut aus, so dass eigentlich immer Thomas
der Gute war, hatte Thomas kein besseres Gefühl. Er hatte zwar ein
bisschen mehr Hoffnung, aber das lag vermutlich nur daran, dass es Libby
war, dass er sie endlich wieder sah und sie sprechen hörte.
Aber die Worte aus ihrem Mund
waren nicht an ihn gerichtet. Sie galten der Klägerin, die sie dauernd
Sachen über ihn fragte, die nicht alle zu Thomas' Wohl beitrugen.
Auch sein Vater musste mal
in den Zeugenstand, allerdings nicht allzu lange.
Dann musste Ronan, der, dem
sie das Geld gegeben hatten, in den Zeugenstand. Er war ein Typ, der sich
selten aus der Ruhe bringen liess, und immer alles ganz cool aufnahm, aber
jetzt ging es ihm nicht gut. Er war nervös, schwitzte leicht und war
gereizt. Er warf immer wieder besorgte Blicke zu Thomas, der versuchte,
ihn zu beruhigen, was allerdings mit Blickkontakt nicht besonders gut ging.
Diese Nervosität lag
daran, dass Thomas und die Clique für ihn die Familie waren. Würde
Thomas ins Gefängnis gehen, wäre das für Ronan so, als würde
sein Bruder, den er nicht hatte, ins Gefängnis gehen. Sein Vater war
früh gestorben und seine Mutter arbeitete hart und lange, damit ihr
Sohn an die Universität konnte. Sie war immer müde und gereizt,
wenn sie nach Hause kam, so dass sie selten ein Wort zuviel miteinander
sprachen.
Lächelnd musste Thomas
daran denken, wie sie einmal versucht hatten, seinen Vater mit seiner Mutter
zu verkuppeln. Es hatte nicht geklappt. Die beiden waren zwar gute Freunde
geworden, aber mehr nicht. Beide trauerten noch zu sehr ihren Verstorbenen
nach.
Ronan antwortete mit kurzen
Sätzen auf die Fragen der Klägerin und auf die Turners. Er brachte
sich nur langsam unter Kontrolle, aber er schaffte es. Als er den Zeugenstand
verliess, lächelte er Thomas an und hob den Daumen, um zu zeigen,
dass er es schaffen würde. Thomas lächelte nur zurück und
nickte dankend.
Der Prozess wurde um weitere
zwei Tage verschoben, damit sich die Geschworenen beraten konnten. Genau
die zwei Tage, die Thomas von seinem achtzehnten Geburtstag und somit von
seiner Volljährigkeit trennten.
Weitere Vorbereitungen, ohne
Unterbruch und unruhige Nächte, in den Thomas sich nicht erholen konnte.
Diese zwei Tage gingen so schnell rum, dass Thomas nicht glaubte, dass
er jetzt volljährig war. Heute wäre der Tag gewesen, an dem er
seine Unschuld verlieren wollte. Das konnte er jetzt vergessen. Der Prozess
war noch lange nicht zu Ende, er würde sich noch, wie Turner gesagt
hatte, über Wochen hinweg ziehen.
Turner kam wie immer mit einem
Lächeln hinein und hielt ihm die Hand hin.
"Happy Birthday, Thomas."
Thomas schüttelte die
Hand und dankte.
"Ich wünschte, es wäre
noch nicht so weit."
Turner nickte nur und meinte
leise: "Es wäre besser für Sie, wenn Sie noch nicht so alt wären,
das stimmt."
Trotzdem liess er sich nicht
die schlechte Stimmung verderben und lachte wieder.
"Vielleicht bekommen Sie eine
Sondergenehmigung, dass Sie Ihre Verlobte wenigstens sehen können.
Ich werde einmal schauen, was sich machen lässt."
Thomas lächelte dankbar.
Dann konnte er immer hin sie schon so ansehen, wie er wollte und musste
sich nicht von irgendwem etwas vorschreiben lassen.
"Also, kommen Sie. Machen
wir uns langsam auf den Weg."
Er holte den Polizisten mit
einem Zeichen herein, der sofort die Zellentür öffnete, Thomas
die Handschellen anlegte und ihn hinaus zum Wagen brachte. Eine für
Thomas unterdessen wohl vertraute Handlung. Auch die Reporter störten
ihn nicht mehr so sehr wie am Anfang. Sie waren nur noch Nebengestalten
in einem bösen Traum, die einfach dazugehörten, den Lärm
machten, den sie machen mussten und dann wieder verschwanden, bis sie erneut
auftreten mussten.
Sie fuhren zum Gerichtsgebäude,
gingen wieder an den Reportern vorbei und kamen in den schon wieder gefüllten
Gerichtssaal. Sie setzten sich und bald darauf kam der Richter wieder und
eröffnete die Verhandlung.
"Die Geschworenen haben mich
gebeten, sie einen Augenblick zu Wort zu lassen", begann er.
Mit einem Handzeichen übergab
er dem Leitenden Geschworenen, das heisst, dem, der bei einem Unentschieden
den Stichentscheid gibt, das Wort.
"Wir haben uns lange unterhalten
und alle Vor - und Nachteile dieser Situation besprochen, sind aber dann
zum einstimmigen Resultat gekommen.
Die Geschworenen benutzen
zum ersten Mal das neue Gesetz nach Paragraph 387 und befinden den Angeklagten
für schuldig des Mordes und der Vergewaltigung an sechs Frauen und
der Vergewaltigung an elf Frauen. Wir verurteilen ihn zu fünfzehn
Jahren unbedingter Haft."
Thomas blieb die Luft stehen.
Seine ganze Ruhe war verflogen, die Geräusche, die jetzt durch den
Raum gingen, prallten an ihm ab. Er hörte nur noch 'schuldig'. Sie
hatten ihn vor Ende des Prozesses für schuldig erklärt, bevor
alle Zeugen ausgesagt hatten und sich vielleicht alles noch gedreht hätte.
Sie hatten ihn verurteilt.
Polizisten kamen auf ihn zu,
legten ihm wieder Handschellen an und führten ihn ab. Verzweifelt
versuchte sich Thomas zu wehren.
"Das könnt ihr nicht
machen. Dad, Libby! Helft mir doch!"
Er wehrte sich mit Händen
und Füssen und es war wahrscheinlich zu seinem Vorteil, dass sie nicht
losliessen, denn wenn sie das täten und er versuchen würde zu
fliehen, könnten sie die Strafe noch erhöhen, auf lebenslänglich.
