Sarah Kirsch
 
geboren am 16. April 1935 im Harz. Studium der Biologie in Halle, Studium am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig.
Freischaffend Gedichte, Reportagen, Lyrik-Übersetzungen, Kinderbuch-Texte, Erzählungen.
1973 Heinrich-Heine-Preis, 1976 Petrarca-Preis, 1980 österreichischer Staatspreis für Literautr, 1983 Roswitha-Preis der Stadt Bad Gandersheim, 1984 Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg.
 
(entnommen: Sarah Kirsch, Hundert Gedichte)
 
 
 
 
Anziehung
 
Nebel zieht auf, das Wetter schlägt um. Der Mond versammelt
Wolken im Kreis. Das Eis auf dem See hat Risse und reibt sich.
Komm über den See.
  
 
 
 Weitere:
 

 
Jetzt
 
Ich lebe in Saus und Braus, du spazierst
In meinem Kopf den ganzen
Verrückten Sommer. Schwanzsterne ziehn
Und von denen Kometen strahln mir die Augen.
 

 
Bei den weissen Stiefmütterchen
 
Bei den weissen Stiefmütterchen
Im Park wie ers mir auftrug
Stehe ich unter der Weide
Ungekämmte Alte blattlos
Siehst du sagt sie er kommt nicht
 
Ach sage ich er hat sich den Fuss gebrochen
Eine Gräte verschluckt, eine Strasse
Wurde plötzlich verlegt oder
Er kann seiner Frau nicht entkommen
Viele Dinge hindern uns Menschen
 
Die Weide wiegt sich und knarrt
Kann auch sein er ist schon tot
Sah blass aus als er dich untern Mantel küsste
Kann sein Weide kann sein
So wollen wir hoffen er liebt mich nicht mehr
 

 
Die Nacht streckt ihre Finger aus
 
Die Nacht streckt ihre Finger aus
Sie findet mich in meinem Haus
Sie setzt sich unter meinen Tisch
Sie kriecht wird gross sie windet sich
 
Und der Rauch schwimmt durch den Raum
Wächst zu einem schönen Baum
Den ich leicht zerstören kann
Ich rauche einen neuen, dann
 
Zähl ich alle meine lieben
Freunde an den Fingern ab
Es sind zu viele Finger, die ich hab
Zu wenig Freunde sind geblieben
 
Streckt die Nacht die Finger aus
Findet sie mich in meinem Haus
Rauch schwimmt durch den leeren Raum
Wächst zu einem Baum
 
Der war vollbelaubt mit Worten
Worten die alsbald verdorrten
Schiffchen schwimmen durch die Zweige
Die ich heut nicht mehr besteige
 

 
Keiner hat mich verlassen
 
Keiner hat mich verlassen
Keiner ein Haus mir gezeigt
Keiner einen Stein aufgehoben
Erschlagen wollte mich keiner
Alle reden mir zu
 

 
Elegie
 
Ich bin der schöne Vogel Phönix
Schüttle mich am Morgen, sage
Pfeif drauf! bekomme sie, meine Seele
Gänseblümchenweiss
Ich bin
Der schöne Vogel Phönix
Aber durch das
Flieg ich nicht wieder
 

 
Meine Worte gehorchen mir nicht
 
Meine Worte gehorchen mir nicht
Kaum hör ich sie wieder mein Himmel
Dehnt sich will deinen erreichen
Bald wird er zerspringen ich atme
Schon kleine Züge mein Herzschlag
Ist siebnfach geworden schickt unaufhörlilch
Und kaum verschlüsselte Botschaften aus
 

 
 Immer
 
Immer wollen dich meine Augen
Fliegt mein Haar dir zu, oft
Unter die Füsse mein Schatten
Mischt sich in deinen, Salzkorn
Streu ich dir hin schon ein Jahr
 

 
Jedes Blatt
 
Ich sage dir was ich sehe manchmal
Jedes Blatt einzeln am Baum oder
Aufm Kies kleine Sicheln oder wie das
Weitergeht mit mir: kurze Aufenthalte
Alles wieder zusammenpacken und fort
 

 
Tja... Sarah Kirsch.
 
Alle hier dargestellten Gedichte stammen aus
 
Sarah Kirsch
Hundert Gedichte
erschienen 1985 bei Langenwiesche-Brandt, Ebenhausen bei München
Dieser Band ist eine Lizenzausgabe der Europäischen Bildungsgemeinschaft und enthält eine Auswahl aus Sarah Kirsch's Büchern:
 
<< Landaufenthalt >>
 
<< Zaubersprüche >>
 
<< Rückenwind >>
 
<< Drachensteigen >>
 
und ein Gespräch mit der Autorin über ihre Gedichte.
 

 
 

 
 
 
Zuletzt bearbeitet am 19.3.1999
 
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