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4.7. Das Examen
Unter dem Wort "Examen" verstehen wir normalerweise eine Prüfung. Das war ganz früher einmal so: Da kam der Schulinspektor in die Klasse, prüfte die Schüler und bestimmte, ob sie die nächste Klasse erreichten, aber auch ob der Schulmeister ihnen das Richtige beigebracht habe. Also wurde auch der Lehrer geprüft. Ich erlebte das nicht mehr. Unser Examen war eher ein festlicher Schulschluss: Den ganzen Tag stand die Bäckersfrau mit ihrem "Güezistand" vor dem Schulhaus. Alle Schüler erhielten einen "Examenbatzen" von etwa 20 bis 50 Rappen, je nach Alter. Sie durften dann an diesem Fest soviel Schleckzeug verzehren, wie sie sich leisten konnten. Wir müssen wissen, dass damals die Kinder sehr selten solch sösse Pracht vor den Augen hatten, denn nach Oberdiessbach kamen sie nur gelegentlich und es war ihnen auch nicht möglich, alle Jahre den Markt in Thun zu besuchen.
Am Vormittag unterrichtete die Lehrerin drei Stunden und anschliessend führten die Unterschüler noch ein Theaterstück auf. Das dauerte etwa so bis gegen zwölf Uhr. Darauf bummelte die gesamte Schulkommission, Lehrerschaft und natürlich auch der Pfarrer ins "Hüsi", wo uns von der Gemeinde das Examenessen offeriert wurde. Soweit ich mich zurückerinnern kann, wurde uns immer Blumenkohl mit gerösteten Brotkrümeln, Salzkartoffeln und ein gutes Stück Braten aufgestellt. Es war sehr fein gekocht. Dazu bestellten die Behörden einen Liter weissen Wein (Fechy musste es sein), den allerdings einer der Anwesenden selbst bezahlte. Die Flasche war noch nicht leer, fühlte sich natürlich wieder einer verpflichtet, einen Liter zu spenden, und das ging so weiter, bis alle dran gewesen waren. Ich kam nicht mehr dazu, denn nur knapp eine Stunde stand uns für diese Schlemmerei zur Verfügung. An meinem ersten Examen (1956), ich war noch sehr schüchtern, füllte mir immer jemand das Glas wieder auf. Ich getraute mir nicht abzulehnen, aber weissen Wein hatte ich bisher noch sehr selten getrunken. Vielleicht könnt ihr euch die Folgen vorstellen! Jedenfalls begann um ein Uhr mein Examenunterricht mit den Oberschü;lern. Ich nahm mich zusammen, kämpfte mich mit grossem Einsatz den steilen Weg zum Schulhaus hinauf und stand pünktlich um ein Uhr vor den Schülern, die ausgeruht und voller Erwartungen in ihren Pulten sassen. Weder Eltern, noch Behördemitglieder waren zugegen, denn es erschien wahrscheinlich auch ihnen zu früh. Nach langjähriger Tradition musste ich mit "Religion" beginnen. Ohne Hemmungen und völlig gelöst begann ich mit einem Bibelspruch. Wie ich so in die Klasse schaute, stellte ich plötzlich mit grossem Schrecken fest, dass einer der Gästestühle doch besetzt war: Herr Pfarrer Keller von Oberdiessbach sass in einer Ecke. (1957) Nun blieb mir keine andere Wahl. Ich musste halt auch dem Pfarrer Religionsunterricht erteilen. Als er nach der Stunde zu mir kam, befürchtete ich das Schlimmste und ich war sehr erleichtert, als er mir gestand, er habe viel über meine "Predigt" nachdenken müssen und er komme dann während des Jahres meine Schule wieder besuchen. Sein Vorgänger interessierte sich nämlich nur wenig fü;r den Unterricht. Ihm war besonders wichtig, dass ein Harmonium für seine Predigt in der Schulstube stand, und dass er das Examenessen nicht verpasste.
Für die zweite Stunde war unbedingt Rechnen angesagt. Die Schüler standen auf und durch rasches Lösen von Schnellrechnungen konnten sie wieder zu gemütlichem Sitzen erlöst werden. Mir passte das gar nicht, glänzten doch nicht nur die guten Rechner, begabte aber schüchterne Schüler kamen nicht zum Zuge, und die schlechten blamierten sich. So entschloss ich mich bald, diese unsoziale Prozedur immer abzubrechen, wenn noch die Hälfte der Klasse stand. Später führten wir ein Zahlenlotto mit ähnlicher Uebungswirkung ein, das von den Kindern so geschätzt wurde, dass es (glaube ich wenigstens) noch heute bei meinem Nachfolger eingesetzt wird. Zurück zum Examen von damals: Die Mütter hatten inzwischen ihre Küchenarbeit beendet und die Behörden den Weg vom "Hüsi" zum Schulhaus gefunden, (Väter erschienen nicht) und alle Gästestühle in der Schulstube waren besetzt. Jetzt zeigten auch sie ihren Stolz, wenn ihr Zögling möglichst oft die Hand hochhalten konnte. Zwar, und das war nicht nur an meinem ersten Examen so, nickten die Mitglieder der Schulkommission meistens schon nach einigen Minuten ein, weil ihnen die Wärme der Schulstube, der volle Magen und der Alkohol zu schaffen machten. Nun ging es fliessend zur dritten Sunde über. Da war mir ganz freigestellt, welches Fach ich unterrichten wollte. Realfächer, Deutsch und Singen mischte ich meist locker durcheinander. Während der vergangenen zweieinhalb Stunden füllte sich die Schulstube wieder mit erwartungsvollen Gästen, denn jede Mutter wollte schauen, wie ihr Kind glänzte, und derzeit näherten wir uns ja auch dem Theater der Oberschüler. Schöne blaue Vorhänge trennten nun die Zuschauer vom Podiumdes Lehrers, auf dem wir mit mehr oder weniger Aufwand, vor selbstgebastelten Kulissen ein lustiges oder volkstümliches Theater aufführten. So gegen fü;nf Uhr war die ganze Prozedur beendet und die letzten Güezi waren verzehrt.
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