Ohne Fragen zu stellen, ob
sie es jetzt wirklich tun sollten, führten die Polizisten ihn hinaus,
zu einem schon wartenden Gefängniswagen und sperrten ihn ein. Sofort
fuhr der Wagen los und brachte einen unschuldigen, gerade volljährig
gewordenen Mann ins Gefängnis, wo er einen grossen Teil seines Lebens
verbringen sollte.
Thomas glaubte nicht, was
er gehört hatte. Das konnten sie doch nicht tun. Es gab keinen Paragraphen
387, sie hatten kein Recht dazu, das zu tun. Es musste eine faire Verhandlung
geben, das ging doch nicht.
Wie betäubt sass er auf
der schmalen Bank, starrte mit grossen Augen vor sich hin und sah immer
noch dieses Gesicht des Geschworenen, wie er ihn ansah, als er ihn für
schuldig erklärte. Seine Augen waren so voller Hass, voller Abscheu,
es sah fast so aus, als wolle er ihn gleich umbringen. Vermutlich hätte
er es auch getan, wenn er nicht zufällig ein Geschworener gewesen
wäre und sie nicht im Gerichtssaal wären.
Er konnte es nicht fassen.
Er kam ins Gefängnis. Er musste für fünfzehn Jahre ins Gefängnis,
obwohl er nichts getan hatte, obwohl er für viele Morde und Vergewaltigungen
Alibis hatte und weder Zeit noch Motiv hatte. Was brachte die Geschworenen
dazu, ihn zu verurteilen? Hatte er ihnen einmal einen Grund geliefert?
Er konnte sich aber an keinen erinnern.
Hatte sie jemand bestochen?
Vielleicht alle Prominente zusammen? Auch der Präsident? Hatten sie
sie bestochen, damit der Verbrecher, der Mörder ihrer Töchter
bestraft wurde? Warum hatten sie dann nicht gleich die Todesstrafe angefordert?
Als ganz aussergewöhnlicher Fall? Er konnte doch genauso gut tot sein.
Das Gefängnis war eher schlimmer als der Tod. Dort lebte er wie im
Koma. Er lebte zwar, aber er konnte nichts tun, sein Gehirn würde
verblöden und er würde abstumpfen. Er würde dort verrückt
werden.
Der Wagen machte eine quietschende
Bremse und schon wurden wieder die Türen aufgerissen, Polizisten stürmten
herein und schleppen ihn hinaus. Eine ganze Kompanie von Polizisten wartete
vor der Tür des 'Staatsgefängnis'. Sie sorgten dafür, dass
neugierige Spaziergänger nicht näher kamen als sie durften und
dass nicht irgendein Hinterhalt gemacht werden konnte.
Thomas wurde hinein gebracht,
wo ihm alle Wertsachen abgenommen, in einen Sack getan wurden, den er am
Ende seiner Frist wieder bekommen würde. Er bekam Jeans und ein blaues
Hemd zum Anziehen, auf dessen Brusttasche eine Nummer geschrieben war.
Seine Nummer.
Ein Polizist brachte den noch
immer vollkommen erschrockenen Thomas noch weiter in das ganze Gebäude
hinein, wo sie dann schliesslich vor einem Gitter stehen blieben.
"Pass auf. Die Jungs da drin
haben ein hartes Leben. Sie haben genau die gleichen Rangordnungen wie
wir hier draussen. Jeder Neue ist zuunterst und muss sich hocharbeiten.
Du bist für sie im Moment also nicht mehr als ein Stück Dreck,
klar?"
Langsam erholte sich Thomas
von seinem Schrecken. Er musste sich zusammen reissen. Vielleicht konnte
Turner dieses Missverständnis ja doch noch klären, und er kam
wieder heraus. Alles, was er jetzt tun musste, ist, sich auf diese Knastbrüder
vorzubereiten.
Der Polizist, der ihn gewarnt
hatte, öffnete ihm die Handschellen und machte das Gitter auf. Langsam
ging Thomas hinein, hinter kam der Polizist nach, damit er ihn zur Zelle
begleiten konnte. Er bekam gleich eine am Anfang des langen Ganges, an
den noch viele andere Zellen angrenzten. Es war aussergewöhnlich ruhig.
Niemand schien sich in den Zellen zu befinden.
"Die anderen sind draussen.
Du siehst sie erst beim Mittagessen, bis dahin musst du hier bleiben. Einer
von uns kommt dich holen."
Er schloss das Gitter seiner
Zelle und verschwand wieder. Thomas sah ihm einen Moment lang nach, bis
er tief einatmete und sich unter Kontrolle brachte.
Er kam wieder aus diesem Gefängnis
raus. Turner würde ihn heraus holen, weil Thomas' Vater ihn dafür
bezahlen würde. Er musste nur ein bisschen warten, bis sich alles
geklärt hatte. Bis dahin musste er sich diesem Leben hier anpassen.
Neugierig sah er sich in der
Zelle um. Er bewohnte sie mit einem anderen, der scheinbar das untere des
Kajütenbettes genommen hatte. An den Wänden hatte er Bilder von
nackten Frauen aufgehängt und scheinbar beanspruchte er den ganzen
Platz für sich. Thomas nahm eines der Hefter, die auf dem Bett seines
Zellengenossen war und klettere zu seinem Bett hinauf. Er legte sich darauf
und wollte zu lesen beginnen.
Auf dem Heft war sein Gesicht
gross abgebildet. Das Foto wurde dann gemacht, als er gerade in das Gerichtsgebäude
wollte. Sein Gesicht war ohne Lächeln, aber auch ohne Angst oder Hass.
Es war ganz ruhig. Fast musste er lächeln. Er hatte es wirklich gut
geschafft, gleich gültig zu wirken. Turner hatte ihn also zu Recht
gelobt.
Er blätterte auf die
Seite um, auf der ein vierseitiger Bericht war. Es waren viele Bilder von
ihm daran, auch ein paar von Turner und von seinem Vater. Er las den Bericht
und erfuhr dabei über die Spekulationen der verschiedenen Zeitschriften.
Einige hielten ihn für schuldig, andere waren vollkommen überzeugt,
dass er nichts getan hatte. Einige deren, die ihn für unschuldig hielten,
äusserten die Bedenken über diesen neuen Paragraphen 387.
Plötzlich erinnerte sich
Thomas an ihn. Sie hatten ein bisschen in der Schule davon gehabt. Er sagte,
dass, wenn alle Geschworenen einstimmig sagen, jemand sei schuldig, obwohl
nur Indizienbeweise vorlagen, könne man ihn noch vor dem Ende des
Prozesses verurteilen. Dieser Paragraph war erst vor ein paar Monaten verabschiedet
worden.
Die Geschworenen hatten also
mit Recht gehandelt. Sie durften das machen und Turner hatte so gut wie
keine Chance etwas anderes zu beweisen. Die Entscheidung war einstimmig
gefallen. Thomas' einzige Hoffnung war jetzt noch eine 'seiner' Opfer.
Würde eine aus ihrem Koma erwachen, könnte sie ihn bestimmt nicht
als ihren Peiniger identifizieren. Er konnte jetzt also nur noch hoffen.
Einen Teil seiner so mühsam
unterdrückten Angst und Verzweiflung kam wieder hoch. Aber er unterdrückte
sie. Er durfte sie nicht zeigen. Schliesslich hatte er ja nichts getan,
also hatte er auch keinen Grund zur Angst.
Lustlos blätterte er
weiter in diesem Heft herum. Er fing noch einmal vorne an, übersprang
den Bericht über ihn und las weiter, ohne irgend etwas mitzubekommen.
Plötzlich wütend
geworden warf er das Heft gegen das Gitter. Er biss sich auf die Lippen,
denn er wusste, dass er nicht wütend sein durfte. Er musste sie unter
Kontrolle bringen. Er presste seine Hände zu Fäusten zusammen
und spürte immer noch schmerzhafte Stiche seiner Wunden. Am Ellbogen
waren sie schon ziemlich gut verheilt, aber an den Händen und den
Knien nicht. Er hatte immer noch diesen Verband.
Er starrte auf die Decke,
die grau und schmucklos über ihm war. Irgendwie wirkte sie beruhigend
auf ihn. Sie war so schlicht und nirgends war ein Stück, das ihn noch
mehr reizen konnte, weil alles gleich war.
"Hast du es dir schon bequem
gemacht?" fragte da ein Polizist.
Thomas starrte ihn einen Moment
wütend an, bevor er tief einatmete, vom Bett herunter sprang und seine
Wut tief in sich begrub.
"Ich soll immerhin ein paar
Jahre hierbleiben. Warum sollte ich es mir da nicht bequem machen dürfen?"
Der Polizist lächelte
und öffnete die Tür. Er führte ihn in die andere Richtung,
als in der er gekommen war, in einen Saal, der schon von weitem mit Geschrei
angekündigt wurde. Es war der Essraum, in dem schon alle anderen am
Essen waren. Der Polizist schob ihn hinein und schloss dann hinter ihm
gleich wieder die Tür.
Durch das ziemlich laute Geräusch,
da es eine schwere Türe war, wurden die anderen auf ihn aufmerksam.
Der Lärm wurde leiser, bis es ganz still war. Alle starrten auf Thomas,
dessen Gesicht vollkommen ausdruckslos war.
Einer kam auf ihn zu. Thomas
sah ihn ruhig an. Er hatte, genau wie er auch und alle anderen, die gleichen
Kleider an. Aber er trug seine Haare ziemlich kurz und hatte eine Narbe
auf seiner Wange. Es steckte ein Ohrring mit einer Feder daran in seinem
Ohr. Vermutlich war er etwa dreissig, vielleicht ein bisschen jünger.
Er ging einmal um Thomas herum und blieb dann dicht vor ihm stehen. Thomas
musste den Kopf heben, um ihm in die Augen zu sehen.
"Bist du der, den sie heute
verurteilt haben? Slater? Mit diesem neuen Gesetz?" fragte er.
Thomas fragte ruhig zurück:
"Warum sollte ich das dir sagen?"
Der Mann lächelte und
wandte sich an die anderen Häftlinge.
"Hört, hört! Der
Kleine will Krach mit mir."
Sie johlten und bildeten einen
Kreis um sie. Der Mann grinste immer noch seine Kollegen an, als er sich
plötzlich umdrehte und seine Faust in Thomas' Magen rammte. Er wurde
gegen die Wand geschleudert und hustete.
"Na, willst du mir nicht antworten?"
fragte er wieder.
Thomas holte tief Luft und
rappelte sich mühsam wieder auf. Er brachte seinen Schmerz genauso
wie alle anderen Gefühle tief in seinem Innern unter. Sein Gesicht
war immer noch ausdruckslos.
"Ja, ich bin Slater."
Der Männer pfiffen beeindruckt.
"Dann hör einmal gut
zu, Slater. Ich bin hier der Chef, und jeder antwortet mir, wenn ich ihn
etwas frage, verstanden?"
Ruhig sah sich Thomas in diesem
wilden Haufen um. Nur wenige waren so jung wie er.
"Warum bist du hier?"
Thomas wandte seinen Blick
wieder ihm zu und antwortete ruhig: "Ich soll ein paar Frauen vergewaltigt
haben."
Der Mann grinste wieder.
"Du sollst? Willst du behaupten,
dass du es nicht getan hast? Niemand kommt hierher, wenn er unschuldig
ist."
Thomas schüttelte den
Kopf.
"Unschuldig sein und unschuldig
gesprochen werden ist ein Unterschied."
Er lächelte leicht. Scheinbar
gefiel dem Mann seine Antwort nicht, denn seine Hand raste auf sein Gesicht
zu. Doch jetzt war Thomas gefasst und er hob seine eigene Hand, um ihn
abzublocken und liess gleichzeitig seine zweite vorschnellen.
Er klappte zusammen und machte
ein paar Schritte rückwärts.
Thomas ging in Abwehrstellung.
Er hatte Glück, dass er schon als kleine Junge anfing, Karate zu lernen,
so dass er jetzt den schwarzen Gürtel hatte.
Der Mann erhob sich wieder
und zeigte seine Zähne.
"Das hätte ich nicht
gemacht, Kleiner."
"Zum Glück bin ich nicht
du", antwortete Thomas und wehrte einen weiteren Schlag ab.
Er schlug ihm die Beine unter
dem Körper weg und rammte die Faust in sein Gesicht. Der Mann warf
ihn dank seiner grösseren Kraft auf die Seite, und konnte wieder aufstehen.
Thomas lehnte nach hinten und schlug mit seinem Bein auf sein Gesicht ein.
Er drehte sich um und vollführte einen weiteren Schlag, den der Mann
allerdings ablocken konnte. Er fasste sein Bein und Thomas verlor das Gleichgewicht.
Er fiel auf den Boden. Der Mann setzte sich sofort auf seinen Rücken
und drehte ihm den Arm herum. Thomas unterdrückte einen Schmerzensschrei.
Mit der anderen Hand hob er Thomas' Kopf an den Haaren hoch.
"Du bist gut, Kleiner, aber
du weisst noch nicht, auf was du dich eingelassen hast."
Er liess seine Kopf fallen
und stand wieder auf.
"Pass auf dich auf, Slater.
Es ist noch nicht vorbei", rief er ihm zu, als er sich mit seinen Freunden
an einen Tisch setzte.
Thomas stand langsam wieder
auf und wischte sich das Blut von seinem Mundwinkel. Die anderen Gefangenen
standen wieder in eine Reihe, um sich ihr Mittagessen zu holen. Thomas
stand ebenfalls in die Reihe und fasste sich sein Essen. Er wollte gerade
zu einem freien Tisch gehen, als ihn der Mann zu sich rief.
"Du setzt dich hier hin, Kleiner!"
befahl er. Thomas blieb einen Moment stehen.
"Willst du etwa Krach mit
dem Aufseher? Die können deine Strafe problemlos erhöhen."
Thomas seufzte und setzte
sich vor ihn, zwischen zwei andere seiner Kumpels.
Der Mann streckte ihm die
Hand entgegen. "Ich bin Lee."
Erstaunt drückte Thomas
ihm die Hand und lächelte. "Thomas."
"Ja, das wissen wir. In allen
Zeitschriften haben sie nur über dich berichtet. Hast ganz schön
viel Staub aufgewirbelt."
Er grinste wieder. "Weisst
du, viele die hier sind, haben nichts oder jedenfalls nicht viel getan.
Sie sind einfach unerwünschte Elemente dort draussen, die der Präsident
nicht haben will. Er will ein sauberes Land, da können sie keine Verbrecher
brauchen."
Thomas nickte. "Irgendwie
habe ich das zu spüren bekommen. Vermutlich hat er dieses neue Gesetz
auch nur erlassen, weil er damit den Vergewaltiger seiner Tochter besser
fassen könnte."
Lee nahm einen Bissen von
seinem Brot und sagte noch mit vollem Mund: "Eigentlich habe ich ja nichts
gegen Präsidenten persönlich, es sind einfach diese Menschen,
die alles so genau nach Gesetz machen und nie auch nur daran denken, einmal
gegen es zu verstossen. Du bist eigentlich auch so einer, ist dir das bewusst?"
Thomas zuckte nur mit den
Schultern.
"Ich studiere Jura. Ich verstosse
automatisch nicht gegen das Gesetz, weil ich weiss, ich darf und was nicht."
Lee winkte ab. "Ich weiss.
Du hast auch den besten Notendurchschnitt des ganzen letzten Jahrzehnts.
Aber das bedeutet nicht, dass du besser bist als irgendein anderer von
uns hier. Du bist im Gefängnis, und hier sind alle gleich, ob schwarz
oder weiss, ob intelligent oder nicht. Das einzige, was darauf ankommt,
ist die Kraft, sowohl die des Körpers als auch deiner Wörter.
Wenn du dich gegen die anderen durchsetzen kannst, wirst du akzeptiert,
sonst bist du einfach nichts, und wirst nicht beachtet."
Thomas sah ihn einen Augenblick
ruhig an, bevor er sagte: "Ich kann mich durchsetzen."
Lee sah ihn leicht grinsend
an. "Das werden wir ja noch sehen."
Thomas nickte. "Ja, werden
wir. Allerdings habe ich nicht das Gefühl, als ob ich lange hierbleiben
werden. Spätestens wenn eine dieser Frauen aufwacht, komme ich hier
wieder raus."
Lee lachte laut. "Das glaubst
nur du. Ich sitze auch wegen Vergewaltigung. Es sollen drei gewesen sein,
aber es waren nur zwei. Und wenn man mich nur wegen diesen beiden angeklagt
hätte, dann wäre ich seit drei Jahren draussen. Aber die Kleine,
der ich nichts getan habe, hat nie auch nur den Mund aufgemacht, um zu
sagen: 'He Leute, das ist nicht der, der mir weh getan hat. Es war ein
anderer.' Glaub' mir Thomas, so einfach ist das nicht."
Verwirrt sah Thomas ihn an.
"Du glaubst, dass elf Frauen
einfach nichts sagen, weil sie sich vielleicht schämen oder so etwas
und dafür einen Unschuldigen sitzen lassen?"
Lee nickte und antworte: "Genau
das glaube ich. Sie sind froh, wenn wenigstens einer sitzt und sie sich
einreden können, dass das ihr Vergewaltiger war. Sie verdrängen
den Gedanken daran, dass es ja ein anderer gewesen sein könnte."
Ein weiterer Teil von Thomas'
Hoffnung verflog. Wenn wirklich all diese Frauen nichts sagen würden,
dann würde er hier fünfzehn Jahre, vielleicht auch nur zehn oder
zwölf wegen guter Führung sitzen.
"Ausserdem", fuhr Lee fort,
"Es waren alles, oder jedenfalls die meisten solche berühmten Töchter,
die sich einen guten Anwalt leisten können, aber dafür kein Geld
ausgeben wollen, wenn es nicht unbedingt sein muss. Wenn du jetzt wieder
raus kommen würdest, würden die Ermittlungen erneut losgehen
und falls man den richtigen schnappen würde, müssten sie wieder
Geld für die Anwälte bezahlen. Das wollen die nicht. Sie lassen
lieber einen falschen sitzen, anstatt Geld auszugeben."
"Aber, dann könnte er
ja wieder zuschlagen. Vielleicht trifft es sie ja auch noch mal!"
"Es könnte sein, ist
aber ziemlich unwahrscheinlich. Es wird ein anderes Mädchen dran kommen,
dessen Eltern vielleicht eher darauf versessen sind, den richtigen Mörder
zu schnappen."
Lee klopfte ihm auf die Schultern.
"Kopf hoch, Kleiner. Hier
hast du vielleicht weniger Bewegung als draussen, wirst weniger gut behandelt",
er zeigte auf sein Essen, "schlechterer Frass, aber ansonsten hast du hier
sogar noch Vorteile. Du kannst nur verprügelt werden und wenn, dann
ist klar, dass dieser sofort in Einzelhaft kommt. Du musst also kein Geld
für Anwälte ausgeben, nur damit jemand bestraft wird."
Thomas liess sich damit nicht
so leicht aufheitern.
"Wie lange bist du schon hier?"
Lee hob den Kopf und starrte
hinauf, als würde es dort oben stehen.
"Lass mich mal nachdenken.
Ich glaube, dass sind jetzt dann bald neun Jahre."
"Und wie lange musst du noch
bleiben?"
"Noch ein bisschen länger
als ich schon drin bin."
"Du wurdest zu lebenslänglich
verurteilt? Wegen Vergewaltigung an zwei Frauen?"
"Das Problem war, dass diese
Frauen, nun eigentlich waren es ja noch Mädchen, vielleicht fünfzehn
oder sechzehn, aber superscharfe Bräute, dass eben diese ziemlich
gute Anwälte hatten. Eine konnte sogar gegen mich aussagen und hat
alles so genau beschrieben, dass es wirklich brutal war. Sie war eine dieser
wenigen Frauen, die sich nicht schämen. Na ja, so wurde natürlich
alles verschlimmert und statt der zehn Jahre, die mich auch aus der Sicht
meines eigenen Anwaltes erwarteten, wurden halt fünfundzwanzig daraus.
Na ja, vielleicht schaffe ich's ja schon in vier oder fünf Jahren
hier raus zu kommen."
Thomas schüttelt ungläubig
den Kopf.
"Wie alt warst du damals?"
"Etwa zwanzig."
"Du hast noch dein ganzes
Leben vor dir und vergreifst dich einfach an zwei Minderjährigen,
obwohl du weisst, dass du das nicht darfst?"
"He, Kleiner, was geht dich
das eigentlich an? Jetzt kann man sowieso nicht mehr daran ändern."
Scheinbar hatte Thomas Lees
gute Stimmung verdorben.
"Hör zu, Kleiner. Warum
ich hier bin, kann dir egal sein, das, was dir Sorgen machen muss, dass
ich hier bin und du auch. Ein weiteres Problem ist, dass ich hier der Chef
bin und du nur ein kleiner, nichtsnutziger Unschuldiger, der hier seine
Strafe absitzen soll. Sind dir diese Unterschiede bewusst?"
Thomas nickt ruhig: "Natürlich.
Aber ich lasse mich nicht von dir ausnutzen, denn ich kenne meine Rechte,
die ich auch hier drin habe."
Lee grinste. Thomas musste
feststellen, dass er ein wahnsinnig attraktives Grinsen hatte. Wenn er
jetzt eine Frau gewesen wäre, würde es wahrscheinlich nicht mehr
lange gehen und er würde mit ihm im Bett liegen.
"Ich denke, da täuscht
du dich. Nicht überall sind Wächter, die aufpassen und wenn man
neun Jahre hier war, kennt man die Plätze und keiner der Polizisten
würde etwas gegen mich unternehmen ohne Beweise, und ein blaues Auge
ist kein Beweis dafür, dass ich es gewesen bin."
Lee grinste noch einmal und
stand dann mit seinen Kumpels auf. Thomas blieb leicht verwirrt sitzen.
Es war ihm klar, dass nicht überall Wächter und Kameras waren,
aber würde Lee ihn wirklich verprügeln, und damit seine Verminderung
aufs Spiel setzen, so dass er wegen guter Führung vielleicht früher
'raus kam? Er konnte sich so etwas nicht vorstellen. Kein Mensch konnte
doch so blöd sein.
Ein anderer Mann setzte sich
vor ihn auf die Bank.
"Hi, ich bin Mike."
Thomas sieht ihn erschrocken
an, er hatte gar nicht bemerkt, dass Mike sich gesetzt hatte.
"Ich bin Thomas", sagte er
dann aber doch.
"Ich habe dein Gespräch
mit Lee mitgekriegt. Hast dich gut geschlagen. Als ich dieses Gespräch
hatte, machte ich mir vor Angst fast in die Hosen."
"Er führt dieses Gespräch
mit jedem Neuen?"
Mike nickte.
"Ja, zuerst wirst du verprügelt,
dann wird geredet und wenn du Glück hast, lässt er dich hinterher
in Ruhe. Wenn du ihm aus dem Weg gehst, passiert nichts."
"Ich denke, in meinem Fall
wird das nicht so einfach sein", sagte Thomas ruhig.
Mike sah ihn fragend an: "Wie
meinst du das?"
"Ich teile mit ihm meine Zelle."
Mike warf einen Blick auf
Thomas' Nummer. Diese Nummer fing immer mit der Zellennummer an und es
war die Nummer sieben, die gleiche wie bei Lee.
"Mein herzliches Beileid.
Versuche ja nicht, die Bilder von den Wänden wegzunehmen. Das hat
er gar nicht gerne."
Thomas lachte.
"Das kann ich mir vorstellen."
Mike pickte ein Stück
von Thomas' Essen heraus und schob es sich in den Mund.
"Bist du wirklich unschuldig,
oder sagst du das nur zur Tarnung? Mir kannst du es ruhig sagen, niemand
hört hier zu."
"Ich bin unschuldig", antwortete
Thomas.
Mike nickte langsam, bevor
er schliesslich sagte: "Du sollst die Tochter unseres Präsidenten
vergewaltigt haben, nicht? Mit der hätte ich es auch gerne getrieben.
Mann, ist die süss."
Thomas sah ihn ohne Lachen
an.
"Das ist nicht komisch, Mann.
Sie stirbt vielleicht, und ich darf dafür bezahlen."
Mike winkte ab.
"Die stirbt nicht. Vorhin
haben sie im Radio gebracht, dass sie wahrscheinlich schon in den nächsten
Tagen aufwachen wird und wieder nach Hause kann, in dieses schöne
Weisse Haus."
Thomas unterdrückte einen
erleichterten Seufzer. Vielleicht würde sie ja doch noch sagen, dass
er es nicht gewesen war. Als Tochter des Präsidenten wäre es
ja ziemlich peinlich, sich so zu verstecken und einen Unschuldigen sitzen
zu lassen.
"Komm, wir müssen gehen.
Meine Zelle ist vis-à-vis von deiner. Ich kann dir noch Geleitschutz
geben."
Thomas lächelte wieder
und stand auf. Er folgte Mike hinaus. Die anderen Häftlinge gingen
auch schon langsam hinaus. Mike blieb vor Thomas Zelle stehen.
"Lee kommt immer erst im letzten
Moment. Ich denke, er wird nicht gerade erfreut sein, mit dir eine Zelle
zu teilen. Aber in vielen Nächten ist er sowieso in Einzelhaft, also
hast du Zelle fast für dich."
Ein Polizist rief vom Gitter
her, dass alle Häftlinge jetzt in ihre Zellen zurückkehren sollen,
damit die Türen geschlossen werden konnten.
Thomas nickte Mike zu und
ging hinein. Er kletterte auf sein Bett hinauf und wartete.
Er hörte einen lauten
Befehl, und jemand schrie irgend etwas zurück. Schliesslich wurde
Lee von zwei Polizisten hinein geschoben und die Türen schlossen sich
automatisch. Lee rief ihnen noch einen Fluch durch die Gitter nach und
drehte sich um. Erstarrt hielt er in seinen Bewegungen inne und starrte
Thomas an.
"Was machst du hier?" fragte
er so deutlich, wie er sonst wahrscheinlich nie sprechen würde.
Thomas sah nur von seiner
erhöhten Stellung auf ihn herab und grinsend antwortete er: "Ich bin
dein neuer Zellengenosse."
Lee drehte sich um und schrie
zu den Polizisten hinaus: "Das könnt ihr nicht machen! Bitte nehmt
ihn da raus, ich mach' auch alles was ihr wollt, aber verfrachtet ihn in
eine andere Zelle, bitte!"
Es kam keine Antwort und Lee
liess sich verzweifelt auf den Boden gleiten. Thomas sprang von seinem
Bett und sah ihn an.
"Hast du irgendein Problem
damit?"
Lee sah ihn an, stand wieder
auf und fragte: "Ob ich ein Problem damit habe? Sehe ich so aus, als habe
ich keines? Ich habe diese Zelle neun Jahre lang für mich gehabt und
jetzt soll ich sie auf einmal mit jemandem teilen, noch dazu mit einem
solchen Grünschnabel wie dir?"
Thomas zuckte mit den Schultern.
"Ich schlage dir einen Handel
vor."
Lee wurde merkbar aufmerksamer.
Er hob die Brauen, um zu zeigen, dass er zu hörte.
"Und was wäre das für
ein Handel?" fragte er neugierig.
"Ich zeige dir deine Rechte
und du zeigst mir dafür, wie man hier überlebt und nicht verrückt
wird."
Lee sah ihn einen Moment lang
verwirrt und überrascht an, bis er meinte: "Ich zeige dir zwei Sachen,
du mir nur eine."
Bevor Thomas etwas darauf
antworten konnte, fuhr Lee schon wieder weiter und meinte: "Ich zeige dir,
wie man überlebt und nicht verrückt wird, und du zeigst mir meine
Rechte und unterstützt alle anderen bei rechtlichen Problemen."
Thomas zögerte einen
Moment. Was konnte man hier schon grosse rechtliche Probleme haben? Er
stimmte diesem Handel zu. Lee streckte ihm die Hand hin, um alles mit einem
Handschlag zu besiegeln. Lee grinste wieder sein Lächeln.
"Einer wie dich hat uns hier
noch gefehlt. Du hast bestimmt genug Arbeit."
Beim Abendessen verkündete
Lee, was Thomas und er beschlossen hatten.
"Ab jetzt kann keine eurer
Frauen etwas tun, was sie eigentlich nicht darf, nur weil ihr keinen Einspruch
erhebt und keiner dieser verdammten Bullen kann euch in Einzelhaft bringen,
weil ihr etwas gesagt habt, was ihnen nicht gefällt. Für das
haben wir jetzt Tommy, der sich dafür einsetzt, dass auch wir hier
Rechte haben. Keiner dieser Arschlöcher hat uns etwas zu sagen, das
nicht rechtlich ist. Alles, was wir dafür tun müssen, ist, ihm
beizubringen, wie man hier nicht überrannt wird oder verrückt."
Laute Schreie ertönten
und sie klatschten. Lee schien ziemlichen Einfluss zu haben. Das gefiel
Thomas. Wenn er auf der Seite des Stärksten war, konnte ihm so gut
wie nichts passieren. Dann war auch er der Stärkere.
Die Polizisten sorgten bald
wieder für Ruhe.
"Sonst wäre jetzt die
Hälfte in Einzelhaft", erklärte Lee Thomas, "aber jetzt bringen
sie uns nur zum Schweigen. Sie haben Respekt vor dir. Ich glaube, wir haben
einen guten Handel gemacht."
Er grinste wieder, und sein
freches Grinsen erreichte auch einen der Polizisten. Thomas konnte verstehen,
dass dieser dadurch gereizt wurde.
"Du kommst mit", befahl dieser
und nahm Lee am Ärmel.
Thomas sprang sofort auf und
mischte sich dazwischen. Der Polizist liess den Ärmel los und sah
Thomas warnend an.
"Misch' dich nicht ein, Bursche.
Das geht nur mich und Lee etwas an, verstanden?"
"Was hat er dann gemacht?
Er hat etwas verkündet, was alle erfahren dürfen. Wäre es
Ihnen lieber, wenn er es jedem einzeln sagt und Sie nichts davon mitkriegen,
hm?"
Der Polizist schnaubte nur.
"Er hat unerlaubt etwas verkündet.
Hätte er uns vorher gefragt, ob er das darf, wäre alles in Ordnung
gewesen, aber so ..."
"Aber Sie können ihm
dafür nicht Einzelhaft geben. Sie können ihn jetzt höchstens
wieder in seine Zelle zurückbringen, aber sonst ... Tut mir wirklich
leid für Sie, aber sonst können Sie wirklich nichts tun."
Thomas hob bedauernd die Schultern.
Der Polizist schnaubte wieder und brachte Lee fort. Thomas sah ihm nach
und langsam beruhigte sich alles wieder. Die Häftlinge setzten sich
wieder und assen weiter. Thomas brachte seinen Zorn auf dieses törichten
Polizisten unter Kontrolle und setzte sich ebenfalls. Lees Kumpel waren
ebenfalls mitgenommen worden, da sie am lautesten Geschrien und die Polizisten
am meisten gereizt hatten, so dass Thomas jetzt alleine dasass.
Aber nicht lange. Mike kam
wieder zu ihm setzte sich.
"Wieder einen Pluspunkt für
dich. Andere hätten sich das nicht gewagt."
Thomas schüttelte nur
den Kopf.
"Das hat nichts mit Mut zu
tun. Der Polizist hat laut den Gesetzen kein Recht, Lee einfach so in Einzelhaft
zu sperren, nur weil er etwas gesagt, was alle wissen dürfen."
"Das zu wissen, braucht vielleicht
keinen Mut, aber es laut auszusprechen. Dafür hättest du Einzelhaft
bekommen können. Beleidigung eines Staatsangestellten."
Thomas schüttelt den
Kopf.
"Ich habe nichts gesagt, was
ihn beleidigen könnte."
"Du vielleicht nicht, aber
wenn du dich wehrst mit Rechtsbeistand, was glaubst du, wem man glauben
wird? Dir oder einem Polizisten, der seit zehn oder mehr Jahren im Dienst
ist?"
Er musste einsehen, das Mike
recht hatte. Vermutlich würde man schon eher dem Polizisten glauben.
Na ja, das war jetzt auch egal. Er hatte erreicht, dass Lee nicht Einzelhaft
bekam und das war das einzige gewesen, was er hatte tun können.
Als Thomas in die Zelle zurückkam,
sah er Lee auf dem Bett liegen. Er hatte den Arm über den Gesicht,
wahrscheinlich um sich dem grellen Licht zu schützen, damit er schon
schlafen konnte. Thomas hielt ihm einen Apfel hin.
"Ich habe gedacht, dass du
vielleicht noch Hunger hast."
Lee begann zu grinsen, aber
es wurde mehr eine Grimasse daraus. Da erst sah Thomas, was Lee hatte.
Sein Auge war geschwollen,
überall waren blaue Flecken und er hatte eine Platzwunde an der Stirn,
die noch immer blutete und Lees Gesicht ziemlich verblutete. Am Hals verschwand
ebenfalls eine Wunde. An den Handgelenken hatte er rote Striemen, die nur
von Fesseln stammen konnten, die zu hart angezogen worden waren und aus
denen man sich befreien wollte.
"Was ... was haben sie mit
dir gemacht?" fragte er total entsetzt.
Er versuchte wieder zu lächeln,
diesmal vorsichtiger, so dass fast ein Lächeln daraus wurde.
"Sieht man das nicht?"
Thomas wollte etwas sagen,
aber er brachte kein Wort mehr heraus. Er drehte sich ruckartig herum und
klammerte sich ans Gitter.
"Ich will sofort meinen Anwalt
sprechen! Ich habe sieben Stunden nach Einlieferung ins Gefängnis
das Recht dazu, also holt ihn sofort her!"
Die anderen Gefangenen kamen
an die Gitter und einer von Lees Kumpeln, der mit Mike die Zelle teilte,
sah nicht viel besser aus, als Lee selber. Allerdings hatte er nur blaue
Flecken und nicht auch noch Platzwunden.
"Ich will mit meinem Anwalt
sprechen, verdammt noch mal!"
Einer der Polizisten kam,
sichtlich gelangweilt über diese schon fast nächtliche Störung
und fragte: "Was hast du für ein Problem?"
Thomas antwortete mit einer
Ruhe, die keinen Widerspruch zuliess: "Ich habe das Recht, mit meinem Anwalt
zu sprechen, und ich mache jetzt von diesem Gesetz Gebrauch, also, holt
ihn gefälligst hierher."
"Hör zu, Kleiner, es
ist bereits acht Uhr abends, glaubst du wirklich, dass dein Anwalt um diese
Zeit gestört werden will? Kann das nicht noch bis morgen warten?"
Thomas schüttelte den
Kopf.
"Nein, das kann es nicht.
Holen Sie ihn jetzt hierher. Wenn er sich beklagt, können Sie ihm
ja sagen, dass ich es unbedingt wollte."
Der Polizist seufzte nur und
ging, mit dem gleichen gelangweiltem Gang wieder. Thomas konnte nur hoffen,
dass er Turner auch wirklich holte.
Er wandte sich wieder um und
musterte Lee noch einmal. Er sah wirklich schrecklich aus.
"Haben sie das ... haben sie
das wegen mir gemacht?"
Lee nickte nicht, aber Thomas
wusste, dass es so war. Lee wurde dafür bestraft, dass er ihm helfen
wollte. Dazu hatten sie kein Recht. Aber scheinbar lief hier nicht alles
so genau nach Gesetz und hier schien man die Folterstrafe noch nicht ganz
abgeschafft zu haben. Die Polizisten verprügelten noch immer Häftlinge,
wenn sie etwas sagten, was ihnen nicht gefiel. Er hatte davon gelesen,
dass es noch immer solche Gefängnisse gab, hatte aber nicht geglaubt,
dass das hier, in Washington, sein könnte.
Der gelangweilte Polizist
kam wieder, und öffnete, ohne auch nur einen einzigen Blick auf Lee
zu werfen, die Zellentür und zog Thomas hinaus. Sofort schloss sich
die Tür wieder und der Polizist führte Thomas in einen kleinen,
grauen und dunklen Raum, in dem nur ein Tisch und zwei Stühle standen.
"Dein Anwalt hat gesagt, dass
er sich sofort auf den Weg mache."
Thomas setzte sich, so dass
er die Tür im Auge hatte und wartete. Es vergingen bestimmt nicht
mehr als fünf Minuten, aber für Thomas waren es mindestens fünf
Stunden, die er warten musste.
"Endlich", entfuhr es ihm,
als Turner dann hinein kam.
Dieser setzte sich und sagte:
"Es tut mir leid, aber ich konnte nichts dagegen unternehmen. Dieses neue
Gesetz verhindert jeglichen Einspruch. Und da Sie jetzt volljährig
sind, die Geschworenen einstimmig abgestimmt haben und alles andere sowieso
auch stimmt, konnten sie dieses Gesetz ohne Probleme anwenden."
Thomas winkte rasch ab.
"Sie konnten nichts dafür.
Niemand konnte es dafür, ausser den Geschworenen. Aber das ist nicht
der Hauptgrund, warum ich Sie sehen wollte."
Erstaunt hob Turner die Brauen
und fragte: "Nicht?"
Thomas schüttelte den
Kopf.
"Nein, es geht mir um etwas
anderes. Mein Zellengenosse, Lee wurde verprügelt, obwohl er nichts
getan hatte. Das heisst, er hat etwas gesagt, was den Wächtern vielleicht
nicht gefallen hat, aber das gibt ihnen doch keinen Grund, ihn gleich zu
verprügeln."
Turner hob beschwichtigend
die Hände.
"Ganz langsam, ja? Dieser
Lee wurde also von den Wächtern verprügelt, weil er etwas sagte,
was ihnen nicht gefiel?"
"Na ja, vermutlich habe ich
eher das gesagt, was ihnen nicht gefallen hat."
Jetzt schien er ihn total
verwirrt zu haben.
"Erzählen Sie doch alles
ganz langsam und schön der Reihe nach."
Thomas nickte und holte tief
Luft.
"Also, ich mit Lee einen Handel
gemacht. Er zeigt mir, wie man hier überlebt und dabei nicht verrückt
wird, dafür zeige ich ihm seine Rechte und unterstütze alle anderen
bei Rechtsproblemen."
Turner nickte. "Soweit habe
ich verstanden."
"Gut. Beim Essen hatte Lee
dann das verkündet und scheinbar freuten sich die Häftlinge darüber,
den sie schrien laut umher. Die Wächter griffen sofort ein. Lee sagte
mir, dass sonst mindestens die Hälfte in Einzelhaft gegangen wäre,
wenn so etwas passiert wäre. Es liege daran, dass ich jetzt hier bin
und die Wächter jetzt eingeschüchtert sind. Er sagte es ein bisschen
zu laut, und grinste dabei noch ziemlich frech, so dass er dann doch in
Einzelhaft gesperrt werden sollte. Ich griff ein und sagte, dass er kein
Recht dazu habe. Dem Wächter gefiel das nicht. Ich habe zuerst geglaubt,
dass er Lee wirklich nur in seine Zelle bringt, aber er hat ihn noch verprügelt!
Sein ganzes Gesicht ist blau und er hat an den Händen Striemen von
Fesseln, die zu eng angezogen waren und auch gescheuert haben müssen."
Turner nickte langsam vor
sich hin.
"Sie haben ihn wegen dem geschlagen?"
"Ich denke schon, vielleicht
hat Lee ja nachher noch etwas gesagt, aber das gibt niemandem einen Grund,
jemanden so zu verprügeln."
"Nein, ganz bestimmt nicht."
Turner stand auf und ging
zu dem hinter der Tür stehenden Wache.
"Würden Sie bitte einmal
einen gewissen Lee hierher bringen? Ich möchte ihn gerne etwas fragen."
Die Wache zögerte, ging
dann aber doch.
Turner setzte sich wieder
hin.
"Wissen Sie, warum er hier
ist? Wegen Gewaltbetätigung oder etwas in der Art."
"Er hat zwei minderjährige
Mädchen vergewaltigt."
"Hat er das Ihnen gesagt?"
Thomas nickte, meinte aber:
"Das hat nichts damit zu tun. Wenn er wegen Prügeleien sitzen würde,
dann vielleicht, aber nicht bei Vergewaltigung. Ich bin mir sicher, dass
er dem Polizisten nichts gemacht hatte."
Turner fand heraus, dass der
Direktor des Gefängnis die Gefangenen verprügelte und er wurde
abgesetzt und durch einen neuen, jungen ersetzt, der seine Pflichten gewissenhaft
erledigte. Die Bedingungen des Lebens im Gefängnis änderten sich
schlagartig, genau wie die Stimmung. Sie war jetzt nicht mehr zwischen
launisch und total gereizt, sondern zwischen launisch und fröhlich,
wenn auch nur selten.
Thomas 'erkämpfte' sich
seinen Platz in der hiesigen Hierarchie und wurde von allem akzeptiert.
Er sorgte sich nach wie vor freiwillig um die Rechtsprobleme von den Häftlingen,
aber vor allem auch um die Neuankömmlinge, die sich erst hier zurecht
finden mussten. Er lehrte sie alles, was sie wissen mussten und sorgte
dafür, dass man sie in den ersten Tagen zufrieden liess.
Obwohl Turner alles versuchte,
um das Urteil rückgängig zu machen, gelang es ihm nicht. Die
Tochter des Präsidenten, die aus dem Koma erwacht war, weigerte sich
hartnäckig auch nur einen Blick auf das Bild von Thomas zu werfen,
um ihn zu identifizieren, und da sie die Tochter des Präsidenten war,
konnte sie das tun, solange sie wollte. Turner redete ihr zwar mehrere
Male ins Gewissen, aber sie liess sich nicht erweichen und sorgte schliesslich
dafür, dass Turner das Weisse Haus nicht mehr betreten durfte, ohne
die ausdrückliche Erlaubnis des Präsidenten.
Somit gab Turner auf und Thomas
hatte keine Chance, früher als vor Ablauf seiner fünfzehnjährigen
Frist heraus zu kommen. Sein Vater stellte den Antrag, Thomas wenigstens
in ein Gefängnis nach England umzustellen, aber er wurde abgelehnt
mit dem Grund, dass das in England nicht sicher genug war. So hatte sein
Vater nur eine Wahl. Er konnte entweder in England bleiben und dauernd
zu ihm rüber fliegen, oder er konnte umziehen nach Amerika, damit
sie es näher hatten. Er entschied sich für die zweite Variante,
zusammen mit Libby und ihrer Familie, die sowieso umziehen wollten und
jetzt endlich wussten, wohin. Eigentlich hätte das Thomas erfreuen
sollen, aber das tat es nicht. Er hatte sich gewünscht, dass seine
Freunde einfach so weiter lebten, wie sie es immer taten und sich nicht
änderten. Doch dieser Umzug bewirkte das Gegenteil. Aber er konnte
seinen eigenen Vater nicht daran hindern, in seiner Nähe sein zu wollen.
Und da sein Vater auf niemanden Rücksicht nehmen musste, war es kein
Problem.
Schliesslich gewöhnten
sich alle daran, einen guten Freund im Gefängnis zu haben, auch wenn
sie alle überzeugt waren, dass er unschuldig war. Sie besuchten ihn
regelmässig und sorgten dafür, dass es ihm an nichts mangelte,
ausser an der Freiheit.
Für Thomas hatte das
Wort Freiheit längst einen mythischen Einfluss gekriegt. Es war mehr
eine Legende, etwas, von dem man nicht wusste, ob es stimmt oder nicht,
ob es das wirklich gab oder nicht.